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„Warum bin ich so, wie ich bin?“

Eine Einführung in die Psychodynamik seelischer Erkrankungen!

Theorien und Modelle, die die Entstehung von psychischen Erkrankungen erklären oder beschreiben wollen, sind mannigfach vorhanden. Je nachdem, welcher psychologischen Schule man angehört, wird man sich der Frage nach der Entstehung psychischer Erkrankungen unterschiedlich annähern. Verhaltenstherapeuten sehen die Ursachen für Probleme in maladaptiven oder dysfunktionalen Lernvorgängen, während systemische Therapeuten das soziale Umfeld eines Klienten (immer m/w/d) als Ursache der seelischen Problematik ansehen und der Klient in ihren Augen lediglich als Symptomträger fungiert. Zu diesen beiden Therapieformen kommen verschiedene psychoanalytische und tiefenpsychologische Ansätze hinzu, womit man die Entstehung seelischer Erkrankungen sowie die Aufrechterhaltung dysfunktionalen und destruktiven Verhaltens erklären kann.

Die beiden Fachrichtungen Psychoanalyse und Tiefenpsychologie werden häufig unter dem Namen Psychodynamische Therapien geführt, um sich klar von der Verhaltenstherapie und der systemischen Therapie abzugrenzen.

In diesem Artikel wird auf das Kernstück des psychodynamischen Krankheitsverständnisses eingegangen, genauer gesagt auf die Bildung und Aufrechterhaltung von unbewussten inneren Konflikten und deren Auswirkung auf das Erleben und Verhalten des Betroffenen. Hierzu muss erwähnt werden, dass im weiteren Verlauf nur auf die klassische Konfliktpathologie eingegangen wird und die differentialdiagnostischen Unterschiede wie Konfliktpathologie vs. Stressmodell, Konfliktpathologie vs. Traumatisierung und Konfliktpathologie vs. Strukturpathologie keine Erwähnung finden.

Neben der Konfliktpathologie als Ursache pathogener Muster werden nämlich in der psychodynamischen Therapie darüber hinaus Beeinträchtigungen im Bereich der strukturellen Fähigkeiten (in Anlehnung an Freuds Strukturmodell der Psyche) sowie Traumafolgen als Ursachen genannt (Mentzos, 2013).

Um die auf Konflikt- und Abwehrvorgängen basierende Psychopathologie in angemessener Tiefe durchdringen zu können, muss man sich im Vorfeld mit zwei Grundlagentheorien genauer beschäftigen.

Das topographische Modell
(Freud, 1915)

 

Das grundlegende Modell für das psychodynamische Krankheitsverständnis ist das topographische Modell nach Freud, in dem zwischen Bewusstem, Vorbewusstem und Unbewusstem unterschieden wird.

Das Bewusste bezieht sich auf Phänomene, die jederzeit abrufbar sind, d. h. im Bewusstsein präsent sind. Hierzu zählen alle bewusst erfassten Wahrnehmungen und Gedanken. Nach der freudschen Theorie macht das bewusste Denken und Handeln nur einen Bruchteil menschlicher Interaktion aus.

Das Vorbewusste bezieht sich auf Erlebnisse und Erinnerungen, die wir uns bewusst machen können, wenn wir uns darum bemühen (daher von Josef Breuer auch als das Bewusstseinsfähige bezeichnet).

Das Unbewusste umfasst all diejenigen Erlebnisse, die zwar in unserem Gedächtnis gespeichert sind, aber unter normalen Umständen nicht ins Bewusstsein geholt werden können.

Sehr häufig handelt es sich dabei um verdrängte, oft unangenehme Erinnerungen (z. B. erlebte Traumata) oder unerlaubte Affekte, die mit Trieben (z. B. Sexualtrieb) einhergehen. Häufig werden diese Impulse seitens des Individuums abgewehrt, sind aber dennoch vorhanden und bleiben aktionsfähig, was bedeutet, dass diese unbewussten Anteile durchaus Einfluss auf das aktuelle Verhalten und Erleben haben können. So kann man mittlerweile das Vorhandensein und die Bedeutung unbewusster Prozesse nicht mehr anzweifeln, weil zahlreiche Ergebnisse der Hirnforschung aus den letzten Jahrzehnten (vgl. hierzu Gekle, 2008; Rankin, 2014) dieses Modell bestätigen.

