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Vom Leben und der Endlichkeit

Auf unserer Lebensreise gibt es in vielen Bereichen immer wieder Kreise, die sich schließen und neu öffnen – sei es der Schulabschluss, die Berufsausbildung, eine neue Partnerschaft, Freundschaft etc.
Wenn sich ein Kreis schließt, ist das ein Symbol für einen Neuanfang und Erneuerung. Es ist die Möglichkeit, Platz zu schaffen, um neue Erfahrungen zu machen, neue Wege zu gehen und neue Ziele zu erreichen.
Und wer hat nicht auch schon einmal das Wort endlich verwendet?
„Endlich ist Feierabend! Endlich steht der langersehnte und wohlverdiente Urlaub an! Endlich habe ich dies oder jenes erledigt!“

Die Bedeutung von endlich wird im Wörterbuch als „das Ende einer als lang empfundenen Wartezeit“ beschrieben. Reisen wir einmal an den Beginn unseres Lebens zurück.

Wenn Sie Kinder haben, dann denken Sie gerne noch einmal an die Geburt Ihres Kindes oder Ihrer Kinder zurück. An den ersten Schrei, den ersten Atemzug, mit dem Ihr Kind und auch wir selbst auf diese Welt gekommen sind. Und mit unserem letzten gehen wir wieder von ihr. Und es bleibt ein Geheimnis, wie viele Atemzüge wir in unserem Leben geschenkt bekommen.

Am Ende allen Lebens geht es immer um die Endlichkeit. Möglicherweise die einzige todsichere Vereinbarung, mit der wir hier auf die Erde kommen. Dass wir eines Tages mit einem letzten Atemzug unser jetziges Leben beenden und sich der Kreis für dieses Leben schließt.

Der Tod eines lieben und nahestehenden Menschen ist für die Hinterbliebenen mit vielen unterschiedlichen Emotionen und Gefühlen verbunden. Trauer, Dankbarkeit, Ungewissheit, Hoffnungen, Ängsten, Prägungen u. v. a.

Plötzlich ist da ein leerer Platz. Kein Wort, das mehr gewechselt werden kann. Keine Umarmung mehr möglich oder was auch immer wir mit diesem Menschen geteilt haben. Von einem auf den anderen Moment alles nicht mehr greifbar – zumindest auf physischer Ebene.

Was bleibt, sind Erinnerungen und Erlebnisse aus Bildern, Tönen, Gerüchen, Farben, Formen oder einem Geschmack. Sowie möglicherweise Gegenstände oder andere Dinge, die uns mit dem oder der Verstorbenen verbinden.

All das könnte auch gleichzeitig eine Einladung vom Leben sein, seine eigene Endlichkeit in den Fokus zu rücken. Sich zu reflektieren und mit dem Sinn des Lebens auseinanderzusetzen. Oder sein Leben vielleicht noch ein wenig bewusster zu gestalten. Möglicherweise auch mit seinen Mitmenschen liebevoller umzugehen. Sich wirklich für ihr Leben zu interessieren, sich mit ihnen in einem Gespräch auszutauschen und sie zu fragen, was sie bewegt, was sie über dies oder jenes denken und fühlen.

Die Endlichkeit lädt dazu ein, uns selbst neu zu entdecken, wiederzufinden, neue Pfade zu beschreiten, Veränderungen zuzulassen und anzunehmen, um wahrhaftig zu leben. Das Leben bis zum Tod zu genießen – Atemzug für Atemzug. Denn wir werden das Geheimnis unserer Lebenszeit niemals lüften.

Was denken Sie? Würden Sie Ihr Leben bewusster gestalten, intensiver leben, wenn Sie um das Geheimnis Ihrer Lebenszeit wüssten? Wenn ja, was würden Sie anders machen?

Die Endlichkeit lenkt den Fokus bewusst auf das Wesentliche. Auf das, worauf es im Leben wirklich und wahrhaftig ankommt. Doch wie lange wirken diese Erkenntnisse oder Vorsätze tatsächlich für unser eigenes Leben nach, wenn wir dann mit dem Tod eines nahestehenden Menschen konfrontiert wurden?

