Was lernt die Psychotherapie von der Hirnforschung?
Dieser Artikel ist so etwas wie ein Trigger: Er soll Sie neugierig machen und dazu motivieren, sich neurowissenschaftlichen Erkenntnissen zu öffnen, die psychotherapeutisch relevant sind oder sein können – sie einzuspeisen in Ihr Denken und zu intervenieren. Einige Beispiele sind herausgepickt. Was ist eigentlich das Ziel einer Psychotherapie? Was tun Sie als Psychotherapeut (immer m/w) – operational ist Ihnen das natürlich bewusst, doch welche Strategie verfolgen Sie dabei? Abhängig von der Therapieform, von Ihrer Ausbildung und Ihrer „Schule“ kann die ja durchaus unterschiedlich sein …
Definition Psychotherapie
„Psychotherapie bezeichnet allgemein die ‚gezielte professionelle Behandlung seelischer Störungen oder psychisch bedingter körperlicher Störungen mit psychologischen Mitteln‘. Die dabei angewandten Verfahren, Methoden und Konzepte sind durch verschiedene Psychotherapieschulen geprägt.“
Lt. Wikipedia, 19. März 2020
Was auch immer das konkret für Sie bedeutet, damit auch für Ihre Patienten/ Klienten, haben Sie bestimmte Ziele vor Augen, Symptome zu diagnostizieren und zu therapieren – also zu heilen resp. Verhalten zu verändern. Dafür greifen Sie auf Erkenntnisse der Psychologie zurück, die seit langer Zeit bekannt sind. Und die in den vergangenen Jahrzehnten durch die Neurowissenschaften präzisiert, verifiziert und zum Teil korrigiert wurden, dank interdisziplinärer Forschung.
Schließt sich damit ein Kreis aus Jahrhunderten, mithilfe moderner Hirnforschung? Immerhin hat auch ein Sigmund Freud sich konkret mit der Physiologie und Anatomie des menschlichen Gehirns befasst, bevor er ins Psychologische auswich. Seinerzeit blieb ihm nichts anderes übrig: Mangels technischer Möglichkeiten, tiefer ins Innere des Gehirns zu schauen, verließ er die Neuropathologie, um seine Psychoanalyse zu entwickeln. Doch die Brücke zur Neuropsychotherapie hatte er bereits gebaut.
Was ist Neuropsychotherapie?
Grawe, Klaus: Neuropsychotherapie. Göttingen, Hogrefe 2004. Leseprobe:
„Was wissen wir heute über die neuronalen Strukturen und Prozesse, die normalem und gestörtem Erleben und Verhalten zu Grunde liegen? … Welche Schlussfolgerungen ergeben sich für die Praxis der Psychotherapie, wenn man ihre Problemstellungen und den therapeutischen Veränderungsprozess aus einer neurowissenschaftlichen Perspektive betrachtet? … Psychische Störungen sind Reaktionen auf schwerwiegende Verletzungen der menschlichen Grundbedürfnisse. Ihre neuronalen Grundlagen reichen über die Störung selbst hinaus und müssen mitbehandelt werden, um ein möglichst gutes Therapieergebnis zu erzielen …“
https://www.hogrefe.de/shop/ neuropsychotherapie-65496.html
Abgerufen 19. März 2020
Bestätigung durch die Neurowissenschaft
Natürlich waren viele Erkenntnisse heutiger Zeit auch damals durchaus bekannt, etwa wo Denken und Emotionen im Gehirn verankert sind – oder die Sprache. Zu großen Anteilen noch heutige gültige Erkenntnisse förderten Forscher und Kliniker insbesondere im 19. Jahrhundert zutage, vorzugsweise durch das Sezieren von Gehirnen Verstorbener oder die Behandlung von psychiatrisch Erkrankten. Dazu zählen Paul Broca und Carl Wernicke mit ihren Befunden zu Sprachproduktion und -interpretation. Oder auch John D. Harlow, der Arzt von Phineas Gage, der einen Unfall überlebte, bei dem ihm eine Stange durchs Stirnhirn getrieben worden war (später von Antonio Damasio analysiert).
