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IFS* und Politik

„Man hat einen Menschen noch lange nicht bekehrt,
wenn man ihn zum Schweigen gebracht hat.“
John Morley

fotolia©poloniaIch muss immer wieder an diesen Ausspruch von John Morley denken, seit sich plötzlich mehr und mehr Menschen trauen, Andersdenkende lauthals zu beschimpfen und zu bedrohen. In den letzten Jahrzehnten wurde es zunehmend verpönter, rassistische, diskriminierende, gewaltverherrlichende oder sexistische Gedanken in der Öffentlichkeit zu äußern. Die gehörten an den Stammtisch. Dass diese dort weiterhin geäußert wurden, zeigt, dass sie nicht verschwunden waren. Durch den Aufstieg von Populisten nehmen derartige Parolen wieder zu und je lauter sie geäußert werden, desto mehr Anklang scheinen sie zu finden.

„Man muss den Populisten Einhalt gebieten und verhindern, dass sie ihre Parolen veröffentlichen können. Das ist so wie mit prügelnden Jungs auf dem Pausenhof.“ Mit dieser Argumentation rechtfertigte ein mir bekannter Lehrer seine Teilnahme an einer Demonstration gegen die AfD. Auf dem Pausenhof gehe er dazwischen und trenne die Streithähne. Und er erkläre ihnen, dass sie so keine Konflikte austragen dürfen. Auch der AfD und ihren Wählern (immer m/w) müsse man klar sagen, dass sie im Unrecht sind. Dass die Mitglieder und Sympathisanten der AfD genauso überzeugt sind, im Recht zu sein, ließ er nicht gelten. Er selbst sei im Recht, weil er humanistisch denke. Wenn ich mit jemandem von der AfD spreche, ist der genauso überzeugt, im Recht zu sein, wie der Lehrer. Weil der AfDler sozialdarwinistisch denkt und handelt, fühlt er sich im Recht. Schließlich wolle er nur die Heimat retten und da sollten sich diese „Gutmenschen“ ein Beispiel an ihm nehmen. Erfolg habe nur derjenige, der stark und gesund ist. Und stark und gesund sei nur derjenige, der reinen Blutes sei.

Der Lehrer merkt tragischerweise nicht, dass er genau dieses Denken fördert, wenn er die prügelnden Jungs auf dem Pausenhof trennt. Sein Ziel ist es, dass die Jungen lernen, ihre Konflikte gewaltfrei auszutragen. Ein humanistisches Weltbild bekommen sie aber nicht dadurch, dass der Lehrer sie auseinandertreibt. Und ihr Konflikt ist dadurch auch nicht gelöst, er schwelt weiter. Die wichtigste Botschaft, die der Lehrer unbewusst vermittelt, ist die Erkenntnis, dass der Stärkere (in diesem Fall der Lehrer) den anderen seinen Willen aufzwingen kann. Deshalb müssen sie erstens versuchen, möglichst schnell zu den Starken zu gehören. Dann können sie sagen, was gemacht wird und was richtig und falsch ist. Zweitens lernen sie, dass es besser ist, manche Dinge heimlich zu machen, damit es der Lehrer oder der Staat oder sonst eine ungeliebte Autorität nicht mitbekommt. Sie behalten ihre Wut und ihren Zorn für sich und warten auf eine Gelegenheit, ihre destruktiven Gefühle loswerden zu können. Die bekommen sie dann, wenn sie anonym im Internet hetzen oder wenn sie Schwächere mobben können. Und wenn sich dann einer traut, sich gegen die „Obrigkeit“ aufzulehnen, kann er sich ihrer Unterstützung sicher sein. Dann trauen auch sie sich wieder aus der Deckung und feuern ihn an.

Schon Brehme hat mit seiner Reaktanztheorie bewiesen, dass Druck nur Gegendruck erzeugt. Und die verschiedenen systemischen Therapieformen zeigen alle, dass unser heutiges Verhalten die Folge von früheren Erfahrungen ist. Wenn ich diese Erkenntnisse ernst nehme, darf ich keinen Druck auf Andersdenkende ausüben, ich muss im Gegenteil Druck herausnehmen. Und die systemische Therapie erklärt, warum Menschen zwangsläufig unterschiedliche Meinungen haben müssen, da sie verschiedene Entwicklungen durchlaufen haben.

