Das seelische Leid eines hyperaktiven Kindes
Martin – Eine Fallstudie
Frau M. sucht meine Beratung wegen ihres 10-jährigen Sohnes Martin auf. Zu diesem Zeitpunkt zeigt sie sich völlig verzweifelt und hilflos und weiß einfach keinen Ausweg mehr im Umgang mit ihrem Kind.
Bereits als Kleinkind fiel Martin „aus dem Rahmen“. Er schrie Nächte durch, sträubte sich gegen Körperkontakt und es gab große Schwierigkeiten, zunächst mit dem Stillen und dann mit der Folgeernährung. Beim Saugen und Essen war Martin immer so zappelig und hektisch, dass viel danebenging und er mehrmals am Tag umgezogen werden musste. Zu dieser Zeit entstanden auch die ersten Probleme innerhalb der Ehe, da beide, Vater und Mutter, sich mit den Nerven am Ende fühlten.
Martin krabbelte nicht, robbte aber eine Zeit lang über den Fußboden, und als er sich schließlich an Gegenständen hochziehen konnte, riss er Tischdecken herunter, stieß Dinge um und registrierte keine Grenzsetzungen und Gefahren. „Er war von Anfang an nicht zu bremsen!“, beschrieb Frau M. ihr Kind.
Für Herrn und Frau M. war es zu keiner Zeit möglich, kontinuierlich mit Martin zu spielen. Er interessierte sich für all seine Spielsachen nur kurzfristig, nichts schien seine Wahrnehmung zu sammeln, er war schnell frustriert und schrie. Mit 15 Monaten konnte Martin laufen, jedoch begann nun der Schrecken mit den Stürzen. Bis heute ist Martin unfallgefährdet, da er Risiken kaum einschätzen kann und auch kein Gefühl für seine Kompetenzen und Grenzen zeigt.
Als Martin 4 Jahre alt wurde, erleichterte es Frau M., dass ein Kindergartenplatz für ihn zur Verfügung stand. Doch wieder verwandelte sich die anfängliche Erleichterung in Sorgen und Ärgernisse.
Im Kindergarten fiel Martin dadurch auf, dass er beim Stuhlkreis störte, herumlief, einfach etwas in den Kreis rief, andere Kinder anrempelte oder haute und auch nicht zuhören konnte, wenn die Kindergärtnerin etwas vorlesen wollte. Überhaupt zeigte er sich ziemlich unsensibel und aggressiv gegenüber den anderen Kindern, haute sie oftmals im Vorbeigehen, warf deren Gebautes um, konnte sich nicht mit anderen Kindern kontinuierlich im Spiel bewegen, sondern lief eher ziellos und unruhig umher. Zudem war er sehr unselbstständig. Das Anziehen gelang ihm kaum ohne Hilfe, er fand seine Sachen nicht wieder und Arbeitsanweisungen sowie Erklärungen, z. B. die Kinder sollen sich in der Turnhalle treffen, verstand Martin nicht und kam ihnen deshalb nicht nach.
Die Beschwerden der Erzieherinnen nagten schwer am Selbstbewusstsein von Frau M., sie und ihr Mann machten sich immer häufiger Vorwürfe, was sie falsch gemacht haben könnten.
Schließlich wies eine Anerkennungspraktikantin, die ihr Jahr im Kindergarten absolvierte und Martin mit betreute, darauf hin, dass sie glaube, dass Martin ADHS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit Hyperaktivität) haben könnte. Frau M. hatte sich niemals zuvor mit diesem Phänomen auseinandergesetzt, ging aber auf Anraten der Praktikantin zum Kinderarzt und hatte dort ein längeres Gespräch wegen Martins Problematik.
Der Arzt konnte eine ADHS-Problematik nicht ausschließen und deshalb wurde Martin zum Neurologen überwiesen, wo ein EEG durchgeführt wurde. Das EEG zeigte leichte Abweichungen, der Arzt konnte aber nicht zu einer eindeutigen Diagnose kommen. Beim Anhalten der Problematik empfahl der Neurologe ein „Medikament gegen die Unruhe“.
Frau M. wehrte jedoch zunächst ab. Geprägt von der Tablettenabhängigkeit ihrer Mutter, mochte sie ihrem Kind keine „bewusstseinsverändernden Medikamente“ geben. Immer noch hatte sie die Hoffnung, dass mit der Schule alles besser würde.
Martin wurde mit fast 7 Jahren eingeschult. Doch statt einer Verbesserung der Problematik zeigte sich eher eine Verschlimmerung der Situation. Martin folgte dem Unterricht nicht, störte im Klassenverband und flog deshalb häufig hinaus. Bei den Schularbeiten vermochte er sich nicht zu konzentrieren, außerdem waren seine graphomotorischen Fähigkeiten sehr beschränkt. Überhaupt hatte er viele Probleme, das Schreiben, Lesen und Rechnen zu erlernen. Die 2. Klasse wiederholte Martin.
