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Opfer und Täter in unserer Gesellschaft

Aus welcher Perspektive werden sie wahrgenommen, wie werden ihre Taten eingeordnet und welche Präventionsmaßnahmen gibt es?

Nach der polizeilichen Kriminalstatistik aus dem Jahr 2022 fanden bundesweit 5 628 584 Kriminalfälle statt, dies ist ein Anstieg von 11,5 % zum Jahr 2021. Die Zahlen sind fünf Jahre lang kontinuierlich zurückgegangen, zum ersten Mal sind die Kriminalfälle im Jahr 2022 wieder angestiegen.

Allein durch die coronabedingten Auswirkungen lässt sich dieser Anstieg nicht begründen, da im Jahr 2019, also vor der Pandemie, 5 436 401 Kriminalfälle erfasst wurden und im Jahr 2022 stieg die Zahl um 3,5 % an. Bei den tatverdächtigen Kindern ist ein deutlicher Anstieg um 35,5 % auf 93 095 Fälle im Vergleich zum Jahr 2021 zu verzeichnen.

Auch im Vergleich mit dem Jahr 2019 ohne Coronapandemie ist ein Anstieg der tatverdächtigen Kinder mit 16,3 % auf 72 890 Fälle und bei Jugendlichen um 6,8 % gegeben. Beim Cybermobbing ist die Anzahl der Opfer von 2018 um 25 % angestiegen.

Das bedeutet, dass fünf Millionen Personen bis 65 Jahre davon betroffen sind. Aufgrund dieser Gewalttaten sind 15 % der Opfer suizidgefährdet, auch hier ist ein Anstieg um 3 % zum Jahr 2018 zu verzeichnen. Mobbing hat bei 15–20 % der Opfer dafür gesorgt, dass sie Alkohol, Drogen oder Medikamente eingenommen haben.

Sowohl Mobbing als auch Cybermobbing können Auslöser für teilweise schwere psychische und psychosomatische Probleme sein, die die Betroffenen ein Leben lang begleiten können (vgl. Bundesministerium des Innern und für Heimat, 2023, S. 9, 40f., zdf-heute, 2021).

Bei einem so starken Anstieg der Kriminalfälle, gerade auch im Hinblick unter Kindern und Jugendlichen stellt sich die Frage nach der Sicht auf „Opfer“ und „Täter“ (immer m/w/d) in unserer Gesellschaft. Wie definieren wir den Begriff „Opfer“ und „Täter“ und welche Bedeutungen messen wir als Gesellschaft diesen Begriffen zu. Wie ordnen wir die Gewalttaten ein und welchen Umgang zeigen wir damit? Eine neue Form der körperlichen Gewalt „Happy Slapping“ greift um sich. Was zeigt diese neue körperliche Form der Gewalt über uns als Gesellschaft? Welche Motive und Persönlichkeiten stehen hinter Gewalttaten? Welche Präventionsmaßnahmen gibt es für uns als Gesellschaft, mit diesen Entwicklungen umzugehen?

Begriffsbestimmung Opfer und Täter

„Opfer sind natürliche Personen, gegen die sich die mit Strafe bedrohte Handlung unmittelbar richtete. Opfer sind Geschädigte/ unmittelbar Betroffene speziell definierter Delikte gegen höchstpersönliche Rechtsgüter (Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit, Ehre, sexuelle Selbstbestimmung) und Widerstandsdelikte, soweit diese im Straftatenkatalog zur Opfererfassung („O“) gekennzeichnet sind“ (Bundesministerium des Innern und für Heimat, 2023, S. 50).

„Tatverdächtiger ist jede Person, die nach dem polizeilichen Ermittlungsergebnis aufgrund zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte verdächtigt wird, eine rechtswidrige (Straf-)Tat begangen zu haben. Dazu zählen auch Mittäterinnen und Mittäter, Anstifterinnen und Anstifter sowie Gehilfinnen und Gehilfen (Bundesministerium des Innern und für Heimat, 2023, S. 51).

