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Formale Denkstörungen

lch mache da mal etwas ander(e)s

fotolia©J1-J.klch war gerade 52 Jahre alt und nach 35 erfolgreichen Jahren im kaufmännischen Berufsleben plötzlich und unerwartet arbeitslos geworden. Mein Leben geriet zunächst ins Wanken und nach einer weiteren schicksalhaften Wende saß ich nun in meiner Ausbildung zur Psychologischen Beraterin bzw. Heilpraktikerin für Psychotherapie wieder auf der Schulbank. Ehe ich mich versah, durfte ich Bücher wälzen, ordnen, planen, Haushalt führen, weiter fleißig Bewerbungen schreiben, neue Leute kennenlernen, Selbsterfahrungswerte sammeln, die Schulbank drücken, eine neue Sprache lernen (medizinisch!) und, und, und ... puh, mir ging die Puste aus!

lm Unterricht schrieb ich selbstverständlich eifrig mit. Jedes Wort, das meinen Dozenten (immer m/w) über die Lippen kam, saugte ich auf wie ein Schwamm. Alles war mir so wichtig, ich wollte möglichst gar nichts versäumen. 14 Monate lntensivstudium, das war doch Quality Time pur!

Die Unterrichtsthemen wechselten rasch und die Berge meiner handschriftlichen Aufzeichnungen und das Chaos auf meinem Schreibtisch wuchsen beachtlich. Von der strukturierten und organisierten Bürokauffrau war nicht mehr viel zu sehen! Manchmal hegte ich sogar die leise Hoffnung, der Lernstoff würde sich still und heimlich über Nacht in mein Langzeitgedächtnis einbrennen, ich müsse nur daran glauben. Aber die Fachausdrücke wollten sich einfach nicht in meinen Kopf bringen lassen. lch war blockiert!

Nun war ich endlich in dem Berufszweig unterwegs, der mich schon seit vielen Jahren brennend interessierte. Mir war es vergönnt, noch einmal zur Schule zu gehen und einen Neuanfang zu wagen, wie schön! Aber ich konnte die Sprache nicht! ,,Medizinisch“ war mir so fremd wie alle anderen Fremdsprachen auch. Mit den Störungen der Elementarfunktionen fing alles an. Das ist das Basiswissen, das muss sitzen und darauf baut sich alles andere auf. Das kleine Wörtchen muss und meine Panik ergänzten sich hervorragend und die Zeit lief!

Es folgte die Zeit der ,,Aufschieberitis“ (fachlich Prokrastination). Alles andere um mich herum war plötzlich wichtiger, als mich mit dem Lernen zu befassen. Die Bügelwäsche wartete, Verabredungen kamen gerade recht, Schubladen und Schränke aufräumen, das alles erleichterte mich ungemein und beruhigte mein Gewissen. Schließlich waren die Schularbeiten ja nicht vergessen, sie kamen mir immer wieder in den Sinn und der Druck wurde gewaltig.

Langfristig raubte mir diese Aufschieberei die Energie und sorgte für Unlust und auch für Versagensängste. lch erkannte, dass herkömmliche Lernstrategien und Methoden nichts gebracht hatten.

Eine neue Strategie musste her!

fotolia©J1-J.kEines Abends saß ich an meinem Schreibtisch und mir kam ein Gedanke: Schreib doch mal eine kurze Geschichte über erfundene Personen, mit kleinen Macken, Ticks und Störungen, mit denen sich die Begrifflichkeiten der Störungen der Elementarfunktionen auf humorvolle Weise verpacken lassen. So entstand meine erste Geschichte mit Paul und Pauline. lch hatte Spaß, wurde kreativ, und das Schönste daran: lch konnte mir auf diese Weise nach und nach immer mehr Fachausdrücke merken. Lernen über die eigene Kreativität, was für ein Segen. Aller Anfang ist schwer; so geht es uns mit vielen Dingen. Am Anfang erscheinen sie uns schwierig, weil wir sie nicht im Griff haben. Je mehr wir üben, desto einfacher und leichter wird es.

Aus einer kleinen schmalen Spur wird ein Trampelpfad und aus dem Trampelpfad wird ein Weg, daraus erwächst eine Straße und irgendwann werden auf beiden Seiten der Straße prächtige Bäume stehen und die Straße wird zur Allee ...

