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Kinder der Kriegskinder

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2014-01-Kriegs2Bombenhagel auf Hannover. 70 Jahre ist es her. Am 9. Oktober 1943 wurde die Stadt über Nacht in Trümmer gelegt. Danach war nichts mehr wie zuvor, die Bewohner traumatisiert. Kann das Trauma unserer Eltern und Großeltern sich bis in unser Leben auswirken? Prägen die Erfahrungen der Kriegsgenerationen unsere Gegenwart?

Das Thema „Kinder der Kriegskinder“ ist derzeit brandaktuell. Warum? Darüber habe ich mit Armin Rathmann, Heilpraktiker für Psychotherapie, Dozent und systemischer Familientherapeut aus Sehnde gesprochen. Hert(z)lichen Dank!

Herr Rathmann, „Kinder der Kriegskinder“. Wer ist damit gemeint?

Als „Kinder der Kriegskinder“ bezeichnet man die Nachfahren der Kinder, die im Krieg auf die Welt gekommen sind und diese schrecklichen Geschehen und Ereignisse miterlebt haben. Also, wir im Grunde – dazu gehöre auch ich – die Nachfolgegeneration der Kriegskinder, die Jahrgänge von 1955 bis ungefähr 1972 bis 1975.

Diese Generation ist vom Krieg selbst nicht betroffen und auch ihre Eltern waren damals häufig so klein, dass sie sich nicht an den Krieg erinnern. Können die Erlebnisse, die Kriegserlebnisse der Eltern, sich trotzdem bis in die Gegenwart auswirken?

Ja, das weiß man heute. Wie genau das geschieht, weiß man noch nicht. Da ist die Forschung noch dran. Aber man weiß, dass es so etwas gibt wie einen „Generationstransfer“, durch den die Erlebnisse und Erfahrungen der Generationen an die nächstfolgende Generation weitergegeben werden. Man muss sich das so vorstellen: Der Mensch lebt im Grunde auf der Basis der Erfahrungen seiner Vorfahren. Er ist das einzige Lebewesen auf dieser Welt, das sich im Bewusstsein weiterentwickeln kann. Und das kann er nur, weil er von den Erlebnissen der Vorfahren profitiert, indem er für sich sortiert, was ist nützlich und was ist nicht nützlich, was ist sogar behindernd oder schädigend für mein eigenes Leben.

Warum ist das Thema „Kinder der Kriegskinder“ so brandaktuell?

Es ist gerade aktuell, weil die Zeit einfach drängt. Es gibt nur noch wenige Zeitzeugen und wenige Überlebende dieser Zeit. Wir Nachfahren, also wir Kriegsenkel sozusagen, müssen diese Geschichten kennen. Teilweise wurden sie uns nie erzählt, weil die Eltern von ihren Eltern angehalten worden sind, das Schreckliche zu vergessen, es nicht zu benennen und in ihren Erinnerungen einfach auszulöschen – was aber nicht möglich ist – und diese Geschichten sind enorm wichtig.

Warum müssen wir die Geschichten kennen?

Zum Einem, damit sich das, was geschehen ist, nicht wiederholt und wir immer daran erinnert werden, was da Schreckliches passiert ist. Und zum Anderen ist es wichtig zum Abschiednehmen, wenn die Eltern die Erde verlassen. Dazu gehört es, dass wir Dankbarkeit entwickeln – und Dankbarkeit kann sich nur entwickeln, wenn wir lernen, die Eltern zu verstehen. Also, zu verstehen, warum sie so sind oder so geworden sind, wie sie sind, was uns nicht immer gut getan hat. Aber, wenn wir lernen, was die Eltern durchgemacht und durchlitten haben, wird dieses Verständnis größer und dann kann sich auch Dankbarkeit entwickeln. Sodass wir den Eltern dafür danken können, dass sie so viel durchlebt und durchlitten haben und am Leben geblieben sind, damit sie uns auf die Welt bringen konnten.

Welche traumatischen Erfahrungen der Kriegskinder wirken sich bis zu den eigenen Kindern aus?