Da das Unbewusste einen sehr großen und das Bewusste einen sehr kleinen Anteil unserer Persönlichkeit darstellen, wird dieses Modell oft als Eisberg dargestellt. Das Bewusste symbolisiert den aus dem Wasser herausragenden Teil, das Vor- und Unbewusste die im Wasser liegenden Teile des Eisbergs (s. Abb.).

Das topographische Modell nach Freud (1915)
(https://pixabay.com/de/vectors/eisberg-eisburg-eis-gletscher-2070977/)

Zentrales Ziel der Psychoanalyse ist es, diese unbewussten Bedürfnisse, Wünsche, Impulse, Erinnerungen oder Prägungen dem Klienten bewusst zu machen. Für den Zugang zu den unbewussten Anteilen stehen den Therapeuten verschiedene Methoden (sog. Diagnostika) zur Verfügung wie das Traumprotokoll, die hypnotische Regression, die freie Assoziation, das Arbeiten am kreativen Unbewussten (z. B. mithilfe des Lieblingsmärchens) oder auch die Anwendung von projektiven Verfahren (z. B. Rorschachtest).

Exkurs: Anwendung von Märchen in der Psychotherapie

Neben der Anwendung von (standardisierten) projektiven Verfahren (z. B. FTT Märchentest bei Kindern und Jugendlichen; Coulacoglou, 2003) kann man auch im Gespräch mit dem Klienten Märchen als Vermittler zwischen den unbewussten Anteilen und dem bewussten Erleben verwenden. Diese Methode setzt viel Hintergrundwissen des Therapeuten zu Märchen und ihren Inhalten voraus, z. B. in welche Kategorie das besprochene Märchen generell eingeteilt wird (Erziehungs-, Beziehungs- oder Entwicklungsmärchen).

In Erziehungsmärchen wie „Hänsel und Gretel“ oder „Aschenputtel“ wird sehr häufig die Mütterlichkeit, das Abkapseln von der Mutter oder auch das Verhältnis zu Geschwistern thematisiert. Solche Märchen werden häufig von Klientinnen in der Praxis genannt, die ein dysfunktionales, fast toxisches Verhältnis zu ihren Müttern haben (z. B. Mütter lassen ihre Töchter von Geburt an spüren, dass sie ohne sie nicht lebensfähig sind und lassen Abkapselungsprozesse seitens der Kinder nicht zu. Die Folge ist ein Konflikt zwischen der Abhängigkeit und dem Autonomiestreben bei den Kindern).

Ferner kann der Klient aufgefordert werden, ein alternatives Ende für sein Lieblingsmärchen zu entwerfen, oder man erfragt, ob er bereits in Träumen o.ä. alternative Szenarien erlebt hat. Ein solches Vorgehen entspricht dann der Arbeit am kreativen Unbewussten.

Das Strukturmodell der Psyche
(Freud, 1923)

Nach jahrelangen therapeutischen Erfahrungen konzipierte Freud zusätzlich zum topographischen Modell das sog. Strukturmodell der Psyche, das aus drei psychischen Instanzen besteht, dem Es, dem Ich und dem Über-Ich, die in einer Wechselbeziehung miteinander agieren (Abb. 2).

Abb. 2.: Das Strukturmodell nach Freud (1923)
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Freud_Ich.svg

Es liegt dabei im Unbewussten, dem weitaus größten Teil des Seelenlebens, und ist der Repräsentant der angeborenen Triebe, Wünsche und Bedürfnisse. Diese Instanz arbeitet nach dem sog. Lustprinzip. Freud bezeichnete diesen Bereich der menschlichen Psyche als den ,,dunklen, unzugänglichen Teil unserer Persönlichkeit“ bzw. als ,,ein Chaos, einen Kessel voll brodelnder Erregungen“. Das Es ist seit der Geburt vorhanden und ist z. B. an den angeborenen Bedürfnissen eines Säuglings, die auf sofortige, kompromisslose Befriedigung ausgerichtet sind, zu erkennen (Hunger, Nähe, Schlafen).