Doch was genau beim lebenden Menschen wie funktioniert, dafür fehlte naturgemäß der Einblick. Hätten Sigmund Freud die Erkenntnisse moderner Gehirnforschung via bildgebender Verfahren bereits zu seinen Lebezeiten zur Verfügung gestanden, wäre er vielleicht bei der Neuropathologie geblieben und hätte die Neuropsychotherapie mitbegründet. Denn mithilfe von „Scannern“ ist das Beobachten von Vorgängen im menschlichen Körper in vitro möglich. Sie kennen wahrscheinlich das MRT, darunter die funktionelle Magnetresonanztomographie, fMRT, wie sie z. B. zum Klären eines Krebsverdachts eingesetzt werden kann. Seit nun ca. drei Jahrzehnten ist es so auch möglich, Gehirnaktivitäten zu verfolgen.
Definition fMRT
„Die Funktionelle Magnetresonanztomographie ist eine auf den Physiker Kenneth Kwong zurückgehende Variante der Magnetresonanztomographie. Die Methode misst Veränderungen der Gewebsdurchblutung (rCBF) in den verschiedenen Hirnregionen, die durch den Energiebedarf aktiver Nervenzellen hervorgerufen werden. Sie kann dadurch funktionelle Abläufe im Gehirngewebe in Form von Schnittbilderserien darstellen. Grundlage für die Darstellung des fMRT ist der sog. BOLD-Effekt, der die unterschiedlichen magnetischen Eigenschaften von sauerstoffreichem und sauerstoffarmem Blut zur Signaldetektion nutzt. Werden die Aufnahmen zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten (Ruhezustand vs. stimulierter Zustand) gemacht, können sie durch statistische Testverfahren miteinander verglichen werden. Die stimulierten Areale werden dann vom Computer räumlich zugeordnet und visuell dargestellt.“
https://flexikon.doccheck.com/de/Funktionelle_Magnetresonanztomographie
Abgerufen am 19. März 2020
Psychotherapeutische und neurowissenschaftliche Grundlagen, Verfahren und Erkenntnisse können synergetisch genutzt werden. Sie als Psychotherapeut können von derlei Erkenntnissen profitieren, ohne Ihre Klienten „in die Röhre schieben“ zu müssen. Etwa, indem Sie Theorien und Modelle zum Lernen aus beiden Bereichen zusammenführen und – davon profitiert die Traumatherapie besonders – aufnehmen, wie der Hippocampus am Lernen/Erinnern, Abspeichern/Abrufen beteiligt ist, wann Lernen und Verarbeiten von Erfahrungen klappt und wodurch sie gestört werden. Lernen ist für Sie in der Psychotherapie zentral; denn wer einen Psychotherapeuten aufsucht, möchte etwas verändern. Verändern heißt, bisher Erlebtes und Erfahrenes zu überschreiben, also erstens: entlernen und zweitens: neu lernen.
Der S-D-B-Kreis: Typen verhaltensorientiert
Eine weitere psychotherapeutisch höchst relevante Gehirnstruktur ist das Limbische System, L.S., weit verzweigt in verschiedene Bereiche reichend. Sie reguliert Emotionalität, Impulsivität, wertet Reize binär (gut – schlecht, angenehm – unangenehm), bettet Denken gefühlsmäßig ein. Das L.S. ist faktisch das Kernsystem für psychotherapeutische Intervention.
Zu dieser Hirnstruktur gehört die Amygdala, zuständig für Angstreaktionen – wirksam mit ablehnendem Verhalten. Das L.S. gilt als die Institution, mit der wir Menschen halb automatisch reagieren, bevor wir kognitiv aktiv werden (können). So wirken wir auf Autopilot – resp. mit schnellem „Denken“ (gegenüber dem langsamen = mit dem präfrontalen Cortex kognitiv agierend, dem Stirnhirn oder Neocortex, unserem ureigenen, Homo sapiens exklusiven Gehirnbereich), wie es der Wirtschafts-Nobelpreisträger Daniel Kahneman genannt hat. Wie wir via L.S. auf äußere Reize reagieren, hat mit unseren Genen wie auch mit Erfahrungen zu tun (Epigenetik) – und letztlich mit den Hormonen und Neurotransmittern, die uns lenken: individuell, differenzierend nach Geschlecht und Alter und Lebenssituation.