Wenn sich der Lebenskreis schließt, darf Heilung geschehen

Der bevorstehende Tod eines nahestehenden Menschen kann durchaus eine sehr intensive und transformierende Erfahrung für beide Seiten sein. Manchmal geht es auch darum, alte Wunden zu heilen und Frieden mit Menschen und Ereignissen zu schließen. Wie kommt man an solch einen Punkt? Wie kann es gelingen?

Zunächst einmal ist es wichtig, sich selbst zu vergeben und Verantwortung für die eigenen Handlungen zu übernehmen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir Menschen in jedem Moment genau so handeln, wie es uns in diesem Moment möglich ist. Könnten wir es anders, würden wir es wohl auch anders tun. Sich selbst zu vergeben, mag anfangs schwer sein und gleichzeitig ist es der erste notwendige Schritt, um weiterzukommen und aufeinander zuzugehen.

Im Anschluss gilt es dann, Vergebung von anderen zu suchen und ihnen gegenüber ehrlich zu sein. Bitte keine Schuldzuweisungen. Es geht hier um Eigenverantwortung. Das erfordert Mut und Demut, aber es kann uns helfen, Frieden mit unseren Beziehungen und unserer Vergangenheit zu schließen. Schließlich sollten wir uns auf das Hier und Jetzt konzentrieren und unsere Energie darauf richten, unser Leben in positive und bewusste Bahnen zu lenken. Wenn wir uns auf das Positive konzentrieren und unsere Vergangenheit nicht nur akzeptieren, sondern wertfrei annehmen, können wir den Kreis endgültig schließen und in ein neues Kapitel hineingleiten.

Im Gegenwärtigen das Vergangene schätzen und damit nach vorne blicken

Der Tod eines geliebten Menschen kann sich anfühlen wie eine Sackgasse, die kein Vorwärtskommen ermöglicht. Ein Gefühl der Lähmung, des Stillstandes. Dieser Moment könnte aber auch sehr wertvoll sein. In der Stille, im Stillstehen nochmals auf das Leben des oder der Verstorbenen zurückzublicken. Aus dem gegenwärtigen Moment in die Vergangenheit reisen, kann den Trauerprozess heilsam unterstützen.

Sich in Liebe, Dankbarkeit und Wertschätzung von diesem Menschen zu verabschieden. Mit all dem, was für einen selbst stimmig ist. Und im ganz eigenen Tempo. Denn der Trauerprozess ist so individuell wie der Mensch auch. Und dafür gibt es auch keine Gebrauchsanleitung. Alles hat und jeder braucht seine Zeit.

Es ist immer eine Herausforderung, dem Tod zu begegnen und ihn vor allem anzunehmen nach dem Motto: „Es ist, wie es ist (Punkt).“ In diesem Fall ist es unwiederbringlich und endlich. Vielleicht sogar die größte Herausforderung, mit der wir Menschen im Leben konfrontiert werden, wenn jemand über den Regenbogen gegangen ist.

Es erfordert Mut und Entschlossenheit, sich seinen facettenreichen Gefühlen zu stellen, hindurchzugehen und zu heilen – mit all dem, was dazugehört.

Und gleichzeitig wird uns dies aus dem Stillstand und der gefühlten Sackgasse zurück auf unseren eigenen Lebensweg bringen – zurück ins Leben, ins Hier und Jetzt.

Warum der Verlust von Liebsten so schwerfällt

Der Verlust von den Liebsten und nahestehenden Menschen ist, wie schon erwähnt, eine der schwierigsten Erfahrungen, die wir im Leben machen. Es fühlt sich oft an, als ob ein Teil von uns selbst mit ihnen gegangen ist und wir uns nie wieder vollständig fühlen werden. Vielleicht mag auch die Frage aufkommen: „Warum jetzt? Wieso er oder sie?“

Oder auch das plagende Gewissen, nicht mehr Zeit miteinander verbracht zu haben. Der Schmerz kann überwältigend sein und es schwer werden lassen, weiterzumachen.