Abweichend von den Definitionen zu „Opfer“ und „Täter“ werden diese Begriffe umgangssprachlich hingegen sogar als Beleidigung verwendet: „du Opfer“. Damit wird das Opfer in unserer Gesellschaft eher als schwach angesehen. Dadurch gilt es als „uncool“, ein Opfer zu sein, und es ist beschämend. Die Täter werden aus gesellschaftlicher Sicht dadurch positiv der Norm entsprechend gesehen, während die Opfer eher negativ abweichend von der Norm aufgefasst werden.

Opfer werden als schwach, unterlegen, wehrlos, passiv beschrieben, während Täter als dominant, stark, unabhängig, durchsetzungsfähig und handlungsmächtig dargestellt werden. Dadurch wird das Opfer nicht nur durch die Tat isoliert, sondern auch durch die Sicht der Gesellschaft auf die Opfer und die negative Begriffsverwendung ausgegrenzt und herabgestuft.

Diese gesellschaftliche Sicht auf Opfer und Täter geht in eine völlig falsche Richtung. Die Sicht auf Opfer und Täter ist historisch in der Gesellschaft verankert, wird sozial konstruiert und findet sich in der Politik und den Gesetzen wieder. Opfer werden in vier Rubriken aufgeteilt:

An erster Stelle steht das eigentliche Opfer, gefolgt von den Familienangehörigen und Bekannten des Opfers, denn diese werden auch zu Opfern der Täter, anschließend geht es um Opfer, die eine Gewalttat verhindern wollten und dabei selbst zu Opfern wurden, und abschließend um ganze Bevölkerungsgruppen oder Organisationen, die zum Opfer werden („collective victims“) (vgl. Mandel und Planitzer, 2021, S. 43f.).

Definitionen und Einordnung von Gewalttaten

Ein weiterer Aspekt in unserer Gesellschaft im Einordnen von Gewalttaten und ihrer Schwere ist, dass körperliche Gewalt wahrgenommen, anerkannt und als Gewalttat akzeptiert wird, im Gegensatz zur psychischen Gewalt. Im Alltag wird Gewalt oft nur benannt, wenn es um die physische Gewalt geht, die direkt sichtbar für alle ist. Doch auch die physische Gewalt geht immer einher mit einer psychischen Gewalt, denn auch sie wirkt und verletzt die Seele des Opfers.

Die psychische Gewalt wird dagegen nicht wahrgenommen oder heruntergespielt, was ihrer Dimension und den Auswirkungen auf die Seele und Persönlichkeit nicht gerecht wird. Beleidigung, Mobbing, Ausgrenzung, Diskriminierung, Drohungen können schwere seelische Verletzungen nach sich ziehen, die sogar schlimmer auf die Psyche wirken können als eine körperliche Verletzung (vgl. Stangl-Gewalt, 2023; Redaktionsnetzwerk Deutschland, 2017; Klewin und Tillmann, 2006, S. 193).

Definitionen zur Einordnung von Gewalttaten
(Jura-Forum, 2003-2023)

„Gewalt im Sinne des Gesetzes umfasst alle Handlungen, die physisch oder psychisch auf eine Person einwirken und diese verletzen oder bedrohen. Sie kann körperlich, sexuell, psychisch oder ökonomisch erfolgen und ist in vielen verschiedenen Lebensbereichen anzutreffen“.

Körperliche Gewalt/physische Gewalt

„Diese Form meint ein nach außen gerichtetes, aggressives Verhalten, das die Schädigung und/oder Verletzung eines anderen zur Folge hat. Bei dieser Form wird also körperliche Gewalt angewandt, um einen anderen Menschen zu verletzen oder sogar zu töten“. Unter diese Gewaltform fällt auch das neu auftretende Happy Slapping. Hierbei wird eine Person angegriffen und bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen oder vergewaltigt. Mittäter filmen diese Gewalttat mit dem Handy und lassen das Opfer dann einfach liegen.