Sein Gegenspieler, das Über-Ich, reift dagegen durch Erziehung und kulturelle Normen zu einer moralischen Instanz, dem Gewissen, heran. Die Kinder eifern den Eltern oder anderen wichtigen (engen) Bezugspersonen (z. B. Großeltern, Erziehern) nach, daher internalisieren sie deren Werte und Normen zunächst, ohne sie zu hinterfragen. Nach Freuds Vorstellung besteht das Über-Ich aus dem eher negativ besetzten Gewissen und dem positiven Ich-Ideal. Ein sehr dominantes Über-Ich kann z. B. Symptome wie Minderwertigkeitskomplexe oder Schuldgefühle beim Betroffenen auslösen.

Zwischen den Triebwünschen des Es und den Normen des Über-Ichs steht das Ich – die Verkörperung des Realitätsprinzips. Es vermittelt zwischen den beiden anderen Instanzen sowie zwischen der Innen- und Außenwelt. Es koordiniert die Instanzen, plant das Verhalten und steuert Erinnerungsprozesse. Das Ich ist auch der Sitz der Vorstellungen über die eigene Person (Selbstbild) und steht im kontinuierlichen Austausch mit Anforderungen der Umwelt.

Das Es fordert ständig die Befriedigung der eigenen Triebe ein, vergleichbar einem quengelnden Kleinkind, während das Über-Ich wie ein Oberlehrer auf die Einhaltung der Werte und Regeln pocht. Das Ich muss bei diesen Konflikten – die völlig normal und jedem von uns bekannt sind (z. B. der Wunsch, sich auszuruhen vs. den Abwasch zu erledigen) – dahingehend vermitteln, dass es zu einer mit der eigenen Umwelt zu vereinbarenden und für alle drei Instanzen akzeptablen Lösung kommt (z. B. zügig abwaschen und danach ausruhen). Es gibt aber auch intrapersonelle Konflikte, die zu Krankheitssymptomen und seelischem Leid führen können. Symptome eines solchen Konfliktes, also einer Konfliktpathologie, sind z. B. Phobien, Neurosen oder Panikattacken.

Die Psychodynamik seelischer Erkrankungen

Um die Herangehensweise der Psychodynamik verstehen zu können, stellt man am besten kurz die unterschiedlichen Möglichkeiten der Ursachenforschung bzw. Symptombehandlung gegenüber. Eine Patientin klagt über selbstverletzendes Verhalten, Aggressionen gegenüber ihrem Partner und dysfunktionale Gedanken (z. B. Minderwertigkeitsgefühle), also Symptome, die häufig als ich-dyston, unangenehm, unlustbetont und schmerzhaft empfunden werden. Dennoch kann sie diese nicht abstellen. Jetzt gibt es verschiedene therapeutische Herangehensweisen.

Ein Psychiater wird davon ausgehen, dass die Symptome neurobiologisch, physiologisch determiniert sind, und wird dementsprechend mit hoher Wahrscheinlichkeit eine medikamentöse Behandlung vorschlagen. Das Symptom wird dadurch verschwinden, der Auslöser bleibt aber vorhanden. Ein Verhaltenstherapeut geht davon aus, dass die Symptome das Ergebnis verfehlter Lernvorgänge sind, die man mit geeigneten Methoden wieder verlernen kann.

Ein Tiefenpsychologe bzw. ein Psychoanalytiker geht primär von der Existenz des Unbewussten aus und dass die Symptome durch innere, unbewusste Konflikte (es könnte auch eine Strukturpathologie oder auch ein „psychoanalytisches“ Trauma vorliegen, diese Phänomene werden aber im Folgenden nur rudimentär erläutert) bedingt sind. Daher können Symptome nach diesem theoretischen Konzept als a) Kompromiss zwischen Triebimpuls und Abwehr (z. B. Piercings und Tattoos stechen lassen, als leichte, aber gesellschaftliche akzeptierte Form der Selbstverletzung); b) als direkte Triebentladung (z. B. aggressive Handlung gegen sich selbst) oder c) als reiner Abwehrmechanismus (z. B. Aggression gegenüber anderen Personen = Verschiebung) gesehen werden.

Wie entsteht nun ein innerer unbewusster Konflikt? Anhand des Psychodynamischen Modells zur Entstehung von seelischen Erkrankungen wird die Genese dysfunktionalen Verhaltens sowie belastender Erlebenszustände erläutert (Abb. 3).

