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Wenn der Reizfilter im Gehirn streikt – AD(H)S und Autismus bei Erwachsenen

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Kaum ein Krankheitsbild wird in der Öffentlichkeit so emotional und kritisch diskutiert wie das Spektrum zwischen dem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom und dem Autismus. Eine Frage, die in dieser Diskussion immer wieder auftritt, ist, ob es sich bei diesen Phänomen um eine „Modeerscheinung“ handelt oder nicht.

fotolia©jorgophotographyWenn wir das Spektrum zunächst einmal aus historischer Sicht beleuchten, dann stellen wir recht schnell fest, dass ähnliche Symptomatiken bereits vor Hunderten von Jahren thematisiert wurden. Die Pathogenese der Störung beginnt mit einer „ersten Darstellung“ bereits im Jahr 250 v. Chr. durch den griechischen Dichter Heron aus der Epoche des Hellenismus. Im Jahr 1845 beschreibt Dr. med. Heinrich Hoffmann, erstmals in Bildern und Reimen, den uns allen bekannten Struwwelpeter.

In weiteren Veröffentlichungen wurden Kinder beschrieben, die trotz guter elterlicher Fürsorge übererregbar, trotzig und jähzornig waren. Auch wurde über eine auffällig hohe Ablenkbarkeit, ruheloses Abwechslungsbedürfnis und verminderte Konzentrationsfähigkeit berichtet.

1937 schrieb Carles Bradley im „Journal of Psychiatry“ über einen Zufallsbefund, der positive Effekte der Stimulans Benzedrine (Amphetaminbehandlung) auf verhaltensgestörte Kinder hervorbrachte, und 1978 wurde AD(H)S unter dem Namen HKS-Hyperkinetisches Syndrom im ICD (International Classification of Diseases and Related Health Problems), der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten, verankert.

Nach dem heutigen Wissensstand liegt bei AD(H)S eine neurobiologische Funktionsstörung vor. Derzeit geht man davon aus, dass eine gestörte Regulation der Neurotransmitter (Botenstoffe) auf Zwischenhirnebene Ursache der Erkrankung ist. Der hemmende Mechanismus im Gehirn wird dadurch gestört, was zu einer Art Reizüberflutung führt. Die Wahrnehmungen aus unserer Umwelt können nicht mehr in wichtig und unwichtig sortiert werden. Betroffene haben dadurch Schwierigkeiten, ihre Handlungen zu planen, sie zu steuern und in einer sinnvoll abgestimmten Weise zu reagieren.

Allein in Deutschland leiden ca. 600 000 Kinder (jedes achte Kind) im schulpflichtigen Alter an AD(H)S! Die weltweite Prävalenz liegt bei etwa 6%.

In jüngster Vergangenheit, zum Ende der 1990er Jahre, war die Annahme noch weit verbreitet, dass sich AD(H)S nach der Pubertät „verwächst“. Doch das ist ein fataler Irrtum! Auch wenn die motorischen Überaktionen, die das „Zappelphillipp-Syndrom“ ausmachen, bei vielen Erwachsenen mit den Jahren nachlassen, so heißt das nicht, dass die Erkrankung keine Spuren hinterlassen hat. Etwa 60 % der schon seit ihrer Kindheit betroffenen AD(H)Sler weisen auch im Erwachsenenalter noch deutliche Symptome auf. Fast alle Erwachsenen mit AD(H)S leiden im Laufe ihres Lebens, neben den Kernsymptomen, unter mindestens einer weiteren psychiatrischen Erkrankung (assoziierte Störung oder Komorbidität)!