Psychische Gewalt

Die Bedrohung oder Verletzung erfolgt hierbei auf psychischer Ebene. „Hierzu zählen z. B. Drohungen, Erpressungen, Demütigungen oder das systematische Ignorieren der Bedürfnisse und Wünsche einer Person. Zur psychischen Gewalt zählen auch Stalking, Mobbing und Diskriminierungen“.

Ökonomische Gewalt

„Ökonomische Gewalt umfasst alle Handlungen, bei denen eine Person durch wirtschaftliche Mittel unter Druck gesetzt oder in Abhängigkeit gehalten wird. Hierzu zählen z. B. das Vorenthalten von finanziellen Mitteln, das Verhindern von Berufstätigkeit oder das Anwenden von Gewalt im Rahmen von wirtschaftlichen Beziehungen“.

Sexuelle Gewalt

„Sexuelle Gewalt umfasst alle Handlungen, die gegen den Willen einer Person ausgeübt werden und deren sexuelle Integrität verletzen. Hierzu zählen z. B. Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, sexuelle Belästigung oder das Anfertigen von Bild- und Tonaufnahmen ohne Einwilligung“.

Beim Happy Slapping geht es nicht nur darum, dem Opfer körperliche oder sexuelle Gewalt anzutun, sondern gleichzeitig das Opfer zu demütigen und dies per Videoaufzeichnung festzuhalten und zu veröffentlichen. Dadurch wird diese neue Gewalttat unter Cypermobbing gefasst.

Der Begriff bedeutet übersetzt „fröhliches Schlagen“. Kann es sein, dass durch diese Begriffsverwendung die Schwere der Gewalttat genommen wird, denn es wird eine Fröhlichkeit und somit Spaß suggeriert, wo es um brutalste Gewalt bis zur Bewusstlosigkeit geht und um absolute Demütigung?

Täter teilen die Videoaufzeichnungen in sozialen Netzwerken, wie Instagram, Snapchat und laden es bei YouTube hoch. Dies ist für das Opfer noch beschämender und demütigender, da viele Personen über die Medien sich die Gewalttat an dem Opfer ansehen. So werden sie zu medialen Zuschauern und somit auch zu einer Art Mittäter, besonders wenn sie sich auch noch darüber lustig machen und das Opfer verspotten. So erlebt das Opfer noch mehr Gewalt, auch durch einen größeren Personenkreis und mediale Aufmerksamkeit.

Die Täter hingegen empfinden es so, dass sie durch die mediale Aufmerksamkeit noch mehr Anerkennung für ihre Tat, die eigentlich als Gewalttat bezeichnet werden müsste, erhalten. Doch ihre Gewalttaten werden als Taten bezeichnet so wie Heldentaten.

Dies sollte von der Gesellschaft direkt unterbunden und nicht mit Anerkennung belohnt werden. Die Videos sollten geblockt und nicht geteilt werden, alle sollten sich weigern, diese anzusehen, und sich geschlossen hinter das Opfer stellen. Das Opfer sollte Anerkennung erhalten, dafür, dass es die Gewalttat ausgehalten hat und für den Umgang damit.

Die Täter sollten bestraft und nicht bejubelt werden. Zudem sollte mit ihnen gearbeitet werden, damit sie diese Gewalttaten nicht weiter ausüben (vgl. Redaktionsnetzwerk Deutschland, 2017).

Warum entwickelt sich unsere Gesellschaft in eine Richtung, bei der Gewalttaten gefilmt, veröffentlicht und die Opfer lächerlich gemacht werden, und in der Gewalttaten nicht mehr als Gewalttaten gelten, sondern als lustig angesehen werden, die Spaß machen? Warum werden Opfer der Gewalttat noch verhöhnt und diffamiert?