Abb. 3.: Psychodynamisches Modell zur Entstehung von seelischen Erkrankungen, eigene Darstellung

Äußere Konflikte entstehen durch die fehlende Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse. Je nach Theorie werden in der Forschung unterschiedliche Bedürfnisse genannt. Gängige Motive sind das Bedürfnis nach Bindung und Zuwendung, nach Selbstwertschutz, nach Kontrolle und Orientierung sowie nach Lustgewinnung und Unlustvermeidung (Grawe, 2004). Die Gefährdung oder Frustration dieser Impulse, Bedürfnisse und Motive (z. B. die Verweigerung von Zuwendung) kann mit starken Affekten beim Betroffenen wie Wut, Hass, Neid, Ekel, Scham, Angst etc. einhergehen. Da diese Affekte häufig nicht ausgelebt werden können (vgl. die im Über-Ich angesiedelte moralische Vorstellung „Ich kann/darf meine Mutter nicht hassen.“), wird aus dem äußeren Konflikt ein innerer, pathogener, oft dauerhafter Konflikt, der Psychoanalytiker spricht in diesem Fall von einer Neurose.

Klassische Konflikte sind z. B. symbiotische Verschmelzung vs. Subjekt-Objekt-Differenzierung oder dyadische vs. triadische Beziehung (Mentzos, 2013). Da die kontinuierliche Anwesenheit solcher Konflikte das Ich in seiner Funktion behindern würde, werden diese Impulse durch den Abwehrmechanismus der Verdrängung in das Unbewusste verschoben und somit verinnerlicht, also zu einem inneren Konflikt. Neben der Entstehung von inneren, mit der Verdrängung dann unbewussten Konflikten können auch durch eine Nichtbefriedigung oder sogar durch eine Traumatisierung in kritischen Perioden der Kindheit schwere Schädigungen des Selbst und des Strukturniveaus („Entwicklungsstörung“ des seelischen Apparats = eine Strukturpathologie) auftreten.

Jeder dieser pathogenen Konflikte, der lange Zeit im Unbewussten schlummern mag, kann in spezifischen Lebenssituationen des Klienten durch einen Auslöser reaktualisiert werden und in dieser Aktualisierung symptomwertige Zustände generieren. Aktualisierung heißt, dass eine bisher bestehende innere Balance zwischen Konfliktspannung einerseits und Abwehrhaltung andererseits (zwischen strukturellen Defiziten einerseits und Bewältigungsstrategien andererseits oder zwischen traumabedingten inneren Spannungen und ihren Verarbeitungsstrategien) in einer aktuell zugespitzten Lebenskonstellation labilisiert wird.

Für Konflikte und Traumata bedeutet das, dass die dahinterliegenden Bedürfnisse, Triebe und Affektspannungen herausbrechen und auf aktuelle Beziehungen und Lebenslagen Einfluss nehmen. Im Falle einer strukturellen Störung handelt es sich eher um eine Überforderung bzw. um den Zusammenbruch der Fähigkeit zur Selbst- und Beziehungsregulierung der Ich-Instanz. In dieser Phase finden häufig Abwehrmechanismen Anwendung, um die „feindlichen Einfälle des Es ins Ich“ (Freud, 1936, S. 25) zu vermeiden. Je nachdem, wie das Strukturniveau entwickelt ist, können weitere reifere oder unreifere Abwehrmaßnahmen angewendet werden. Diese Abwehrmaßnahmen des Ichs oder stellenweise auch ungefilterte Triebentladungen führen zu dysfunktionalen Verhaltensmustern und/oder zu wiederholt situativ unangemessenen starken Affekten gegenüber Mitmenschen oder auch gegenüber sich selbst (z. B. selbstverletzendes Verhalten, Zwangshandlungen).

Im therapeutischen Setting gibt es viele Möglichkeiten, diese unbewussten, inneren Konflikte oder Muster zu identifizieren, zu differenzieren und später auch zu verarbeiten. Eine bewährte Interventionsmethode dabei ist die Arbeit am oder im Übertragungs- und Gegenübertragungsprozess.

