Interview: Wir müssen dem Klienten Brücken bauen
Uwe Britten im Gespräch mit dem Verhaltenstherapeuten Andreas Knuf
Herr Knuf, warum tun wir uns oft so schwer, über Gefühle zu reden?
Wahrscheinlich, weil wir es nicht gelernt haben. Den meisten von uns geht es immer noch so, dass wir zurückschauend in die Kindheit und Jugend keine Vorbilder finden von Menschen, die gute Modelle für einen hilfreichen Umgang mit Gefühlen waren. In manchen Elternhäusern waren Gefühle sogar komplett tabuisiert.
Wer hat seinen Vater je weinen sehen? Auch die Mütter haben oft Gefühle in Krisenzeiten vor den Kindern eher verheimlicht. „Mama, was ist?“, darauf war die Antwort oft: „Nichts.“
Jüngere Eltern gehen heute natürlich schon anders damit um. Aber gute Modelle haben sie dafür häufig nicht gehabt.
Warum haben wir so viel Angst vor Gefühlen und auch vor dem Gefühlsausdruck?
Vielleicht müsste man das eine kulturbedingte Emotionsphobie nennen: Angst vor unseren Gefühlen. Und dann ist es ja auch schwierig, sie auszudrücken und auszusprechen. Insbesondere betrifft das natürlich die unangenehmen Gefühle. Und bei unangenehmen Gefühlen haben wir einen natürlichen Impuls, uns von ihnen wegzubewegen, Distanz zu bekommen. Sich darauf offen zuzubewegen, ist kontraintuitiv. Bei all dem liegt es nahe, sich damit nicht gerade gerne zu beschäftigen.
Wenn wir merken, dass jemandem etwas unangenehm ist, neigen wir in Gesprächen sogar dazu, es gar nicht erst anzusprechen. Wollen wir anderen Menschen die Konfrontationen mit den Gefühlen offenbar nicht zumuten?
Richtig, wir wollen das dem anderen gar nicht erst zumuten. Es entspricht auch nicht den gesellschaftlichen Konventionen. Oft ist es aber so, dass wir allem voran uns das selbst nicht zumuten wollen.
Der Mann einer Klientin hatte einen Schlaganfall und saß seitdem im Rollstuhl. Sie erzählte mir, dass Leute aus ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld sie nicht ein einziges Mal darauf angesprochen hatten. Sie haben lieber so getan, als sei nichts gewesen.
Der Klassiker ist, dass wir jemanden fragen, wie es geht, er antwortet: „Gut“ – und schon kann man zum Wetter übergehen. Insgeheim aber denken wir: „Oh, der sieht aber schlecht aus.“
Das ist natürlich absurd. Aber es fühlt sich in der Situation zunächst adäquat an, eben weil wir den unangenehmen Gefühlen auszuweichen versuchen. Wir wollen weder Scham auslösen noch Weinen.
Und psychotherapeutisch fällt es leichter?
Immerhin wissen wir Therapeutinnen und Therapeuten schon mal, was hilfreicher wäre. In der konkreten therapeutischen Sitzung aber geht es uns erst einmal nicht viel anders. Auch wir sprechen nicht immer gerne über unangenehme Gefühle und müssen manchmal erst über eine kleine innerliche Hürde hinweg.
Wie lässt sich bei einem Klienten, der so gar keinen Zugang zu seinen Gefühlen hat, eine hilfreiche Atmosphäre herstellen?
Das hängt von unserer Hypothese ab, warum jemand nicht über seine Gefühle sprechen möchte. Wir müssen zunächst den Grund verstehen, warum dieser Mensch keine Gefühle zeigen kann oder will. Scham spielt eine große Rolle, besonders zu Beginn einer Therapie. Beide Personen sind sich noch nicht vertraut und noch unsicher. Manchmal bricht das Eis, wenn der Therapeut kurz von sich selbst spricht. Der Klient spürt ihn dadurch besser und kann Vertrauen aufbauen. Besser ist es noch, wenn wir von unseren Erfahrungen aus anderen Therapien sprechen. Manche Klienten antworten dann: „Ja, mir geht es auch oft so.“ Wir müssen uns bemühen, dem Klienten Brücken zu bauen.
Manchmal muss man es aber auch über den Körper angehen. Einzelne Klienten sind körperlich so angespannt und blockiert oder innerlich so weit von ihrem Körper entfernt, dass sie tatsächlich kaum einmal Gefühle spüren. Atemübungen können dann eine Brücke sein, wenn wir zum Beispiel jemanden auffordern, möglichst gelöst und anstrengungslos durch den Mund zu atmen. Die Mundatmung hat weniger Kontrolle zur Folge als die Nasenatmung, daher erleichtert die Mundatmung den Zugang zu unseren Gefühlen. Die Brücke muss hier also zu einer körperlichen Entspannung oder zum Wahrnehmen des Körpers führen.
Gibt es auch das entgegengesetzte Phänomen, jene Menschen nämlich, die den ganzen Tag über nichts lieber tun, als über ihre Gefühle zu sprechen?