Mobbing wird international als bullying bezeichnet. „Es geht um Opfer-Täter-Beziehungen, bei denen unterlegene Personen dauerhaft gequält und drangsaliert werden. Dabei sind die Methoden des Mobbings vielfältig: Körperliche und verbale Attacken gehören ebenso dazu wie indirekte Strategien (z. B. Ausschluss aus der Gruppe, Gerüchte verbreiten)“ (Klewin und Tillmann, 2006, S. 193).

Motive und Persönlichkeiten von Tätern – Persönlichkeiten mit Drang nach Beachtung und Aufmerksamkeit

Können Kinder und Jugendliche in der Schule nicht den gewünschten Verhaltens- und Leistungsnormen an sie entsprechen, kann es sein, dass sie durch Gewalthandlungen oder abweichendes Verhalten Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen. So erhalten sie auf diesem Weg die gewünschte Anerkennung und die Selbstbestätigung. In Familien, Peergroups und Schulgemeinschaften entsteht der soziale Prozess der Anerkennung. Die Interaktion aller sozialen Kontakte entscheidet über Anerkennung oder Missachtung, die somit entscheidend für die psychische Stabilität von Personen sind. Starke Persönlichkeiten können sich argumentativ Gehör verschaffen und sich durchsetzen und erarbeiten sich somit Anerkennung und Respekt.

Durch Selbstkontrolle, Disziplin, Konsequenz kann jede Person eine Affektkontrolle ausbilden, die zu einer stabilen Persönlichkeit gehört. Personen, denen nur Gewalt bleibt, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, haben ein sehr schwach ausgebildetes Selbstkonzept. Sie sind weniger in der Lage, sich selbst und ihre Emotionen zu regulieren und mit Misserfolgen umzugehen. Dadurch ist es sehr wichtig, dass sie an ihrer Persönlichkeit arbeiten und es durch Unterstützung schaffen, ein stabiles Selbstkonzept und Selbstwertgefühle zu entwickeln. So wird sich ihr Leben positiv verändern und sie werden die Aufmerksamkeit der Menschen erhalten und beliebt werden (vgl. Klewin und Tillmann, 2006, S. 198f.; Helsper, 2006, S. 211f.; Stangl-Affektkontrolle, 2023; Stangl-Affektregulation, 2023).

Täter werden in unserer Gesellschaft leider oft heroisiert, also wie Helden gesehen. Sie werden als starke und coole Persönlichkeiten anerkannt, die bejubelt werden. Leider finden einige Taten Nachahmer, die dann auch diese Art der Aufmerksamkeit für sich beanspruchen wollen. Es sind oft Persönlichkeiten, die einen Drang nach Beachtung haben und diese Aufmerksamkeit der Gesellschaft ansonsten nicht erhalten. Die Sehnsucht nach Beachtung, Beliebtheit und Jubel sorgt für die Gewalttat. Durch diese Tat haben die Täter die volle Aufmerksamkeit.

Jeder kennt sie, jeder redet über sie. Sie sehen das volle Scheinwerferlicht auf sich gerichtet und genau danach sehnen sie sich so sehr. Endlich stehen sie im Mittelpunkt, werden beachtet und wahrgenommen.

In den Medien ist eine Diskussion entstanden, wie Täter dargestellt und ob ihre Namen genannt werden sollen oder nicht, um gerade dieser Heroisierung und der Nachahmung entgegenzutreten (vgl. Ehrenberg, 2019; Tagesschau, 2009; Bundesministerium der Justiz, 2023; Mandel und Planitzer, 2021, S. 43). Die Partnerschaft für Demokratie Hanau hat die deutschlandweite Kampagne „#SayTheirNames“ gestartet. Sie nennen die Namen der Opfer und zeigen ihre Gesichter. Dadurch werden die Opfer in den Fokus gerückt und nicht der Attentäter. Dies zeigt schon eine Veränderung der Darstellung der Opfer und Täter in der Gesellschaft (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren und Jugend).