Aber es gibt auch etwas, das wir aus dem Verlust lernen können. Wenn wir uns daran erinnern, was diese Menschen uns gegeben haben. Wie wertvoll das Leben und das Miteinander war. Und wie sie unser Leben bereichert haben. All das können wir als Erinnerungen in unseren Herzen bewahren und aus ihrem Vermächtnis schöpfen. Indem wir uns an ihre Liebe erinnern und uns auf das Positive konzentrieren, können wir durch den Schmerz hindurchgehen und gestärkt daraus hervorgehen.

Die Kraft des Loslassens

Jeder Abschied ist mit Loslassen verbunden, was auch schwerfallen kann. Vor allem dann, wenn man an etwas klammert und es festhält – aus Angst vor der bevorstehenden Veränderung oder der Unsicherheit, wie es weitergeht.

Doch genau in diesen Momenten ist es wichtig, die Kraft des Loslassens zu nutzen und sich auf das Neue einzulassen. In kleinen Schritten, so wie es der Moment zulässt. Denn schließlich darf und sollte unser Leben ja auch weitergehen. Ich glaube kaum, dass der Verstorbene oder die Verstorbene es gewollt hätte, dass wir unglücklich weiterleben und ewig trauern.

Oft hört man auch, dass die Gesichter der Verstorbenen stets einen sehr friedlichen und sanften Ausdruck haben. Wenn man die Möglichkeit hatte, sich diesen letzten Augenblick in seinem Herzen zu bewahren, kann auch dies Trost spendend sein. Ein liebevoller Abschied mit einem friedlichen Anblick und Augenblick.

Die Gemeinschaft trägt

In schwierigen Zeiten ist es besonders wichtig, eine starke Gemeinschaft um sich zu haben oder zu wissen. Freunde und Familie können uns dabei helfen, uns aufzurichten, und uns in dieser Zeit vielfältig unterstützen. Sei es mit kraftvollen und tröstenden Worten. Sei es mit einem offenen Ohr und einem „Ich bin für dich da!“ oder einer Umarmung. Es kann in solchen Zeiten aber auch schwierig sein, um Hilfe zu bitten.

Es ist keine Schwäche, um Unterstützung zu fragen – im Gegenteil: Es zeugt von Stärke und Mut. Zusammen können Herausforderungen leichter gemeistert werden. Doch gleichzeitig muss jede und jeder für sich ganz alleine durch diesen Prozess.

Wenn Sie einer Religion angehören, kann vor allem der Glaube an Gott, an den Schöpfer oder eine andere Gottheit dabei helfen, heilend und gestärkt durch den Trauerprozess zu gehen.

Kraftquelle Dankbarkeit

Eines der wichtigsten Geschenke, die wir von unseren Liebsten lernen können, ist Dankbarkeit. Danke zu sagen, dass es sie gegeben hat. Denn beispielsweise ohne unsere Eltern oder Großeltern würde es uns nicht geben. Sich dies bewusst zu machen, wie viel Glück wir haben, dass es diese Menschen gab. Dass wir uns in diesem Leben begegnet sind und einen Teil unseres Lebenswegs miteinander gehen durften. Dankbarkeit für all die kleinen Dinge zu empfinden, die diese Menschen für uns getan haben oder gewesen sind. Denn oftmals sind es die kleinen und feinen Dinge und Gesten, die uns eine tiefe Erinnerung und Verbundenheit schenken.

Kraftquelle Erinnerungen

Ich erinnere mich noch sehr genau daran, als ich zum ersten Mal mit dem Tod in Kontakt kam. Mein Opa ist über den Regenbogen gegangen, als ich 12 Jahre alt war. Ich sehe mich noch heute bei der Trauerfeier in der Kirche sitzen. Wie ich den Erzählungen des Pfarrers lauschte, als er über das Leben und Wirken meines Opas berichtete. Damals staunte ich nicht schlecht, was ich alles erfahren habe, was ich überhaupt gar nicht wusste. Im Nachhinein bedauerte ich es, dass ich meinen Opa nicht viel mehr „ausgefragt“ hatte.