Da müssen wir ganz genau hinschauen. Diese Menschen spüren ihre Gefühle oft gar nicht wirklich, sondern das Reden darüber hat die Funktion, das wirkliche Spüren zu vermeiden und dabei sich selbst und natürlich dem Therapeuten unbewusst zu suggerieren, man gehe entspannt und offen mit den eigenen Gefühlen um. Dann müssen wir aufmerksam sein, nicht mit in diese Falle zu geraten. Die Gefahr ist nämlich, dass beide Seiten dann gerne so tun, als würden sie sich mit bedeutsamen Gefühlen und den dahinterstehenden Ereignissen beschäftigen, in Wahrheit jedoch handelt es sich um eine subtile Art, gerade nicht an die Gefühle zu rühren. Das Sprechen über Gefühle kann uns also sogar von unseren Gefühlen entfernen. Wenn jemand viel über Gefühle spricht, sollten wir kritisch hinterfragen, ob er etwas Bestimmtes vielleicht gar nicht fühlen will.
Tief in einer Gefühlsregung zu stecken, führt oft eher zu einem zwischenzeitlichen Schweigen, als dass derjenige das große Wort führt. In der Therapiestunde tritt dann erst einmal Stille ein. Gerade dieser Stille müssen wir Raum geben können und sie aushalten. Das fällt uns bekanntlich nicht immer leicht, denn auch der Therapeut kann dann von den Gefühlen des Gegenübers tief berührt werden. Wir sollten nie zu schnell vom reinen Fühlen zum Sprechen über das Gefühl übergehen. Eine Integration emotionaler Inhalte ist für die Reflexion natürlich wünschenswert, sie sollte aber nicht zu früh stattfinden.
Sprechen wir denn zuweilen auch über ein Gefühl, um das es eigentlich gar nicht geht?
Auch das gibt es. Wer für einen bestimmten Gefühlsausdruck vom anderen positive Resonanz erfährt, z. B. Aufmerksamkeit, Zuspruch, Nähe, Verständnis, Schutz oder auch Schonung vor zu bewältigenden Aufgaben, der spricht gerne von diesen Gefühlen. Wir setzen das ein, was wir als wirkungsvoll gelernt haben. Diese Person nimmt Zuflucht zu einem Gefühlsausdruck, um etwas zu erreichen. Der Preis dafür ist längerfristig allerdings recht hoch, denn weil dabei vor allem das „Ergebnis“ des Gefühlsausdrucks zählt, verlieren diese Menschen mit der Zeit die Fähigkeit, die eigenen Gefühle adäquat wahrzunehmen. Sie verwechseln diese in strumentelle Emotion mit ihrem eigentlichen emotionalen Empfinden. Wenn das eigentliche Gefühl aber schlecht oder gar nicht erkannt wird, wird es innerpsychisch auch schlechter verarbeitet, bewältigt. In der Folge ignorieren sie häufig den Hinweischarakter ihrer eigentlichen Gefühle.
Ich erinnere eine Klientin, die als Kind jahrelang versucht hat, ihre depressive Mutter mit Freude aufzuheitern, was teilweise sogar funktionierte. Als erwachsene Frau aber wurde sie während einer Trauerphase depressiv, weil ihr die Fähigkeit zur Wahrnehmung und zum Ausdruck von Trauer gar nicht zur Verfügung stand.
Ein Gefühl kann gar nicht an die Oberfläche kommen und soll es auch nicht?
Wir verdecken dieses Gefühl lieber, indem wir über ein anderes reden. In der Fachsprache wird das als „Deckemotion“ bezeichnet oder als „sekundäre Emotion“. Es geht dann therapeutisch nicht so sehr um das Sprechen, sondern um das wirkliche Fühlen, denn wir spüren ja vielleicht den Ärger über etwas, aber der Ärger schützt uns vor einem anderen Gefühl, das womöglich unsere tiefe Verletztheit zeigen würde, z. B. Scham, Angst oder Isolation. Auch in Paarkonflikten mit viel Ärgerausdruck kann so etwas zugrunde liegen. Außerdem fühlen wir uns beim Ausdruck von Ärger oder Wut so kraftvoll und energiegeladen und eben nicht schwach. Das ist uns doch viel lieber.
Sekundäre Emotionen werden vielfach geradezu vom Klienten als Thema „angeboten“. Das Gespräch kann dann durchaus sehr lebendig verlaufen, allerdings kommt es nicht zu einer Veränderung, da die eigentlichen Themen umkurvt werden. Es ist oft jedoch nicht so leicht, herauszufinden, was dabei genau verdeckt wird. Nicht immer sind es die typischen Muster wie etwa: Der Ärger ist sekundär und die Angst oder Scham primär, denn die Dynamik hängt von der individuellen biografischen Erfahrung ab. Wenn z. B. Traurigkeit in einer Herkunftsfamilie „erlaubt“ war und Freude unterdrückt wurde, dann kann es sogar sein, dass jemand gerade dann traurig wird, wenn eigentlich Freude aufkommt oder auch Angst. Herauszufinden, um welches Gefühl es wirklich geht, ist wohl eine der wichtigsten Aufgaben in der emotionsorientierten Arbeit.
