Kommt nach der Online-Behandlung die Virtual-Reality-Therapie?
Einsatz von Virtual Reality in der psychotherapeutischen Praxis
Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen haben in der letzten Zeit zu einem regelrechten Boom der Online-Therapie geführt. Patienten (immer m/w) sind technikaffiner geworden. Deshalb frage ich mich: Ist jetzt der richtige Moment gekommen, einen nächsten Schritt zu wagen und Virtual Reality (VR) in meiner Praxis einzusetzen?
Mir war das alles nicht so klar. Was ist eigentlich Virtual Reality? Wie funktioniert sie? Was sind Vorteile und welche Nachteile gibt es? Auf welche Anbieter kann man zurückgreifen? Und warum hat seit Ende Januar auch eine Krankenkasse eine psychotherapeutische VR-Leistung im Angebot? Kann die Technik uns Psychotherapeuten etwa bereits ersetzen?
Fangen wir bei der ersten Frage an. Was versteht man unter Virtual Reality? In Gablers Wirtschaftslexikon steht: „Virtuelle Realität (Virtual Reality, VR) ist eine computergenerierte Wirklichkeit mit Bild (3D) und in vielen Fällen auch Ton. Sie wird über Großbildleinwände, in speziellen Räumen (Cave Automatic Virtual Environment, kurz CAVE) oder über ein Head-Mounted-Display (Video- bzw. VRBrille) übertragen.“ Unser Patient wird also mithilfe der VR-Technologie, die im Rahmen der Therapie angewandt wird, in eine virtuelle Welt versetzt.
Wird Virtual Reality bereits in der Psychotherapie eingesetzt?
Ja, das Eintauchen in virtuelle Welten für die Behandlung von Patienten im psychotherapeutischen und medizinischen Bereich ist nichts Neues. Die Wirksamkeit der VR-Therapie wurde durch klinische Forschung in den letzten zehn Jahren vielfach untersucht und bestätigt. Zum Einsatz kommt die VR-Technologie dabei überwiegend bei der Therapie von Phobien, PTBS, Stress, Abhängigkeiten und in der Schmerztherapie.
Laut Studien leiden mehr als zehn Millionen Menschen in Deutschland im Verlauf eines Jahres an einer Angststörung. Angststörungen sind somit eine der häufigsten psychischen Erkrankungen. Als wirksame Therapien gegen Angststörungen haben sich Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sowie Psychoanalyse erwiesen. Besonders Erfolg versprechend ist dabei die Expositionstherapie als Teil der Verhaltenstherapie. Genau hier setzt die VR-Technologie an. In virtuellen Realitäten können Szenarien für Therapiesettings wie etwa Höhenangst, Flugangst, Angst vor Spinnen oder sozialen Phobien besonders gut nachgestellt werden.
Welche Technik benötige ich in der Praxis?
Im Grunde sind es nur drei Dinge: Smartphone, VR-Brille und eine TherapieSoftware. Gängige VR-Brillen sind z. B. die Samsung Gear VR, Oculus Quest, Oculus Go oder Google Daydream View. Beim Aufbau des Therapiesettings muss unbedingt darauf geachtet werden, dass die Virtual Reality Erfahrung für den Patienten kabellos abläuft. Herumhängende Kabel wirken störend auf das Therapieerlebnis, denn der Patient soll sich möglichst frei bewegen können und sich nicht eingeschränkt fühlen oder abgelenkt werden.
Wie taucht der Patient in die virtuelle Realität ein?
Es ist ganz einfach. Nach Auswahl einer geeigneten VR-Brille und des entsprechenden Softwareprogramms loggt man sich im ersten Schritt in die TherapieSoftware ein und wählt ein entsprechendes Szenario für den Patienten aus. Dieses ausgewählte Szenario wird dann per App auf dem Smartphone geladen. Das Smartphone wird vor der VR-Brille angebracht. Der Patient erhält nun diese Brille und zieht sie über den Kopf. Sofort taucht er in das ausgewählte Szenario mit einem 360-Grad-Blick ein. Der Therapeut verfolgt die Szene auf dem Bildschirm und begleitet den Patienten bei seiner virtuellen Erfahrung.