Narzisstische Persönlichkeiten

Täter sind auch oft narzisstische Persönlichkeiten, die nicht mit Zurückweisung und Kritik umgehen können. Im Vordergrund steht für sie, die Bewunderung und Aufmerksamkeit der anderen zu erhalten. Sie brauchen ständiges Lob und Komplimente. Alle müssen sich ihnen und ihren Bedürfnissen und Wünschen unterordnen. Dafür nutzen sie ihre Mitmenschen schamlos aus. Bei den kleinsten Äußerungen, die sie als Kritik oder Ablehnung auffassen, rasten sie extrem aus, da sie in ihrer Selbstverliebtheit mit keinerlei Zurückweisung umgehen können. Leistungen und Erfolge von anderen Personen entwerten sie und setzen diese Person komplett herab, um sich selbst wieder aufzuwerten, in den Mittelpunkt zu spielen, die Beliebtheit zu erhalten und die Leistung der anderen Person wird nicht mehr wahrgenommen.

Der krankhafte Narzissmus weist sehr zerstörerische Züge auf. Narzisstische Persönlichkeiten haben oft ein schwach ausgebildetes Selbstkonzept, das bei den kleinsten Äußerungen schwankt und infrage gestellt wird. Dies können sie nicht kompensieren und wenden Gewalt an. „Passiert das, ziehen sie sich nicht etwa traurig zurück, sondern sie sehen rot. Sie neigen zu Wutausbrüchen und sehen in der Regel keinen Anlass, den lieben Frieden zu wahren. In der Psychologie nennt man diesen Charakterzug „sozial unverträglich“. Typischerweise sind Narzissten zudem sehr extrovertiert – das ergibt mitunter eine explosive Mischung“ (Hartmann, 2023).

Die narzisstische Persönlichkeitsstörung zeigt sich laut Diagnostischem und Statistischem Manual psychischer Krankheiten (DSM-5)

  1. Die Person hält sich für grandios wichtig.
  2. Sie ist stark eingenommen von Fantasien von Erfolg, Macht und Schönheit.
  3. Sie glaubt einzigartig und besonders zu sein und nur von ebenso angesehenen und erfolgreichen Menschen verstanden zu werden.
  4. Sie verlangt nach übermäßiger Bewunderung.
  5. Sie hegt ständig Ansprüche auf eine Sonderbehandlung.
  6. Sie nutzt andere zum Erreichen ihrer eigenen Ziele aus.
  7. Es fehlt ihr an Empathie: Die Gefühle und Bedürfnisse der Mitmenschen werden nicht gesehen.
  8. Die Person ist oft neidisch auf andere oder glaubt umgekehrt, andere neiden ihr ihren Erfolg.
  9. Sie benimmt sich arrogant und überheblich.

Für die Diagnose müssen mindestens fünf der neun Kriterien erfüllt sein“ (Hartmann, 2023).

Persönlichkeiten, geleitet vom Machtmotiv

Fühlen sich Täter unterlegen, setzen sie Gewalt ein, um die Machtverhältnisse wieder für sich herzustellen. „Die Aggression tritt oft als Reaktion auf eine wirkliche oder auch nur scheinbar drohende Minderung der eigentlichen Macht in Erscheinung“ (Stangl-Aggression, 2023).

Damit kehren sie die argumentative Unterlegenheit um. Und durch ihre Beleidigungen oder körperliche Gewalt haben sie aus ihrem Blickwinkel wieder die Macht über den Menschen und sind diesem damit aus ihrer Sicht wieder überlegen. Machtmotivierte Persönlichkeiten brauchen das Gefühl der Überlegenheit, dies zeigen sie auch gerne durch die körperliche Präsenz, gerade bei Gewalttaten. Dabei sind sie vom Machtmotiv angetrieben und brauchen es, sich stark und einflussreich zu fühlen. Aus Angst vor Kontroll- und somit Machtverlust weiten sie gerne ihren Machtbereich immer mehr aus. Persönlichkeiten mit Kontrollverlustangst haben das Gefühl, dass ihnen Informationen nicht mitgeteilt werden und die Mitmenschen dies machen, um ihren Machtbereich zu begrenzen und sie somit zu entmachten. Dadurch sind sie sehr damit beschäftigt, ihre eigenen Schwächen und Minderwertigkeiten zu vertuschen.