Die Fantasie und die Kreativität im Umgang mit meiner neuen Sprache ließen mir kleine Flügel wachsen. lch bin dankbar für den Prozess meiner Selbstfindung und meines Wachstums und für alle Erfahrungen, die ich während meines Studiums machen durfte. Ganz wunderbare Menschen sind in mein Leben getreten, haben mich unterstützt und begleitet. lhnen gilt mein herzlicher Dank.

Das Vorstellungsgespräch: Paul und Pauline

Es war wieder einmal einer dieser Tage. Der Regen klopfte an die Fensterscheibe, draußen war es kalt geworden. Paul saß auf seinem Bett und dachte bei sich: „Was wollte ich eigentlich denken“? Er empfand sein Denken als gehemmt und blockiert. Da war sie wieder, die Denkhemmung!

Er stand auf, ging zum Kleiderschrank und dachte an sein heutiges Vorstellungsgespräch. Besorgt öffnete er den Kleiderschrank und kramte unruhig in den Fächern mit den Hemden umher. Andauernd ging ihm dieses Vorstellungsgespräch durch den Kopf. Er konnte einfach an gar nichts anderes mehr denken, so fixiert war er auf dieses eine Thema. Was für ein eingeengtes Denken, dachte sich Paul.

Er zog seinen besten Anzug an. Was ist, wenn dem Personalchef mein Anzug nicht gefällt? Was nur, wenn ihm die Krawatte zu bunt ist? Oder gar die Schuhe zu spitz, oder, oder, oder?

Immer wieder drängten sich solche und ähnliche Gedanken auf, Paul konnte sich von dem Gedankendrängen gar nicht lösen, fühlte sich seinen Gedanken regelrecht ausgeliefert.

Paul war müde, denn er hatte die meiste Zeit der letzten Nacht nicht geschlafen. Grübelnd hatte er sich die halbe Nacht umhergewälzt. Immerzu kreisten ausschließlich negative Gedanken um einen neuen Job, kein einziger positiver Gedanke wollte sich einstellen, auch Lösungen konnte er nicht finden. Paul entschied sich erst einmal, eine Tasse Kaffee zu trinken. Langsam ging er in die Küche. Innerlich ließen ihn seine Gedanken immer noch nicht los. In der Küche wartete schon Pauline mit dem Kaffee auf ihn. „Guten Mo...“, äh, was wollte ich gerade sagen? Eben hatte ich den Gedanken doch noch im Kopf; da hat sich doch gerade wieder ein Gedanke gesperrt bzw. ist mir doch schon wieder ein Gedanke abgerissen!

„Hast du gut geschlafen?“, fragte Pauline und lächelte ihn an. „Ich habe heute mein Vorstellungsgespräch“, antwortete Paul. Jaja, dachte sich Pauline, dieses Vorbeireden ist schon eine lästige Sache, aber ich weiß ja, dass Paul meine Frage verstanden hat. „Paul, antworte mir doch mal, hast du gut geschlafen?“, meldete sich Pauline erneut.

Paul merkte, wie mühselig sich sein Denken gestaltete, seine Denkgeschwindigkeit war deutlich verringert; er musste lange über den Inhalt der Frage nachdenken. Eine regelrechte Denkverlangsamung dachte er, bestimmt, weil ich so übermüdet bin.

Pauline wusste, das kommende Gespräch verläuft sicherlich wieder träge und zähflüssig. Und dennoch gelang es Paul, Pauline seinen bedauernswerten Schlafzustand zu beschreiben. Pauline wechselte das Thema. „Soll ich dich heute vielleicht zu deinem Vorstellungsgespräch begleiten?“, fragte sie. Paul blieb jedoch haften an seinen zuvor gebrauchten Worten, mit denen er eben noch sein Schlafproblem erläutert hatte. „Ich habe kaum geschlafen, ja begleite mich bitte, ich habe kaum geschlafen, es wäre schön, wenn du mich fährst, ich habe kaum geschlafen ...“ Diese Worte waren in dem jetzt angesprochenen Zusammenhang gar nicht mehr sinnvoll, aber Paul wiederholte immer wieder die gleichen gedanklichen Inhalte. Eine Perseveration hatte sich eingeschlichen.

