Entwicklungen in der Verhaltenstherapie, Teil 1
Dies ist der erste Teil einer vierteiligen Serie über die Verhaltenstherapie (VT). Ich werde beschreiben, wie alles anfing1), welche Formen es gibt2), welche Neuentwicklungen stattfinden3) und wie die Kritik an der Therapie aussieht4).
Wie alles anfing
Mit dem Beginn der Verhaltenstherapie in den 1950er-Jahren wurde nicht alles, was zuvor an Therapiemethoden existierte, zu einem bestimmten Zeitpunkt über Bord geworfen. Neue Strategien entstehen so gut wie immer aus bereits vorhandenen, Seitenströmungen bekommen ein anderes Gewicht, die Lerntheorie war nicht mehr von der Hand zu weisen.
Viele Wege wurden geprüft und Ausuferndes auf das Notwendige reduziert. Einige Einflüsse der Psychoanalyse blieben, die Prinzipien der Gesprächstherapie nach Rogers waren natürlich bekannt und wurden verwendet, die Gestalttherapie nach Pearls entwickelte sich. Neue Wege wurden beschritten, sie haben sich teilweise verselbstständigt und zum Teil auch in unseren Alltag integriert, z. B. die Achtsamkeitstrainings oder die Encounter-Gruppen aus dem Esalen-Institut in Kalifornien.
Der Begriff Verhaltenstherapie steht dabei nicht für ein spezielles Therapieverfahren, sondern ist ein Sammelbegriff für ein weites Spektrum therapeutischer Techniken von der Klassischen Konditionierung über Kombinationen mit anderen Therapien bis hin zu modernen computerbasierten Techniken. Die Hilfe zur Selbsthilfe, dort, wo ein subjektiver Veränderungsbedarf besteht, steht jedoch bei jeder verhaltenstherapeutischen Technik im Vordergrund. Den Klienten (immer m/w) sollen neue Strategien und Fähigkeiten vermittelt werden, mit deren Hilfe sie sowohl aktuelle als auch zukünftige Probleme selbstständig lösen oder mindestens besser bewältigen können.
Verhaltenstherapien, ein Teil der 2. Generation von Psychotherapien, der Humanistischen Verfahren, unterscheiden sich von den tiefenpsychologischen Verfahren (1. Generation) dadurch, dass sie nur wenig Rückschau auf die biografische Entwicklung des Patienten halten.
Platt gesagt: Die Mama-Papa-Geschichte ist nicht besonders relevant. Es gibt sie, aber ihre Kenntnis ist keine Voraussetzung für die Lösung von Problemen. Vorrangig kümmern sich Verhaltenstherapeuten darum, wie problematische (unlösbare) oder auch nur schwierige (lösbare) Situationen im Alltag besser bewältigt werden können. Dabei kommen manchmal auch biografische Hintergründe zum Vorschein, ganz von selbst, das ist nicht zu vermeiden.
Ein Patient hat Panikattacken im Fahrstuhl? Seit er einmal eingesperrt war!
Ein anderer kollabiert, wird völlig hilflos, wenn er eine Spinne sieht? Immer schon!
Ein Patient hat heftigste Symptome vom Herzrasen bis zu Atemaussetzern, wenn er schwere Schritte auf der Treppe hört? Seit diesen üblen Tagen damals!
Das alles muss nicht sein, das soll sich ändern – und die VT hilft dabei.
Gemeinsam ist den verhaltenstherapeutischen Ansätzen ein verändertes, auf Effizienz ausgerichtetes Verständnis des therapeutischen Prozesses:
– Der therapeutische Prozess ist planbar und wird geplant, die Anzahl der Therapiesitzungen ist begrenzt. Es wird ein konkretes Ziel vereinbart, an dem der Patient konkret erkennen kann, dass es ihm besser geht. Die Kontrollfrage lautet: Ist das Ziel SMART – Spezifisch? Messbar? Aktivierend? Realistisch? Terminiert? Es muss die Veränderungsmotivation ansprechen. Wenn das Ziel erreicht ist, ist die Therapie beendet.
– Der Patient muss zwischen den Sitzungen bestimmte Techniken üben: diverse Entspannungstechniken, Techniken der Stimuluskontrolle (Was machen Sie, wenn Ihnen das wieder begegnet?), bis diese Techniken anfangen, sich zu verselbstständigen wie die Reflexe bei einem erfahrenen Kampfkünstler.
– Der Therapeut wird gleichsam zum Lehrer. Er bestimmt das Tempo und den nächsten Schritt der Therapie in Absprache mit dem Patienten, er leitet ihn an, unterstützt ihn, wo das nötig und möglich ist auch mit technischen Hilfsmitteln (Sprechfunkgerät im Fahrstuhl ...). Er hilft bei der Selbsthilfe.