Die Gewalttat der Täter zeigt ihre labile Persönlichkeit, Identitätskrisen, ihre geringe Sozialisation, ihr niedriges Selbstkonzept, ihre Empathielücke, fehlendes Mitgefühl, fehlende soziale Interaktion, fehlende Argumentations- und Durchsetzungsfähigkeit und in einigen Fällen sogar das Fehlen jeglicher Menschlichkeit. Um Minderwertigkeitsgefühle und Unterlegenheit zu überspielen, nutzen diese Persönlichkeiten das Machtstreben als Hauptantrieb. Übersteigerter Geltungstrieb, Minderwertigkeitsgefühle und eine misslungene Anpassung an die Gesellschaft können im Erwachsenenalter zu seelischen Problemen führen (vgl. Stangl-Machtmotiv, 2023; StanglMachtstreben, 2023; Stangl-Emotionale Labilität).

Gewalt bedeutet, immer Macht über einen Menschen haben zu wollen, diesen herabsetzen und erniedrigen zu wollen. Die Täter haben dadurch das Gefühl, stärker als das Opfer zu sein und somit auch mehr wert zu sein. Darüber hinaus geht es noch um den Drang, jemanden zu verletzen, Schaden zuzufügen und diesen leiden zu sehen. „Aggression ist die Bezeichnung für jene Verhaltensweise, mit denen die direkte oder indirekte Schädigung eines Individuums, meistens eines Artgenossen, intendiert wird. Als Steigerungsform der Aggression kann die Destruktion angesehen werden; Aggression ist auf Schädigung, Unterdrückung oder Ablehnung der Eigentätigkeit oder Eigenart des anderen, Destruktion auf Vernichtung und Zertrümmerung gerichtet“ (zitiert nach Stangl-Aggression, 2023 vgl. Dietrich und Walter, 1972, S. 18).

Im schlimmsten Fall haben diese Täter noch Vergnügen daran und belächeln ihre Gewalttaten. Dies setzt das Opfer noch mehr herab. Für die Täter wird das Opfer nur noch als Objekt für ihre Gewalttaten gesehen. Die Täter sprechen dem Opfer jede Form des Subjektseins ab. Somit werden ihre Taten immer unmenschlicher, da sie das Opfer nicht mehr wie einen Menschen wahrnehmen, sondern nur noch wie einen Gegenstand. Von da an empfinden die Tä- ter kaum noch Respekt, Mitgefühl und Empathie für ihre Opfer. Ab diesem Moment werden die Gewalttaten in der Herabsetzung oder auch in der körperlichen Gewalt immer brutaler. Die Aggression „... kommt darum an allen vitalen Brennpunkten zum Vorschein, vor allem im Rahmen der sozialen Beziehungen, und zwar als Kampf, Eroberung, Bemächtigung, Unterdrückung und Vernichtung, sodann aber auch im Rahmen der sexuellen Beziehungen, und zwar als Lust an der Grausamkeit, als Lust an der Zufügung von Schmerz (Sadismus)“. (zitiert nach Stangl-Aggression, 2023, vgl. Dorsch und Traxel, 1963, S. 7).

Jede Grenze des Opfers wird überschritten und nicht mehr ernst genommen. Ganz schlimm wird es für das Opfer, wenn die Gesellschaft sich auch über diese Gewalttat lächerlich macht und das Opfer deformiert. Dadurch wird für das Opfer die Gewalttat noch schlimmer und kaum zu ertragen.