Angststörungen, Panikstörungen, Depressionen, Zwänge, Tic-Störungen, Suchtentwicklungen (Alkohol, Drogen), selbstverletzendes Verhalten (Schneiden, Brennen, Ritzen) oder soziale Phobien sind keine Seltenheit. Um die Entwicklung einer solchen Folge – die Begleiterkrankung durch ständige Misserfolge in der Kindheit, der Schule, dem sozialen Umfeld oder die bleibende innere Verunsicherung – möglichst zu minimieren, ist eine frühzeitige Behandlung unerlässlich. Im Jahr 2003 hat die DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde) die ersten Leitlinien zur Diagnose und Behandlung des AD(H)S im Erwachsenenalter erstellt. Seit dieser Zeit hat das Interesse an dieser Thematik zwar erheblich zugenommen, jedoch gibt es immer noch große Probleme, eine qualifizierte und gesicherte Diagnostik zu bekommen. Nach wie vor gibt es in Deutschland nur wenige Praxen und Kliniken, die sich intensiv mit dem Krankheitsbild beschäftigen. Die Gründe hierfür sind vielfältig. So wundert es auch nicht, dass viele Erwachsene erst nach jahrelanger Odyssee an ihre AD(H)S-Diagnostik kommen. Ein Ärztemarathon, Fehldiagnosen, Behandlungsformen, die nicht zielführend waren und Medikamentengaben, die bei AD(H)Slern nicht greifen, sind oftmals die Folge.

In meiner praktischen Tätigkeit als AD(H)Sund Autismus-Coach habe ich viele Familien, Jugendliche und Erwachsene begleitet. Die meisten meiner Klienten haben in der Vergangenheit viele negative Erfahrungen mit Therapeuten gemacht und haben nur ein Ziel: Sie wünschen sich wirksame Hilfe und einen Ansprechpartner, der sie in der Situation begleitet, in der die Fragen auftreten.

Aus diesem Grund habe ich mich ganz bewusst zu einem Coaching-Ansatz entschieden, der eine intensive „Vor Ort“- Begleitung beinhaltet. Probleme, die in den Familien, der Schule, der Uni, am Arbeitsplatz oder im sozialen Umfeld auftauchen, müssen aus meiner Sicht auch dort angegangen werden und nicht in einem Praxisraum. Im Gegensatz zu den üblichen Therapieangeboten, die überwiegend einen einzigen Ansatz verfolgen, arbeite ich methodenübergreifend. Elemente aus dem Mentaltraining, dem Triple P, der integrativen- und der tiergestützten Therapie (Hund) kommen hier zum Tragen.

So individuell wie die Menschen mit diesen Symptomatiken auch sind, sie brauchen zum einen ein klares und zum anderen ein spezifisches Behandlungskonzept, welches jeweils auf sie zugeschnitten wird.

Dabei sind die Grundpfeiler des Coachings überwiegend einheitlich. Hier unterscheide ich nicht, ob es sich um Kinder, Jugendliche oder um Erwachsene handelt. Zunächst geht es immer um den Aufbau und die Stabilisierung des Selbstwertgefühls und darum, die sozialen Kompetenzen zu stärken.

Eines der wesentlichen Kernsymptome des AD(H)S ist geprägt von einem stark negativen Selbstbild und einem schlechten Selbstwertgefühl. Insbesondere wenn diese Symptome bei Kindern lange Zeit unbekannt und unbehandelt bleiben, entwickeln sie bis zu ihrem Erwachsenenalter negative Copingstrategien, die häufig zu erheblichen Beeinträchtigungen des gesamten Lebens führen.

Das individuelle Coaching wird auf die persönlichen Bedürfnisse des Klienten zugeschnitten. Erlernt werden Regulationstechniken für das eigene impulsive, überschießende Verhalten und der Umgang mit der Reizüberflutung aus der Außen- und Innenwelt. Wir erarbeiten Methoden, wie begonnene Aufgaben auch zu Ende gebracht werden können und wie die eigene Wirkung auf Außenstehende einzuordnen ist – in Hinblick auf mögliche Folgen.

Diese wenigen Beispiele zeigen den Facettenreichtum der Symptomatiken. Feste Tagesroutinen, die Möglichkeit, sich zurückzuziehen, Pausen einzuhalten, Arbeiten zu planen und Prioritäten zu setzen, erleichtern den Alltag. Oftmals haben sich Betroffene, Eltern oder Familienangehörige ein Grundwissen über die AD(H)S-Symptomatik angeeignet. Doch leider ist den meisten die tatsächliche Ursache der Erkrankung gar nicht bewusst. Mir ist es daher ein persönliches Anliegen, von Grund auf darüber zu informieren, was dieses Krankheitsbild ausmacht und welche neurobiologischen Hintergründe es gibt. Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, meinen Klienten mit einfachen und verständlichen Worten zu erklären, was AD(H)S ist. Vor allem, dass es eine ganze Reihe an positiven Fähigkeiten und besonderen Begabungen mit sich bringt!