In der Neuropsychologie gibt es zahlreiche Modelle, die psychologisch gleichsam vorbereitet sind, etwa das Zürcher MotivationsModell oder das der Persönlichkeitstypen, entwickelt von der Gruppe Nymphenburg/ Hans-Georg-Häusel: Stimulanz, Dominanz oder Balance (S-D-B-Modell). Naturgemäß tragen wir all das in uns, wie bei anderen Typologien/Persönlichkeitsmodellen auch.
Doch meist überwiegt einer der drei Faktoren, im statistischen Mittel etwa so: Jüngere Menschen sind primär stimulanzorientiert, Ältere dagegen haben den Schwerpunkt Balance. Männer tendieren zur Dominanz, Frauen zur Balance. Das hat jeweils mit dem Hormonstatus zu tun, der sich bekanntermaßen im Laufe des Lebensalters verändert (abhängig auch vom Lebensstil): Aggressionen förderndes Testosteron ist bei Männern deutlich stärker vorhanden als bei Frauen, nimmt im Laufe des Lebens ab. Gleiches gilt für eher dämpfendes Gestagen bei Frauen.
Hormone wirken aufs Gehirn!
„Dabei entfalten die jeweiligen Hormone spezifische Wirkungen auf die Gehirnaktivität: Östrogen wirkt aktivierend und euphorisierend, Progesteron (Anm.: Gestagen) wirkt angstlösend und entspannend, Testosteron wirkt aggressions- und lustfördernd. Bei Frauen werden diese Wirkungen insbesondere während des menstruellen Zyklus deutlich.“
https://www.sexmedpedia.com/auswirkungen-von-sexualhormonen-auf-die-psyche/
Abgerufen am 19. März 2020
Auch Serotonin spielt eine wichtige Rolle, als Gemütsaufheller (für Dominanz und Stimulanz), dazu Oxytocin, das sogenannte Bindungshormon (für Balance).
Ihr Learning? Überlegen Sie, wie Sie treffliche Elemente einbauen können:
- Stimulanz: Schaffen Sie ein anregendes Umfeld – welche Musik könnte passen? Sorgen Sie für Bewegung, etwa mit „Walk & Talk“.
- Dominanz: Fragen Sie verstärkt nach Meinung/Empfinden Ihres Klienten. Bestätigen Sie ihn möglichst häufig (soweit möglich!).
- Balance: Sorgen Sie für Pausen im Gespräch – lassen Sie die Klientin „kommen“. Zitieren Sie Beispiele anderer Menschen.
… jeweils angepasst an Geschlecht und Lebensalter Ihrer Klienten – resp. je nach Ihrem persönlichen Eindruck, was die individuelle Disposition angeht.
Belohnung – so bauen Sie´s bewusst ein!
Noch so ein Hormon: Dopamin als sogenanntes Glückshormon lässt sich auch durch (hochprozentige!) Schokolade triggern, die Sie Ihren Klienten reichen … üblicher sind diese Wege:
- Häppchen: Teilen Sie in kleine Einheiten, nur ein Thema je Sitzung.
- Selbst tun lassen: Schaffen Sie episodische Nudges.
... Überlegen Sie am besten gleich für Ihre nächsten Termine, wie Sie was probieren wollen …
Erinnern – und zwar positiv
Bahnen Sie Verhalten bzw. Vorgehen im Gehirn Ihrer Klientin, um so das (mit ihm gemeinsam vereinbarte) Ziel = Veränderung zu erreichen. Erkennbar wird derlei (im größeren Stil) im Gehirn übrigens durch entsprechend vergrößertes Areal, etwa bei Londoner Taxifahrern oder Geigenspielern nachgewiesen. Das bedeutet, dass die Wege des Erinnerns künftig verkürzt sein werden, der Zugriff aufs (von Ihren Klienten) erwünschte Erinnern resp. Verhalten deutlich rascher geschehen kann. Wie verhelfen Sie ihnen dazu? Gehen Sie z. B. verstärkt so vor:
- Wiederholen lassen: dasselbe Vorgehen zwei- oder dreimal durchgehen – und bei der nächsten Sitzung erneut
- Hausaufgabe mitgeben – vor- oder nachbereitend, je nach Situation
... Auch hier gilt: einfach mal Ideen fürs nächste Mal entwickeln – resp. „Checkliste“ danebenlegen.