Also, traumatische Erfahrungen wirken sich generell auf die nachfolgende Generation aus. Ich werde es mal kurz erklären am Beispiel: Da gab es doch diesen Probealarm. Jeden Samstag um 12 Uhr heulten die Sirenen bei uns im Dorf ... und immer, wenn es kurz vor 12 Uhr war, ging meine Mutter irgendwo in Deckung, sie war nicht mehr zu sehen, weil sie sich immer an diese Luftangriffe in Berlin erinnert hat. Sie war jedes Mal verschwunden, danach wirkte sie immer wie verstört und es dauerte eine Weile, bis sie wieder zu sich kam. Und dann kamen die ersten Kassettenrekorder auf den Markt und ich nahm mein Lieblingslied auf: „The Sweet Block Buster“. Wie man weiß, beginnt es mit einem Sirenengeheul. Die Batterien waren neu, ich konnte gut Lautstärke fahren und meine Mutter bekam dieses Sirenengeheul mit. Was passierte? Sie riss die Tür meines Zimmers auf und vermöbelte mich mit dem Kleiderbügel, weil sie genau an dieses Thema erinnert worden war. Ich habe es damals nicht verstanden, warum sie auf mich eindrosch! Später, im Laufe meiner eigenen Erfahrung und der Aufarbeitung meiner Geschichte, wurde mir klar, dass ich in ihr dieses Trauma wiedererweckt hatte. Und die damals aufgestaute Hilflosigkeit hat sich in Form von Aggression gegen mich entladen.

Das Leben mit traumatisierten Eltern ... Was macht das mit den Kindern heute? Mit unserer Generation?

Es gibt ja verschiedene Varianten, wie ein Kind das aufnimmt und wie es weiterlebt. Zum Beispiel könnte es selber gewalttätig werden oder es wird sehr ängstlich und fürchtet sich vor Menschen, die diese hohe Aufladung in sich tragen. Also, es wird sensibel gegenüber Menschen, die innerlich so aufgeladen sind. Die zwar selber nicht spüren, dass sie gewaltbereit sind, aber das ausstrahlen.

Wenn ich jetzt aber die Schleife weiterführe, das heißt, man kann ja dann über unheimlich viele Generationen immer wieder Traumata weitergeben und Traumata weiter leben...

Ja. Und das ist genau die Erklärung für das, was wir „Mehrgenerationstransfer“ nennen. So wird es weitergegeben. Von Generation zu Generation, bis eine Generation es schafft, diesen Mechanismus zu durchbrechen.

Mit welchen Schwierigkeiten haben die „Kinder der Kriegskinder“ jetzt zu kämpfen?

Ja, das Eine haben wir schon angesprochen: Das war „Angst“ und „Gewalt“. Das Andere, was noch sehr wichtig ist, und eigentlich das größte Leiden verursacht, ist „Schuld“. Und zwar nennen wir das „Überlebensschuld“.

Das ist die Schuld, die wir in uns tragen, weil wir es einfach besser haben, als unsere Eltern. Denn wir sind nicht in diesen Kriegsgeschehen aufgewachsen, wir haben nicht dieses durchlebt und durchlitten, wie unsere Eltern. Es geht uns einfach „zu gut“. Und dafür fühlen wir uns schuldig.

Woran kann ich jetzt erkennen, ob die Probleme, die ich habe, „meine eigenen“ sind, oder ob sie eigentlich „zu meinen Eltern gehören“?

Dazu gehört, dass ich mir meine eigene Geschichte einfach anschaue: In Form von Psychotherapie oder in psychotherapeutischen Gruppen oder in Beratungsgesprächen oder wie auch immer. Man kann Familienforschung betreiben oder die eigenen Eltern befragen, was sie durchlebt und durchlitten haben. Um dann zu spüren: Was trage ich da in mir? Und: Was behindert mich im Leben? Und: Was ist mir nützlich im Leben? Ich muss das unterscheiden lernen.

Bei welchen Symptomen muss ich aufmerksam werden?

Wenn ich Schuldgefühle meinen Eltern gegenüber entwickele. Ich habe immer das Gefühl gehabt, ich muss meinen Eltern etwas „zurückgeben“, ich muss etwas „gut machen“, etwas ausgleichen für das, was sie nicht in ihrem Leben machen konnten, was sie nicht erreichen konnten, was sie verabschieden mussten. Viele Kinder üben heute Berufe aus, die sie gar nicht machen wollten. Das liegt einfach daran, dass sie den Wunsch der Eltern aufgenommen haben und dann die Berufe ausüben, die eigentlich die Eltern machen wollten, aber aufgrund der Kriegsgeschehnisse eben nicht erlernen konnten. Da ging es nur ums Überleben. Da blieb die Selbstverwirklichung einfach auf der Strecke.