Neben dem Coaching für AD(H)Sler ist ein weiterer Schwerpunkt meiner Tätigkeit die Begleitung von Betroffenen und Familien mit einem Asperger-Syndrom. In den internationalen Diagnosekriterien wird dies als eine „tiefgreifende Entwicklungsstörung“ bezeichnet und dem Autismusspektrum zugeordnet.

Das Coaching ist dem AD(H)S-Konzept sehr ähnlich und wird nur vereinzelt auf die Besonderheiten der Asperger- Symptomatik abgestimmt.

Neben den bekannten Symptomen, den Problemen im Bereich der sozialen Interaktion und den sprachlichen Besonderheiten, gibt es eine Besonderheit, die bei allen Asperger- Betroffenen auftritt. Sie entwickeln ein Spezialinteresse oder gar eine besondere Begabung für ein einzelnes Interessengebiet. Diesem gehen sie mit ungeheurer Akribie und Detailverliebtheit nach. Oftmals haben Asperger eine Vorliebe für Naturwissenschaften, besonders für die Mathematik. Aber auch Musik, Kunst, Informatik oder sämtliche Ordnungsstrukturen (Tabellen, Sammlungen, Datenlisten ...) können sie begeistern. Wie auch bei AD(H)S kann sich bei einem „Asperger“ ein ausgeprägtes Zwangsverhalten entwickeln, besonders dann, wenn dem Spezialinteresse nicht nachgegangen werden kann oder darf.

Diagnostiziert werden die Kinder mit Asperger- Syndrom meist relativ spät – manchmal sogar erst im Verlauf des Schulalters. Anders als beim frühkindlichen (Kanner-)Autismus, wirken die „Aspi-Kinder“ auf den ersten Blick recht normal und unauffällig.

Leider sind die meisten Diskussionen um das AD(H)S- und Autismus-Spektrum sehr defizitorientiert und es wird nur von der Krankheitsseite gesprochen. Dabei werden die bemerkenswert positiven Eigenschaften und Fähigkeiten – wie Kreativität, absolute Ehrlichkeit, Treue, der ausgeprägte Sinn für soziale Gerechtigkeit und der ganz besondere Sinn für Humor – völlig ignoriert!

Der Einfluss der Ernährung auf AD(H)S und Autismus!

2013-03-ADHS3In meiner Praxis erlebe ich häufig Menschen, die unter stressbedingten körperlichen, aber auch psychischen Beschwerden leiden. Dabei ist vielen nach wie vor nicht bewusst, dass die Art und Weise, wie wir uns ernähren, direkte Auswirkungen auf die Hirnstruktur, auf die Hirnfunktion hat. Die kognitiven Fähigkeiten und die psychische Befindlichkeiten werden hierdurch beeinflusst. Dank der modernen Wissenschaft wissen wir heute, dass wir uns mit der richtigen Ernährung nicht nur vor körperlichen Krankheiten schützen, sondern auch unsere Psyche beeinflussen können.

Jedoch funktionieren die Verarbeitung und die Organisation all dieser Prozesse nur, wenn das Gehirn mit den richtigen Nährstoffen „gefüttert“ wird. Bei Kindern, die fehl- oder mangelhaft ernährt sind, treten häufiger Verhaltensstörungen, Konzentrationsstörungen und Lernstörungen auf.

Seit über dreißig Jahren wird sehr emotional zwischen Eltern und Fachleuten, Psychologen, Ärzten und Therapeuten diskutiert, ob eine Ernährungsumstellung einen Einfluss auf die Symptome von AD(H)S oder Autismus hat – oder nicht!

Die Wissenschaftler fokussieren sich mehr und mehr auf die Bedeutung unseres Darms in Bezug auf unsere Psyche. Nicht nur Depressionen, sondern auch Parkinson, Demenz, z. B. die Alzheimersche Demenz, Schizophrenie, AD(H)S und Autismus scheinen in Zusammenhang mit der Darmflora zu stehen.