Übertragung und Gegenübertragung sind Phänomene, die immer, wenn Menschen miteinander interagieren, auftreten. Gemeint ist damit, dass alte Erfahrungen in zwischenmenschlichen Beziehungen und Bindungen, alte Gefühle, Erwartungen, Fantasien, Wünsche und Ängste in aktuellen Beziehungen reaktiviert werden. Wichtig ist, dass es sich bei der Übertragung um einen unbewussten Vorgang handelt. Dabei überträgt der Klient auf den Therapeuten Gefühle, Motive oder Triebe, die eigentlich einer früheren Bezugsperson gelten (z. B. pathogene Beziehungsdynamiken, die sein Leiden verursacht haben), aber nicht dem aktuellen Interaktionspartner selbst. Im Grunde verwechselt der Klient unbewusst die Personen im Hier und Jetzt mit den Personen der Vergangenheit.

Bei der Gegenübertragung geht es um die Reaktion des Therapeuten auf die Übertragung der betroffenen Person, also die Gefühle, die das Übertragungsverhalten der betroffenen Person beim Interaktionspartner in der Regel auslösen würde, und das daraus resultierende Verhalten. Dieser Vorgang setzt hohe fachliche Kompetenz des Therapeuten voraus (z. B. die Deutungskompetenz, ein für die Therapiesituation unangemessenes Verhalten des Klienten als Übertragung zu erkennen und professionell darauf zu reagieren) und auch das Wissen über eigene unbewusste Konflikte, „Triebwünsche“ und Anteile, damit eigene Übertragungen auf die Klienten verhindert werden (Eigenübertragung) oder man nicht persönlich betroffen in der Gegenübertragung agiert. Denn bei der Übertragung werden im Interaktionspartner alte Erfahrungen und Beziehungsmuster reaktiviert, die dessen objektive Wahrnehmung trüben. Daher ist der Einsatz von professioneller Supervision (als Selbsterfahrungsphase) aus psychologischer Sicht sinnvoll, um den Therapeuten die Reflexion ihrer Arbeit und die Bewusstwerdung von möglichen Eigenübertragungen zu ermöglichen.

Ein konkretes Beispiel aus der Praxis

Zum Abschluss möchte ich das therapeutische Vorgehen mit einem Beispiel veranschaulichen. Frau B., 21 Jahre, kommt mit selbstverletzendem Verhalten in die Praxis. Nach einem ausführlichen Explorations- und Anamnesegespräch sowie der durchgeführten Diagnostik (Rorschachtest) geht der Therapeut davon aus, dass in der Klientin ein starker ungelöster Loyalitätskonflikt vorherrscht. Sie hatte eine intensive sexuelle Affäre mit dem Freund ihrer Schwester (vor sechs Monaten; die Affäre ging über vier Wochen). Bisher konnte sie mit dieser Situation gut leben, da sie wenig Kontakt zur Schwester hatte. Aber jetzt hatten sie wieder häufiger Kontakt und seitdem trat bei Frau B. das selbstverletzende Verhalten auf. Wie ist das psychodynamisch zu erklären?

Frau B. ist zur damaligen Zeit den Trieben und Bedürfnissen des Es nachgekommen (Liebe, Anerkennung, sexuelles Begehren usw.). Die Impulse des Über-Ichs (Schuldgefühle, Scham, Gewissensbisse) waren nicht stark ausgeprägt bzw. wurden durch das Ich verdrängt („Meine Schwester merkt es sowieso nicht.“). Trotzdem war der innere Konflikt vorhanden (Verdrängung).

Durch den engeren Kontakt zur Schwester und deren Erzählungen, dass sie eine glückliche Beziehung führe und die Treue ihres Partners schätze (Auslöser), wurde die Klientin in einen akuten pathogenen Konflikt gestürzt (Reaktualisierung des inneren Konflikts). Die „unreife“ Ich-Instanz war mit der Situation überfordert und konnte keine rationale Lösung finden, um das Problem zu lösen. Die Psyche bediente sich einer direkten Abwehrreaktion, des Ritzens (als Form der Selbstbestrafung), gegenüber den Impulsen des Über-Ichs, um somit für eine kurzfristige Entlastung der Ich-Instanz zu sorgen.

Die Arbeit des Psychoanalytikers bzw. des Tiefenpsychologen besteht dann darin, mit der Klientin zu erarbeiten, warum sie das Wagnis eines Verhältnisses eingegangen ist, um die Entstehung der Konfliktpathologie aufzuarbeiten.

Die Quellenverweise können Sie beim Autor anfordern.

Dr. phil. Alexander Prölß
Psychologe, Heilpraktiker für Psychotherapie,
Beratungsrektor für Psychologie

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