In diesem Prozess wird eine Interpretation von unbewussten Inhalten nicht angestrebt. Sollten solche Inhalte auftauchen, also Erinnerungen wach werden, so werden sie in den therapeutischen Prozess integriert, keine Frage, aber sie zu identifizieren, ist nicht das Ziel der VT. Sofern eine Analyse stattfindet, bezieht sie sich auf die problematische Situation: Was ist jetzt los, was geschieht gerade mit Ihnen, was machen Sie als Nächstes, wie fühlen Sie sich danach? Das ist die Untersuchung von Reiz-Reaktions-Zusammenhängen, die sich auf das aktuelle Denken, Fühlen, Handeln und die körperlichen Sensationen beziehen.
Dabei wurden immer mehr Methoden der Verhaltenstherapie auf die Behandlung bestimmter Störungen spezialisiert. Es gibt Programme für die Behandlung von Angst- und einer Reihe von Zwangsstörungen, für die Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen, für Abhängigkeit und Sucht, bei Schizophrenien und Depressionen, posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS), dissoziativen Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen, psychosomatischen Erkrankungen. Die Grundannahme der VT ist, dass störendes, also krankheitsförderndes Verhalten erlernt ist, auf welchem biografischen Hintergrund auch immer, und demzufolge auch wieder verlernt werden kann. Aus der Wirksamkeit der VT, die weitere Erfolge und weitere positive Erfahrungen im Leben des Einzelnen nach sich ziehen (wenn einer Mut gewinnt, macht er auch neue Erfahrungen, die mehr Mut machen usw.), wurde erkennbar, dass eine Kenntnis von Ursachen nicht nötig ist, um gegenwärtige Störungen zu beheben. Das ist das grundsätzlich Neue an der 2. Generation der Therapieverfahren: die Lerntheorie.
Die Annahme, dass das vereinbarte Ziel auch attraktiv sein muss für den Patienten, könnte man ja als selbstverständlich bezeichnen. Allerdings spielt ein möglicher Krankheitsgewinn dem Menschen oftmals einen Streich: Er hat sein Leben um seine Störung herum organisiert, Familienangehörige machen mit und werden bisweilen von Veränderungen überrascht.
Insofern ist eine Betrachtung des Systems (3. Generation der Therapieverfahren: die systemischen Verfahren) nötig: Wer hat welche Vorteile durch die Störung, wie wird über sie kommuniziert? So kann sich ein Familienangehöriger oder ein Freund wichtig fühlen durch die Hilfe, die er dem Patienten leistet. Er hat dann an einer Heilung kein Interesse, wenn die Heilung seinen eigenen Status infrage stellt.
Heute wird die VT in vielen denkbaren sozialen Strukturen eingesetzt: als individuelle VT, in der Paartherapie, der Familientherapie, beim Gruppen- und Arbeitsplatz-Coaching, in der Gemeindearbeit, aber auch in der medizinischen Gesundheitsvorsorge als Verhaltensmedizin. Sie befasst sich mit der Anwendung verhaltenstherapeutischer Methoden auf Erkrankungen mit einem psychisch ursächlichen Hintergrund oder einer psychischen Begleitsymptomatik. Der Patient soll lernen, mit seiner Erkrankung angemessen umzugehen, z. B. mit Bluthochdruck, Asthma, Diabetes, wiederkehrenden Kopfschmerzen oder Heiserkeit, Tinnitus.
Ablauf einer Verhaltenstherapie
Problematisches Verhalten wird also in der Verhaltenstherapie in erster Linie als Ergebnis von Lernprozessen verstanden und soll auch wiederum durch Lernprinzipien therapeutisch verändert werden. Daher wird zunächst eine genaue Verhaltensanalyse durchgeführt.
Verhaltensanalyse
Darin untersucht der Therapeut die Probleme der Patienten in Abhängigkeit zu ihren aufrechterhaltenden Bedingungen und im Hinblick auf ihre persönlichen und sozialen positiven wie negativen Konsequenzen.
Dabei bezieht die Verhaltensanalyse nicht nur das beobachtbare Verhalten, sondern auch Gefühle, Gedanken und körperliche Prozesse ein. Zudem untersucht die erweiterte Verhaltensanalyse auch Einflüsse im Umfeld des Patienten. Er hat Probleme im Fahrstuhl? Er wohnt zwar im Erdgeschoss (kein Problem), arbeitet aber in der 27. Etage (Problem).