Erstmals stellte der kalifornische Arzt Ben Feingold eine Diät-Hypothese auf. 1965 behandelte er eine Frau wegen einer Urticaria, einer Nesselsucht. Durch die Diät besserten sich nicht nur die Nesselsucht, sondern auch ihre psychischen Probleme, wegen denen sie zu Beginn der Diät bereits seit mehr als zwei Jahren in psychologischer Behandlung war. Erst im Jahr 1972 wurde Dr. Feingold auf das Problem der Hyperkinese, heute AD(H)S, aufmerksam. Nach seinen Beobachtungen schien ein Zusammenhang zwischen der Ernährung und dem Verhalten zu bestehen. Es folgten weitere Ansätze, wie die Phosphatdiät nach Hertha Hafer, die oligoantigene Diät nach Egger oder die AFA-Algentherapie.

Ich habe in meiner Praxis sehr gute Erfahrungen mit einer Ernährungsumstellung gemacht, die auf der Vermeidung von glutenhaltigem Getreide sowie kaseinhaltiger Milch und Milchprodukten basiert. Die gluten- und kaseinfreie Ernährung (auch gfcf- Ernährung: engl. gluten-free casein-free diet) ist eine Behandlungsform bei Störungen des autistischen Spektrums, AD(H)S oder auch bei Schizophrenie.

Bereits in den 1960er Jahren vermutete Dr. F. C. Dohan einen Zusammenhang zwischen Milch- und Weizenprodukten und Autismus. Der norwegische Forscher Dr. Kalle Reichelt, entdeckte 1991 im Urin autistischer Kinder Substanzen, welche über die Blutbahn ins Gehirn gelangen und dort eine opiatähnliche Wirkung hervorrufen. Von der Substanz her sind diese Stoffe durchaus mit der einer halluzinierenden Droge zu vergleichen und vermutlich für die autistischen Wahrnehmungsstörungen verantwortlich. Da es sich hier nicht um eine Lebensmittelallergie handelt, sondern um einen Enzymdefekt, sind Allergietests in diesem Fall nutzlos. Zusätzlich hat sich bewährt, auf die verstärkte Zufuhr von Vitamin A, C, B6, Folsäure und B12, Magnesium, Zink und Omega-3 Fettsäuren zu achten.

In den USA ist diese Therapieform bei AD(H)S oder Autismus weit verbreitet. Auch in anderen Ländern sind es zahlreiche Menschen von ihrer Wirkung überzeugt. Immer wieder gibt es Eltern, die nach einer Nahrungsumstellung eine Verhaltensveränderung bei ihrem Kind beobachten, sogar von einer Verbesserung und Linderung der Problematik berichten. Demgegenüber stehen die Gegner, die eine Wirkung der Nahrungsumstellung bestreiten und auf empirische Studien drängen.

Sicherlich muss man sagen, dass es für Eltern eine ungeheuer schwierige Aufgabe ist, die Ernährungsform umzusetzen und durchzuhalten.

Es ist auch dem Umfeld schwierig zu erklären, dass es sich um eine dauerhafte Ernährungsform handelt, die streng eingehalten werden muss. Auch wird man laufend mit den spöttischen Kommentaren der Gesellschaft konfrontiert.

Ich kann hier nur aus Erfahrung sagen: Wenn sich die Nahrungsumstellung positiv auf das Verhalten und das Wohlbefinden des Kindes oder des Erwachsenen auswirkt und eine Veränderung eingetreten ist, dann hat sich die ganze Mühe sicherlich gelohnt!

Verena Krampe Verena Krampe
Jg. 1979, seit 2008 arbeite ich in eigener Praxis als Psychologische Beraterin, Gesundheits- und Ernährungsberaterin und Coach. Schwerpunkt ist die Einzel- und Familientherapie. Mit Erwachsenen arbeite ich in der Prävention und Gesundheitsförderung. Ich begleite Familien, Kinder und Erwachsene, die von einer Entwicklungsstörung, Verhaltensauffälligkeit, AD(H)S (Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung) oder dem Autismus-Spektrum betroffen sind. Weitere Kernthemen sind die Ernährungsumstellung bei Menschen mit psychischen Beschwerden und die Unterstützung pflegender Angehöriger und von Menschen mit Demenz.
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Verena Krampe ist Dozentin an den Paracelsus Schulen, z. B. ADHS-BeraterIn für Erwachsene