Ich muss deshalb versuchen, die Motive, die hinter den menschenverachtenden Sprüchen der Populisten stehen, zu verstehen. Nur dann habe ich die Chance, eine Verhaltens- und vor allem eine Denkänderung herbeiführen zu können. Das InnereFamilien-System nach Richard Schwartz ist eine Methode, mit der Menschen lernen, achtungsvoll miteinander umzugehen. Das Konzept wird mit der gewaltfreien Kommunikation von Marshall Rosenberg verglichen. Es kann genauso Verständnis für das Gegenüber wecken und damit die Grundlage legen, dass sich beide Seiten annähern.

Das Innere-Familien-System von Richard Schwartz zeigt eindrücklich auf, warum es besser ist, auch Andersdenkende zu achten, und es beschreibt einen Weg, wie sich auch politische Gegner achtungsvoll begegnen können. Es handelt sich um eine Win-winSituation. Das ist das Tolle an dem Konzept: Es gibt keine Verlierer. Dadurch gibt es auch keine Revanchisten, die stumm auf ihre Stunde warten müssen, bis sie zurückschlagen können.

fotolia©poloniaNach diesem Konzept kommen wir alle mit einem Selbst, einem Kern-Ich auf die Welt. Das Selbst hat besondere Qualitäten: Es ist neugierig, mitfühlend, vertrauensvoll, klar, mutig, gelassen, kreativ und verbunden. Von hier aus können wir uns selbst und andere durch freundliche, nicht verurteilende Augen sehen. Dieses Kern-Ich ist am Anfang unseres Lebens noch sehr verletzlich und auf Unterstützung angewiesen. Es lässt sich auch bei aller hingebungsvollen Liebe und Aufmerksamkeit der Eltern nicht vermeiden, dass sich das kleine Kind manchmal bedroht oder verletzt fühlt. Dieser Schmerz und die Angst werden abgespalten und in einem (Persönlichkeits-)Teil gebunden. Dadurch wird das Selbst geschützt und bleibt unverletzt. Damit das Selbst den Schmerz nicht von Neuem erleben und erleiden muss, entstehen Schützerteile, die den schmerzbehafteten Teil verbannen. Wir alle entwickeln in unserem Leben solche Teilpersönlichkeiten, deren Aufgabe es einzig und allein ist, das Selbst zu schützen.

Das Ziel der Schützerteile ist es ausnahmslos, dass es uns gut geht. Manchmal merken diese Teile nicht, dass das Individuum erwachsen wird und selbst auf sich aufpassen kann. Wenn wir dann in eine Situation kommen, in der wir als Kind ausgeliefert und überfordert waren, kommt so ein Schützerteil und übernimmt ungefragt die Regie.

Das ist die Situation, in der wir getriggert werden. Der Schützer agiert weiterhin, als müsste er das kleine Kind beschützen.

Richard Schwartz unterscheidet zwei verschiedene Arten von Schützerteilen: die Manager und die Feuerbekämpfer.

Die Manager sorgen dafür, dass die Person im Leben zurechtkommt. Sie managen das Leben, sorgen für Regelmäßigkeit und für das Funktionieren im Alltag. Außerdem achten sie darauf, dass die Verbannten in der Verbannung bleiben. Manchmal gelingt es den Verbannten, auszubrechen und an die Oberfläche zu kommen.

Dann treten die Feuerbekämpfer auf den Plan und versuchen durch eine extreme Verhaltensweise, von den schrecklichen Gefühlen der Verbannten abzulenken. Sie tun dies oft durch unkontrollierte, impulsive Verhaltensweisen wie Wutausbrüche, Gewalt gegen sich und/oder andere, sie essen zu viel, trinken zu viel, sitzen zu viel vor dem Computer und schauen zu viel Video oder spielen zu viel, haben zu viel Sex, nehmen zu viel legale oder illegale Drogen und/oder Medikamente. Die Feuerbekämpfer tun das in bester Absicht. Sie wollen verhindern, dass wir den Schmerz von damals wieder spüren müssen, weil sie denken, dass wir das nicht aushalten. Sie merken nicht, dass sie zwar kurzfristig Entlastung bringen, auf lange Sicht aber mehr schaden als nützen.