Was gilt es zu tun? Wie kann den „Kindern der Kriegskinder“ und gegebenenfalls auch ihren Eltern geholfen werden?

Wie ich schon gesagt habe, man muss sich mit der eigenen Geschichte befassen. Man muss auch den Mut haben, die Eltern zu fragen. Als Kinder waren wir zu klein und hätten die Geschichten der Eltern nicht verstanden. Heute sind wir erwachsen genug und haben innere Stabilität erarbeitet, sodass wir das Leid in den Berichten auszuhalten können. Und das ist das, was auch den Eltern hilft. Sie können jetzt das Erlebte an die nachfolgenden Generationen weitergeben und sind sicher, die werden das Leid jetzt aushalten. Die werden uns verstehen und auch nicht mehr in Groll sein, weil wir ihnen eben nicht das geben konnten, was sie gebraucht hätten. Denn, die haben ja selber nichts bekommen. Nur was der Mensch bekommen hat, kann er weitergeben. Und wenn da nichts war, dann gibt er auch nichts weiter.

Welche therapeutischen Möglichkeiten bieten Sie Menschen, die unter der Kriegsvergangenheit ihrer Eltern leiden, in Ihrer Praxis an?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die ganz individuell für die jeweiligen Betroffenen anzuwenden sind. Das Eine ist auf jeden Fall die „Familienforschung“, dass sich die Betroffenen aufmachen, diese Geschichten in Erfahrung zu bringen. Und das Andere ist, diese hohe energetische Aufladung, die sie in sich tragen, über körpertherapeutische Maßnahmen zu einer Entladung zu führen. Eine gute Möglichkeit ist auch die Meditation, diese „innere Schau“: Wo trage ich Stressfaktoren in mir? Wo bin ich energetisch aufgeladen? Und wo und wie kann ich sie „abfließen“ lassen?

Was ist nötig, damit die Seelen der „Kinder der Kriegskinder“ und die der „Kriegskinder“ heilen können?

Am Ende meiner Vorträge weise ich immer auf die Wichtigkeit hin, Verständnis für die Eltern zu entwickeln.

Für das, was sie durchlebt und durchlitten haben. Und, dass wir diese Geschichten auch würdigen und in Ehren in uns tragen. Denn sie sind der Nährboden für unser weiteres Leben. Und, dass man sich anschauen muss: Wo habe ich noch Groll auf meine Eltern? Wo bin ich in einer aufopferungsvollen Pflege meinen Eltern gegenüber – hervorgerufen durch immense Schuldgefühle? Wie kann ich das verändern? Sodass auf beiden Seiten ein Verständnis entsteht. Und, dass man auch die Grenzen wahrnimmt: Was kann ich leisten? Was ist unmöglich zu leisten? Jeder kann dazu beitragen, die betroffene Generation und auch die Nachfolgegeneration. Wenn wir uns da in ein verständnisvolles Feld bewegen, dann kann man den Frieden spüren und der ist so wichtig. So wichtig, dass die Eltern dann auch in Frieden von dieser Welt gehen können. Und das ist mein Anliegen: Dass wir diesen Frieden finden! Denn ich selbst habe es erlebt und konnte meine Eltern in Frieden verabschieden. Und das ist so ein wohliges Gefühl, dass ich all das, was ich in mir getragen habe an Mangel und Entbehrungen, nicht weiter mit mir herumschleppe. Denn über dieses Vergeben ist es einfach nicht mehr da. Und dann kann man die Eltern gehen lassen – ohne, dass man noch viele Worte dafür finden muss.

Buchtipp
Anne-Ev Ustorf: „Wir Kinder der Kriegskinder – Die Generationen im Schatten des Zweiten Weltkriegs“, Herder-Verlag

Armin Rathmann Gast
Armin Rathmann
Heilpraktiker für Psychotherapie, Dozent, systemischer Familientherapeut
Peiner Straße 13, 31319 Sehnde
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Sonja KohnModeratorin
Sonja Kohn
Heilpraktikerin, Dozentin, freie Redakteurin
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