Paul setzte sich an den Frühstückstisch und nahm sich eine Scheibe Toast. Er erwähnte Pauline gegenüber in seinen Schilderungen zum Tagesablauf etliche Nebensächlichkeiten, ohne diese vom Wesentlichen zu trennen. Pauline kannte dieses umständliche Denken nur zu gut, trotzdem konnte sie den inhaltlichen Zusammenhang gut nachvollziehen.

Pauline machte sich zunehmend Sorgen. Paul war so zerfahren in seinem Denken und in seinen Äußerungen. Was hatte er nur? Vielleicht eine leichte Inkohärenz? Sein Satzaufbau war teilweise ja noch intakt. Hoffentlich wird keine schwere Inkohärenz daraus, ich muss gut auf ihn aufpassen, dachte sie sich. Wenn sein Denken erst einmal völlig zerrissen und zerfahren ist, wenn er Sätze ohne Zusammenhang, Sinn und Logik und die Worte ohne Reihenfolge spricht, dann würde dieser Wortsalat auch noch eine Schizophasie bedeuten. Spätestens dann müssen wir mal einen Arzt aufsuchen.

Paul mochte nichts mehr essen. Er schlürfte nur seinen Kaffee. Seine Gedanken beschäftigten ihn ohne Unterbrechung. Er hüpfte gedanklich immer zu neuen Ideen, und diese Ideen wurden wiederum von weiteren neuen Ideen unterbrochen. Eine lästige Ideenflucht hatte ihn heimgesucht! Es ging ihm immer schlechter. Er wollte Pauline gerne weitererzählen, wie er die letzte Nacht verbracht hatte. Der gedankliche Zusammenhang und die Informationsdichte waren aber so minimal, dass Pauline mit Pauls Faseligkeit nichts mehr anzufangen wusste.

Nur ein paar Minuten später begann Paul, extrem oft und rhythmisch mit sinnlosem Wiederholen seiner Gedanken, die wiederum keinen sinnvollen Inhalt hatten. Pauline nahm sich besorgt das Telefonbuch zur Hand und notierte sich die Nummer eines Arztes. Letzte Woche hatte sie beim Friseur zufällig in einer Illustrierten einen Bericht über Verbigeration gelesen. Das muss es sein, dachte sie sich im Stillen.

Am anderen Ende meldete sich die Facharztpraxis für formale Denkstörungen. „Hallo und guten Tag, hier spricht Pauline, die Frau von Paul. Ich werde in ca. 30 Minuten mit ihm bei Ihnen sein. Noch ist mein Mann mit Neologismen beschäftigt; ich bin dabei, alle Wortneuschöpfungen zu notieren und werde sie mitbringen.“

Paul bemerkte, dass Pauline telefonierte. Er versuchte ihr zu sagen, wie lieb er sie hatte, weil sie sich so um ihn sorgte. Er brauchte tatsächlich 20 Sätze, um den abstrakten Begriff Liebe zu erklären. Danach fragte er Pauline, wo das Ding geblieben ist, also das Ding dahinten, naja du weißt schon, der konkrete Begriff dafür lautet Stuhl ...! Na, wenn da nicht noch ein Konkretismus dazugekommen ist, überlegte Pauline still.

Pauline nahm Pauls Mantel und fuhr das Auto vor. Paul hatte keine Widerworte mehr. Warum auch, seine Wortverdrehungen, in Fachkreisen auch Kontamination genannt, konnte ohnehin niemand mehr verstehen. Paul übte sich auf dem Weg zum Auto weiter in seinen Wortverschmelzungen. „Ich möchte so gerne mit dir gruscheln, lass uns doch zu Hause bleiben“, forderte er Pauline auf. Pauline schüttelte mit dem Kopf. „Schatz, gegrüßt hast du mich doch heute Morgen schon, und zum Kuscheln ist jetzt keine Zeit. Schnall dich an, der Doktor wartet schon!“ Mit quietschenden Reifen fuhren sie davon, ein Vorstellungsgespräch fand nicht mehr statt ...

Armer Paul!

Monika SchönewaldMonika Schönewald
Heilpraktikerin für Psychotherapie, zertifizierte Psychologische Beraterin (VfP), Fachberaterin für Suchterkrankungen, Systemische Aufstellungsleiterin, Praxis in Göttingen

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