Welchen eigenen Gefühlen weichen denn Therapeuten gerne aus?
Ohnmachtsgefühlen. Das begegnet mir in meinen Seminaren und Trainings immer wieder. Wir Therapeuten sind schon sehr darauf konditioniert, auf psychisches Geschehen Einfluss nehmen zu können und damit wirkungsvoll zu sein. Es kann sein, dass wir das sogar aus unserer Primärpersönlichkeit mitbringen in die Berufswahl. Allerdings haben wir oft gar keinen starken Einfluss, weil das Empfinden beim Klienten viel von äußeren Faktoren abhängt oder für therapeutische Interventionen nur schwer zugänglich ist. In solchen Fällen teilen Klient und Therapeut dann dasselbe, nämlich das Ohnmachtserleben. Therapeuten denken manchmal, es würde den Klienten schaden, das anzusprechen. Doch ich habe es immer wieder erlebt, dass sie sich sogar entlastet fühlen, wenn sie nicht allein sind mit ihrer Ohnmacht.
Groß ist die Gefahr, dass der Therapeut das Ohnmachtsgefühl nicht aushält und dann in eine Handlung geht, die letztlich gar nicht dem Klienten dient, sondern dem Therapeuten eine Kontrollmöglichkeit suggeriert. In einer solchen Situation reagieren wir gerne mit einem Tipp im Sinne von „Sie sollten mal …“, oder wir appellieren: „Sie müssen sich jetzt endlich entscheiden, dies und das zu verändern.“ Wir wenden uns dann quasi an einen vermeintlich freien Willen, der aber offensichtlich in diesem Bereich gar nicht vorhanden ist. Anstatt anzuerkennen, dass das Team aus Klient/Therapeut momentan ohnmächtig ist, tun wir so, als gebe es eine einfache Lösung oder als sei der Klient „schuld“, weil er sich nicht für die sinnvolle Handlung entscheidet. Die Hauptfunktion besteht dann darin, dass wir Therapeuten unser eigenes Gefühl regulieren, und zwar auf Kosten des Klienten. Die Konsequenz ist, dass es dem Therapeuten besser geht, dem Klienten hingegen immer noch nicht.
Ich denke noch an Themen, die ein Klient anspricht und die auch für den Therapeuten mit starken Emotionen verbunden sind. Plötzlich geht der eigene Puls hoch und der Therapeut ist mehr mit sich als mit dem Klienten beschäftigt. Kennen Sie das?
Natürlich. Wenn ein Klient ein Thema anspricht, das auch in meiner eigenen Biografie eine starke Bedeutung hat und bei mir eine starke emotionale Schwingung auslöst, muss ich sehr genau hinschauen. Sinnvoll ist es zuerst einmal, für sich selbst zu klären, ob der Klient davon profitieren kann, wenn ich das Gefühlte in irgendeiner Weise anspreche. Etwa indem seine Scham oder Selbstverurteilung weniger wird oder wenn er erfährt, dass es anderen Menschen auch so ergeht wie ihm. Oder wenn sich die therapeutische Beziehung gefestigt hat und das Vertrauen zum Therapeuten zunimmt, wenn der Klient erfährt, wie es dem Therapeuten ergeht.
Komme ich jedoch zu der Annahme, dass meine Offenheit dem Klienten zum jetzigen Zeitpunkt eher schaden oder ihn überfordern könnte oder nicht gewünscht ist, dann werde ich dieses Gefühl eher zurückhalten.
Ich möchte sogar noch einen Schritt weitergehen: Die viel beschworene „professionelle Distanz“ kann in bestimmten Situationen, wenn man eher emotionsorientiert arbeitet, kontraindiziert sein. Vielleicht braucht der Klient den Therapeuten als Vorbild für einen guten Umgang mit Gefühlen, und der zeichnet sich dadurch aus, dass man zu seinen Gefühlen stehen kann. Haben Klienten Elternhäuser erlebt, in denen Gefühle verheimlicht und kaum über Gefühle gesprochen wurde, dann ist die professionelle Distanz genau das Gegenteil von dem, was für das Erlernen eines guten Umgangs mit Gefühlen wünschenswert ist. Verheimlicht nun ein Therapeut seine Gefühle auch wieder, verhält er sich ähnlich, wie früher der Vater oder die Mutter es getan haben. Sprechen wir also die Gefühle nicht an, hätte der Klient abermals kein Modell dafür, dass es besser ist, sich den Gefühlen zu stellen und über Gefühle zu sprechen.
Das Konzept der professionellen Distanz ist letztlich Teil der gesamtgesellschaftlichen Emotionssuppression und setzt diese fort.
Andreas Knuf
Verhaltenstherapeut in eigener Praxis, langjährige Tätigkeit in psychiatrischen Einrichtungen. Soeben ist sein Buch „Umgang mit Gefühlen in der psychiatrischen Arbeit“ im Psychiatrie Verlag erschienen.
Uwe Britten
Fachjournalist und Herausgeber
der Buchreihe „Psychotherapeutische Dialoge“
Fotos: ©Svetlana Lukienko ©Photographee.eu