… alle Sinne!
Je mehr der Gehirnaktivitäten Sie besetzen, desto wirkungsvoller: Beim Lernen wird die entsprechende Vergessens-Kurve (etwa nach Ebbinghaus) deutlich flacher, wenn Hören, Sehen, Fühlen kombiniert adressiert sind (evt. auch noch Riechen und Schmecken). Das zeigt sich im Alltag, Studien sollen das auch belegen. Zwar sind die „Lerntypen“ durchaus umstritten, doch eines zeigt die moderne Hirnforschung glasklar: Wenn Sie mein Gehirn vielsinnig beschäftigen, sind die entsprechenden Areale aktiv(er). Und da das Gehirn möglichst wenig Energie zu verbrauchen sucht, um damit die fürs Überleben wichtigen Arbeitsprozesse zu sichern, bin ich deutlich konzentrierter auf das, was Sie mit mir gemeinsam entwickeln! Wie kann das gehen?
- Sprechen Sie mit mir, zeigen Sie mir parallel Bilder – evtl. bewegte.
- Setzen Sie evtl. Musik und Düfte ein – immer dosiert und zum Thema passend.
- Verschaffen Sie mir Bewegung! Neurowissenschaftlich ist nachweisbar, dass besser behalten wird, wenn parallel auch der motorische Cortex aktiv ist.
Was davon möchten Sie zeitnah und wie umsetzen?
Spiegelneurone?!
Durchaus umstritten, doch überlegenswert! Darum geht es: 1992 hat Giacomo Rizzolatti beschrieben, dass Makaken-Affen dieselbe Aktivität in einer bestimmten Gehirnregion zeigten, wenn sie selbst vergnügt Erdnüsse aßen – oder Kollegen beim Erdnuss-Naschen zusahen. Er nannte diese Neurone „Spiegelneurone“.
Ob bei Menschen dieselben Strukturen vorhanden sind, ist noch umstritten: Für den Nachweis müssten Elektroden ins Gehirn eingeführt werden – und das hat man bis dato nur den Affen angetan … Wie auch immer, inzwischen wurden zweierlei Verbindungen diskutiert:
- Gibt es also eine physische Lokalisation der „Empathie“ = Reaktion auf das Geschehen mit und das Fühlen von anderen Individuen?
- Findet auf diese Weise statt, was als „Mentaltraining“ vor allem im Sport Einkehr gefunden hat?
Das heißt nun was für Sie? Vormachen und vorführen!
Will sagen: Lassen Sie Ihre Klienten erleben, wie sie sich verhalten sollen, indem Sie ihnen eben das „vorspielen“ (und dann nachmachen lassen, s. o.: selbst tun!). Und zeigen Sie das (von ihnen) gewünschte Verhalten im Bewegtbild, also einem Film (Sequenz aus Spielfilm, Youtube, Streaming … Copyright beachten!).
Ach ja, auch dies noch:
- Manifestiert sich im Herstellen von Rapport, was NLP betont (Neurolinguistisches Programmieren) – s. „Spiegeln“, etwa die Sitzhaltung Ihrer Klienten, um dann ggf. zu „Pacen“ und zu „Leaden“: die andere Person in eine veränderte Haltung mitzunehmen?
Umstritten wie so manches andere Modell oder manche Therapieform …
Quintessenz
Seien Sie offen für die synergetischen Effekte und auch die korrigierenden Erkenntnisse seitens der Neurowissenschaften, pflegen Sie eine kooperative Haltung.
Wie würden Sie formulieren, was die wesentlichen Erkenntnisse moderner Gehirnforschung für Psychotherapeuten und damit für Ihre Arbeit sind?
Literatur
Reiter, Hanspeter (Hg.): Handbuch Hirnforschung und Weiterbildung, Beltz, 2018 Roth, Gerhard: Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern. Klett-Cotta, 2019
Hanspeter Reiter
M. A. phil. Trainer, Coach, Berater, Autor
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