Wenn wir versuchen, ein unangemessenes Verhalten aus dieser Perspektive zu betrachten, können wir erkennen, dass es in mancher Hinsicht ein durchaus sinnvolles Verhalten ist, dass es früher, als der Teil entstanden ist, die bestmögliche Lösung für ein tiefer liegendes Etwas darstellte. Damals gab es keine andere Möglichkeit für das Kind, um sich zu schützen. Wenn wir die gute Absicht des Teils erkennen, können wir dem destruktiven Teil mit Wertschätzung und Wohlwollen begegnen.

Das heißt nicht, dass wir unangemessenes Verhalten einfach dulden. Aber wir können Verständnis signalisieren und Wertschätzung für die gute Absicht. Dann muss der Teil nicht mehr in der Verteidigungshaltung bleiben und kann entspannen. Dadurch kommt er erst in die Lage, sein eigenes Verhalten zu reflektieren und neue, entspannte Wege zu suchen, um sein Ziel auf eine leichtere Art und Weise zu erreichen. Genau dies geschieht in einer IFS-Sitzung. Indem die Teile Wertschätzung und Interesse erleben, können sie entspannen und gemeinsam mit dem Selbst, unter Mithilfe der Therapeutin, einen Weg suchen, wie sie ihr Ziel entspannter erreichen können.

Was hat das jetzt alles mit Politik zu tun? Politiker gelten allgemein als rational und überlegt und es ist natürlich nicht realistisch, dass sich alle Politiker einer IFS-Therapie unterziehen, um ihre eigenen Teile besser kennenzulernen. Aber wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass jeder Mensch gute Gründe für sein Verhalten hat, und wenn dadurch jede Person das Gefühl bekommt, ernst genommen zu werden mit ihren Bedürfnissen und Nöten, können beide Seiten aufeinander zugehen und gemeinsam Lösungen entwickeln, die für beide akzeptabel sind.

Das heißt auch nicht, dass Gewalttaten und Hasspropaganda unwidersprochen stehen bleiben dürfen, sondern, dass nur das Verhalten kritisiert wird, aber nicht die Person.

Der Hass ist nur ein Teil der Person, es gibt sicher auch andere Teile, die liebenswert und anerkennungswürdig sind. Wenn ich die Person nicht mit dem Hass gleichsetze, kann ich diese freundlichen Anteile suchen und finden. Und wenn eine Person trotz ihres Hasses Achtung erfährt, läuft der Hass mit der Zeit ins Leere und kann sich nicht aufschaukeln. Wenn ich meinem Gegen- über klar sage, dass ich anderer Meinung bin als es, ohne dass ich es verletze, ist es eher bereit, sein Verhalten infrage zu stellen und zu ändern. Es muss nicht im Verteidigungsmodus bleiben und kann sein eigenes Verhalten entspannter reflektieren.

Für das Beispiel auf dem Schulhof würde das bedeuten, dass sich der Lehrer gemeinsam mit den Schülern hinsetzen und so lange moderieren müsste, bis auf beiden Seiten Verständnis für den anderen und seine Bedürfnisse geweckt ist. Dann wäre es an den Schülern, unter Moderation des Lehrers, einen Kompromiss zu finden, der beiden Seiten gerecht wird und mit dem sie leben können. Manchmal ist es aber nicht möglich, eine Lösung zu finden, dann ist es wichtig, das anzuerkennen, ohne deshalb den anderen zu verurteilen.

Für die Politik bedeutet das, dass die Politik des Gehörtwerdens, wie sie der Ministerpräsident Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg propagiert, auf allen Politikebenen ernst genommen wird. Dann kann sich in der Politik ein Stil entwickeln, der Hasspropaganda überflüssig macht.

*IFS = Inneres-Familien-System

Elisabeth Kömm-Häfner Elisabeth Kömm-Häfner
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Systemische Therapeutin, IFS-Therapeutin

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