In Kliniken wird übrigens oftmals weitere Sensorik eingesetzt. Das Labor der Heilbronner Hochschule z. B. setzt auch einen Rucksack und 15 Kameras ein. Hier werden die Bewegungsdaten verarbeitet und in die Virtual Reality übertragen. Mithilfe eines Datenhandschuhs mit haptischem Feedback kann man zudem Gegenstände wie Bälle oder Würfel berühren oder hochnehmen. Der Handschuh vibriert dabei bei jedem Griff. Gewöhnlich reichen aber für einen Heilpraktiker für Psychotherapie Smartphone, VR-Brille und das Softwareprogramm aus.
Die Vorteile der VR-Technologie
Virtual Reality spart Geld und Zeit. Das Spinnenterrarium des Therapeuten hat im VR-Zeitalter ausgedient und auf Hochhäuser muss er seinen Patienten auch nicht mehr begleiten. Ganz zu schweigen von den teuren Flugtickets, die sich der Patient mit Flugangst spart.
Für Patienten ist die Virtual-RealityTherapie kostengünstig, risikoarm und effizient. Die angstauslösenden Szenarien in der Konfrontationstherapie können graduiert und beliebig oft reproduziert werden. Dadurch kann sich der Patient langsam der angstauslösenden Situation nähern und der Behandler die Therapie situationsgemäß anpassen und je nach Therapiefortschritt steigern oder mindern.
Als letzten Punkt möchte ich noch die Patienten nennen, die nicht mehr in die Praxis gehen können. Virtual Reality kann auch dort eingesetzt werden, wo diese Patienten zu erreichen sind, denn oft können Angstpatienten nicht mehr das Haus verlassen – ob aus Scham oder aus Angst. Durch die VR-Anwendungen kann auch hier eine Therapieumgebung simuliert werden.
Überwiegen die Nachteile beim Einsatz der virtuellen Realitäten?
Es gibt aber auch entscheidende Nachteile in der Virtual-Reality-Therapie.
Einerseits leidet nicht jeder Patient unter der gleichen Phobie. Ein Therapie-Szenario kann bei einem Angstpatienten eine Panikattacke auslösen, beim anderen nur einen leichten Angstanfall. Technisch ist es schwierig, die Szenarien so weit zu individualisieren, dass sie für jeden Patienten die angstauslösenden Situationen wahrheitsgetreu nachstellen.
Andererseits treten die Angststörungen meist nicht isoliert auf. Schafft es der Therapeut, die Phobie mithilfe der VRTechnologie erfolgreich zu behandeln, heißt das noch lange nicht, dass er beispielsweise die begleitende Depression behandeln konnte.
Aber das größte Manko ist meiner Meinung nach das Fehlen des Faktors Mensch.
Die Beziehung, die im Rahmen einer Therapie zwischen Patient und Therapeut aufgebaut wird, kann mithilfe der VR-Anwendung nicht vermittelt werden. Vor allem die Mimik und Gestik des Patienten erlauben es dem Therapeuten, eine verständnisvolle Beziehung aufzubauen. Dieser schwingt förmlich mit, wenn der Patient z. B. von einer angstauslösenden Situation erzählt. Das fällt weg, wenn die VR-Therapie in der Fernbehandlung eingesetzt wird, aber auch sobald der Patient eine VR-Brille in der Praxis trägt, denn diese deckt das halbe Gesicht ab.
Problematisch wird es auch, wenn der Patient während der VR-Erfahrung aufgrund des angstauslösenden Reizes in eine Starre verfällt und die Brille nicht mehr abziehen kann. Das wäre ein erneutes Ohnmachtserlebnis der angstauslösenden Situation und es besteht die Gefahr der Retraumatisierung.