Und so fing ich an, meine Oma über ihr Leben zu interviewen und so viel es nur ging über sie zu erfahren. Das ist mir geblieben. Ich nutze jede sich mir bietende Gelegenheit, so viel wie möglich über das Leben meiner Eltern, mir nahestehender und liebevoller Menschen zu erfahren. Es dürfen nicht nur die eigenen Eltern sein, sondern möglichst viele Menschen, die einem am Herzen liegen und wichtig sind. Denn ich bin mir sicher, dass wir dadurch noch näher miteinander in Kontakt kommen. Auch uns selbst noch besser verstehen lernen und die gegenseitigen Erinnerungen dadurch intensiviert und gestärkt werden.

Manche mögen denken oder sagen, dass es vielleicht ein wenig leichter ist, mit dem Abschied klarzukommen, wenn ältere Menschen gehen als wenn Kinder gehen, die noch ihr ganzes Leben vor sich gehabt hätten. Jeder hat seine ganz persönliche und begrenzte Lebenszeit hier auf Erden. Und eins ist klar – egal wie alt oder jung: Es ist ein Mensch, der einen leeren Platz im Hier und Jetzt hinterlässt und auf einen anderen Platz wechselt – in die Herzen der Menschen, die bleiben und ihn fest in liebevoller Erinnerung behalten.

Kraftquelle Liebe

Mit Liebe, bedingungslos und gütig, sollte sich der Kreis am Ende immer schließen. Sowohl für die Hinterbliebenen als auch für die, die gegangen sind. Unsere Liebsten mögen nicht mehr bei uns sein, aber ihre Liebe lebt stets in uns weiter. Begleitet uns auf Schritt und Tritt. Teilen wir diese Liebe dann noch mit anderen Menschen, so kann Antoine de St. Exupérys Zitat nichts mehr hinzugefügt werden:

„Die wahre Liebe
verausgabt sich nicht.
Je mehr du gibst,
umso mehr verbleibt dir.“

Wenn wir einen geliebten Menschen verlieren, scheint die Welt für einen Moment stillzustehen. Wir fühlen uns leer und hilflos. Doch mit der Zeit beginnen wir zu erkennen, dass der Verlust uns auch eine wichtige Lektion lehrt.

Wir lernen, dass das Leben kurz und kostbar ist und dass wir jeden Moment schätzen sollten. Wir lernen, dass es wichtig ist, unsere Beziehungen zu pflegen und unsere Gefühle auszudrücken, solange wir noch können. Der Verlust erinnert uns daran, dass das Leben unvorhersehbar ist. Dass wir uns immer wieder liebevoll daran erinnern dürfen, im Hier und Jetzt zu leben.

Wenn wir uns diese Lektionen zu eigen machen und in unser Leben integrieren, können wir den Verlust unserer Liebsten als Chance und Geschenk sehen, unsere Lebenszeit intensiv und bewusst so zu leben, dass es sich stimmig anfühlt, statt unbewusst unglücklich.

Ich möchte am Ende ein Zitat von Meister Hora aus dem Buch Momo mit Ihnen teilen. Verbunden mit dem Wunsch, dieses als Wegbegleiter für Ihre Lebenszeit im Gepäck zu haben. Sich immer wieder daran zu erinnern und zu verinnerlichen.

„Wenn die Menschen wüssten, was der Tod ist, dann hätten sie keine Angst mehr vor ihm. Und wenn sie keine Angst mehr hätten, dann könnte niemand ihnen mehr die Lebenszeit stehlen.“

Simone Hauswald
Dipl.-Mentalcoach (CH), Biathlon-Weltmeisterin und
-Medaillengewinnerin bei Olympischen Spielen

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