Zielanalyse
In der dann folgenden Zielanalyse werden die individuellen Therapieziele des Patienten erarbeitet und definiert. Dabei ist die realistische Möglichkeit, dass die Ziele erreicht und aufrechterhalten werden können, ein wichtiges Kriterium. „An 100 Tagen 100-mal zu den Anonymen Alkoholikern“ ist unrealistisch. Zum Teil werden die vereinbarten Ziele in einem Therapievertrag festgelegt.
Das Ziel der VT besteht letztendlich darin, in der Therapie Lernprozesse in Gang zu setzen, die zu Verhaltensveränderungen führen. Der Patient soll in die Lage versetzt werden, problematische Verhaltensmuster zu erkennen, z. B. Vermeidungsverhalten, um eigenständig auch zukünftige ähnliche Muster zu verändern.
So kann ein Patient mit einer Sozialphobie in der Therapie lernen, sich selbstsicherer zu verhalten und offen auf andere zuzugehen. Dadurch wird er in der Begegnung mit anderen Menschen positive Erfahrungen machen, die dazu führen, dass er das neue Verhalten nun häufiger ausführen und irgendwann in sein Verhaltensrepertoire übernehmen wird (positive Verstärker). Oder er kann die Erfahrung machen, dass die Nachteile ausgeprägt sein Leben behindern (negative Verstärker).
Wenn den Problemen negative oder unrealistische Denkmuster zugrunde liegen, wie „Ich bin nur dann zufrieden mit mir, wenn ich in allen Dingen, die ich tue, der Beste bin“, kann es Inhalt der Therapie sein, mit dem Betreffenden realistische Maßstäbe zu entwickeln. Dies ist ein wesentlicher Bestandteil der kognitiven Verhaltenstherapie, die ich im zweiten Teil dieser Reihe detaillierter behandeln werde.
Therapeutischer Prozess
Wenn es notwendig ist, werden wichtige Bezugspersonen der Patienten in die Therapie einbezogen. Bei einem schizophrenen Patienten z. B. ist es wichtig, dass nicht nur er selbst in die Lage versetzt wird, Frühsymptome eines erneuten Schubes zu erkennen, sondern dass auch seine Familie darüber informiert ist und weiß, was zu tun ist. Es hat sich gezeigt, dass Schizophrene häufig Schwierigkeiten mit einem allzu emotionalen Umfeld haben und besser mit „kühlerem“ Verhalten umgehen können. Daher lohnt es sich immer, das Kommunikationsverhalten im Umfeld der Erkrankten zu verbessern.
Die Ursache des Problems muss nicht ergründet werden, um Veränderungen zu bewirken. Vor allem bei den häufigen psychischen Störungen wie Angststörungen haben Studien gezeigt, dass auch ohne Entstehungsanalyse eine Heilung möglich ist. Andererseits spricht nichts dagegen, auch innerhalb der Verhaltenstherapie eine genauere Analyse der Störungsätiologie vorzunehmen. Entscheidend ist auch der therapeutische Auftrag: Was soll überhaupt behandelt werden?
Ausbildung
VT ist keine geschützte Methode, die nur von ausgebildeten Therapeuten angewandt werden darf (die gibt es z. B. im Bereich der Nuklearmedizin). Sie ist neben der Psychoanalyse und den tiefenpsychologischen Verfahren in der sog. Kassenzulassung, d. h. die gesetzlichen Krankenkassen bezahlen eine VT, weil es hinreichende Untersuchungen gibt, die ihre Wirksamkeit belegen.
Für die Kostenerstattung braucht es allerdings die Kassenzulassung. Diese bekommen nur psychologische Psychotherapeuten nach dem PsychThG vom 1.1.1999 und der staatlichen Approbation sowie ärztliche Psychotherapeuten. Die weiteren Voraussetzungen entsprechen zwar denen des Heilpraktikergesetzes, aber deren Erfüllung zieht nicht die Kassenzulassung nach sich: körperliche und geistige Gesundheit, keine Vorstrafen.
Kassenzulassung oder besser „sozialrechtliche Zulassung“ ist in Deutschland die Berechtigung eines Arztes, psychologischen Psychotherapeuten usw., seine der Kassenzulassung unterstehenden Leistungen zulasten der gesetzlichen Krankenversicherungen und nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) abzurechnen. Es muss ja schließlich geregelt werden, wer bezahlt und was bezahlt wird.
Jeder darf einen Medizinmann vom Stamme der Apachen befragen – aber das ist dann seine Privatsache.
Literatur
Literaturhinweise und Links können beim Autor abgefragt werden.
Thomas Schnura
Heilpraktiker, Psychologe M. A.
Fotos: ©tatomm ©Andrey Popoov