Fernbehandlung per App – Krankenkasse übernimmt VR-Therapie
Seit Ende Januar setzt die Techniker Krankenkasse (TK) eine digitale Therapie zur Behandlung von Angststörungen in den eigenen Räumen ein. Dabei arbeitet sie mit der Hamburger Therapie-Softwarefirma Sympatient zusammen, die mit dem Universitätsklinikum SchleswigHolstein (UKSH) eine Therapie namens „Invirto“ entwickelt hat, die eine leitliniengerechte Fernbehandlung von Angststörungen via virtuelle Realität und App ermöglicht. Indiziert ist die Therapie mit Invirto bei Agoraphobie mit und ohne Panikstörung, bei Panikstörung und bei der Sozialen Phobie. Innerhalb von vier Wochen können die Teilnehmer eine App-gestützte Therapie mit zahlreichen Schulungsvideos und digital angeleiteten Übungen absolvieren. Sieben verschiedene Angstsznarien können mithilfe von acht Stunden therapeutischem Schulungsmaterial und fast vier Stunden VR-Bildmaterial bearbeitet werden.
Vorteile sehen die TK und Sympatient darin, dass sie ihren Patienten schnelleren Zugang ohne Wartezeiten zu einer hochwertigen Psychotherapie ermöglichen und der Patient selbst entscheiden kann, wann, wo und wie schnell er die Therapie absolviert. Gerade in Regionen mit wenigen spezialisierten Therapeuten und langen Anfahrtswegen ist das eine sehr attraktive Therapieoption.
Der Ablauf ist wie folgt: Bevor die Therapie mit der VR-Brille beginnen kann, untersucht das Zentrum für Integrative Psychiatrie (ZiP) des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) alle Teilnehmer im Rahmen einer umfassenden psychotherapeutischen Diagnostik. Danach bekommen die Teilnehmer die VR-Brille und einen App-Zugang nach Hause geschickt. Während der Therapie wird der Patient von einem Psychotherapeuten des UKSH per Telefon und Video begleitet. Die Patienten müssen mindestens 18 Jahre alt sein.
Fazit: Virtual Reality – hui oder pfui?
Den Einsatz von VR-Anwendungen als begleitende Therapieerfahrung finde ich für meine Praxis sehr interessant. Persönlich würde ich nicht auf eine reine Fernbehandlung mit VR setzen. Das finde ich zu riskant. Jedoch denke ich, dass ich durch das alternative Angebot neue Patienten ansprechen könnte, die genau nach dieser Erfahrung suchen. Auch die Behandlung bereits in Therapie befindlicher Patienten könnte durch das neue VR-Erlebnis bereichert werden. Virtual Reality wird nämlich noch nicht flächendeckend von Heilpraktikern für Psychotherapie in Deutschland eingesetzt.
Anbieter der VR-Therapie-Software
Auswahl von Softwarefirmen, die Lösungen anbieten, die in das Behandlungsspektrum des Heilpraktikers für Psychotherapie, vor allem in F4 „Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen“, fallen:
Samsung Be Fearless – besonders relevant bei der Therapie von Höhenangst
Fearless VR – ein interessantes Programm für die Spinnen- und Wespenkonfrontation
PsyCurio – Gefördert von der Europä- ischen Union „Investition in unsere Zukunft“ und ausgezeichnet vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und Kultur- und Kreativpiloten Deutschland, bietet PsyCurio eine innovative Software für verschiedene psychische Störungen.
VTplus – entwickelt in Kooperation mit der Hochschule Heilbronn und dem kboInn-Salzach-Klinikum das Forschungsprojekt „EVElyn“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. Der Einsatz der VR erfolgt hier in der ambulanten Psychotherapie bei Patienten mit Angststörungen und Phobien.
Optaped – ebenfalls vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Das Projekt wird in Zusammenarbeit mit der Universität Regensburg und dem Fraunhofer-Institut für integrierte Schaltungen, IIS, erarbeitet. Der Schwerpunkt liegt hier bei der therapeutischen Unterstützung von sozialen Phobien.
Stefanie Pöschl
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Marketingexpertin für Psychotherapeuten
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