Präventive Maßnahmen gegen Gewalttaten als gesellschaftliche Aufgabe

Die Gesellschaft und die staatlichen Institutionen sollten die Opfer vor den Tätern schützen, denn nur dadurch können sie wieder in Freiheit leben. Täter isolieren ihre Opfer und sorgen für ein eingeschränktes Leben voller Angst, Panik und Verzweiflung. Dies muss unbedingt vonseiten der Gesellschaft und staatlicher Institutionen durchbrochen werden. Die Freiheit zu „Leben“, die Täter dem Opfern genommen haben, muss ihnen unbedingt zurückgegeben werden.

Daran muss nicht nur das Opfer arbeiten, sondern auch die Familien, Bekannten, Opferhilfsorganisationen, staatliche Institutionen und die Gesellschaft. Was Täter dem Opfer antun, wird somit Aufgabe des Staates und der ganzen Gesellschaft.

Die Gesellschaft kann durch eine richtige Sicht auf das Opfer und das richtige Verhalten dazu beitragen, dass der Umgang der Gewalttat für das Opfer besser anzunehmen, damit umzugehen und einen Weg zu finden, damit zu leben, und wieder vertrauensvoll, hoffnungsvoll und glücklich in die Zukunft zu blicken, ermöglicht und erleichtert wird.

Die Gesellschaft sollte also die Opfer tragen und nicht die Täter in ihren Gewalttaten bestärken und es für das Opfer somit unerträglich machen. Deshalb sollten präventiv Gewalttaten durch gezielte Maßnahmen verhindert werden, damit es erst gar nicht zu Opfern und Tätern kommt (vgl. Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen, 2019; Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben, 2017).

Die Opfer benötigen Selbstregulierungsmechanismen, die sie automatisch abrufen können; deshalb sollten ihnen diese vermittelt werden. Die Resilienz, das Urvertrauen und ein starkes Selbstkonzept sind hilfreich, um den Umgang mit der Gewalttat zu finden, damit zu leben, wieder ein glückliches, offenes Leben zu führen und weiterhin Vertrauen zu Menschen und Institutionen zu haben (vgl. Melzer, Schubarth und Ehninger, 2006, S. 221ff.; Helsper, 2006, S. 211f.; Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen, 2019; Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben, 2017).

Diese präventiven Maßnahmen sollten von frühester Kindheit bis zum Seniorenalter angeboten und umgesetzt werden. Deshalb sollten sie fest im Schulalltag verankert werden, denn so lernen schon kleine Kinder die richtige Einstellung zu Menschen und Gewalt, wenden diese nicht an, schreiten bei Gewalttaten ein und helfen. Sie lernen einen sicheren Umgang mit Gewaltsituationen, ohne sich dabei selbst in Gefahr zu bringen, und entwickeln somit eine gute Wahrnehmung der Einordnung von Gewalttaten.

Wie sollte ich mich bei Gewaltsituationen verhalten?

  1. In die Auseinandersetzung eingreifen, die Gewalt unterbrechen (verbale Aufforderung, Dazwischengehen)
  2. Sich einen Überblick über die Lage verschaffen (Beteiligte und Zeugen feststellen)
  3. Opferhilfe leisten (Erste Hilfe, seelischer Beistand)
  4. Signale an Täter geben (Täterschaft feststellen, Konsequenzen verdeutlichen)
  5. Unterstützung holen (von Schülern oder Lehrkräften)
  6. Zuschauende wegschicken (Störungen durch andere vermeiden)
  7. Konfliktparteien beruhigen (räumliche Trennung, Gefühle äußern lassen, nach Vorfall erkundigen)
  8. Konflikte aufarbeiten (Konfliktverlauf klären, Lösungen erarbeiten)
  9. Konsequenzen ziehen (auf Vereinbarungen hinarbeiten, Strafen abwägen, Mediation, Täter-Opfer-Ausgeich, Lernprozesse für Täter initiieren)

(Melzer, Schubarth u. Ehninger, 2006, S. 224)

Die Quellenhinweise können Sie bei der Autorin anfordern.

Sina Guettaf
Sportwissenschaftlerin, Pädagogin und freiberufliche Autorin

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