Zum Zeitpunkt der Förderung ist Martin 10 Jahre alt und besucht die 3. Klasse, hat aber noch viele der genannten Defizite. Frau M. fühlt sich durch die vielen negativen Berichte der Klassenlehrerin überfordert und nervlich selbst bereits am Ende. Als Martin das Klassenziel wieder nicht zu erreichen droht, sucht sie die Beratung in der Lernpraxis auf.
Der Leidensdruck entsteht jedoch nicht nur daraus, dass sie selbst mit ihren Kräften am Ende ist und ihre Ehe gefährdet sieht, sie macht sich genauso um Martin Sorgen, dessen Selbstwertgefühl sehr gering ist und der teilweise unter depressiven Verstimmungen leidet. Hinzu kommt, dass er kaum Freunde hat und zu Kindergeburtstagen nicht eingeladen wird.
Dabei versucht Martin häufig, sein Verhalten zu ändern, und ist bemüht, doch meistens gelingt es ihm nicht aus eigener Kraft. Da Martins Schulerfolg gefährdet ist und sich viele Entwicklungsprobleme zeigen, empfiehlt sich eine Kombination aus Spiel- und Lernförderung sowie die weitere Rücksprache mit dem Kinderarzt in Bezug auf eine ergotherapeutische Behandlung, der für 10 Sitzungen zugestimmt wird.
In den Spiel- und Lernstunden steht im Mittelpunkt, Martins Selbstbewusstsein zu stärken und die Wahrnehmung zu schärfen, einige Lernziele der 3. Klasse werden in die Sitzungen einbezogen. Die folgenden Berichte sollen jedoch im Schwerpunkt aufzeigen, wie sehr Martin bereits in den ersten Stunden seine seelischen Nöte mitteilt. Die Kinder werden oft nach ihrem Störungsverhalten beurteilt, doch Hilfe kann nur wirklich greifen, wenn ihre Gefühlswelten berücksichtigt werden.
Die erste Stunde mit Martin
„Hallo Martin, ich freue mich dich kennenzulernen”, ich reiche ihm die Hand.
„Niemand freut sich, mich kennenzulernen“.
Martin lässt sich auf den großen Sitzsack fallen, verschränkt die Arme und schaut mit verkniffenem Blick auf den Boden. „Du glaubst, viele freuen sich nicht darauf, mit dir Bekanntschaft zu machen, warum sollte das so sein? Willst du mir dazu was sagen?“
Ich knie mich vor ihm auf den Boden, lasse ihn nicht zu sehr in Distanz gehen. „Weil ich ein Idiot bin!“ Ich versuche die Situation etwas zu lösen. „Ja wirklich? Die habe ich mir ganz anders vorgestellt. Ich dachte, da hat doch gerade ein ziemlich munterer Junge meinen Raum betreten. Was macht denn für dich einen Idioten aus? Pass mal auf, ich habe hier eine Reihe Masken, vielleicht findest du eine, die das ausdrückt, was du meinst.“
Martin löst sich aus der Starre. „Mensch jeder weiß, was ein Idiot ist“, er geht auf die Masken zu, nimmt eine nach der anderen und schleudert sie dabei in die Ecke. „Oh Mann, was sind denn das für Dinger?“, stöhnt er, „die sehen ja alle wie Idioten aus!“ Wir müssen beide lachen, Martin nimmt die Halbmaske eines Räubers und sieht klasse damit aus. Im Spiegel bewundert er sich, freut sich, dass der Übergang zum Gesicht so echt aussieht. „Die will ich gleich mal meiner Mutter zeigen!“ Er probiert noch andere Masken aus, setzt sich mit diesen aufgeregt in Szene. Dann lässt er die letzte fallen und hüpft auf dem Sitzsack herum. Ich mache mir etwas Sorgen um diesen und hole eilig aus dem Nebenraum ein Trampolin. Martin springt vom Sack und auf das Trampolin: „Nun kann ich bis in den Himmel springen!“ Auf einmal springt er mir entgegen, ich kann ihn kaum halten. „Hilfe!“, rufe ich, „bin ich der Himmel?“ Martin lacht. „Ja, hier ist der Himmel!“ Er nimmt die blaue Decke, schmeißt sie übers Regal, um einen blauen Himmel zu bauen. „Du hast tolle Ideen Martin!“ „Nun bin ich im Himmel!“ Er sammelt die Masken ein und schmeißt sie hoch, ich muss ihn um Vorsicht bitten. Er möchte eine der Masken mitnehmen, das geht aber nicht, ich schlage ihm vor, selbst eine zu basteln und zeige ihm die Vorlage. Hektisch und mit wenig Konzentration pinselt er Wasserfarbe auf seine Maske, doch über das Ergebnis ist er sehr beeindruckt. „Ich sehe da total cool mit aus, ich bin ein Himmelsteufel!“ Ein sehr widersprüchlicher Begriff, denke ich und beobachte Martin, wie er fröhlich seine Maske in Szene setzt. Auf einmal steht seine Mutter in der Tür: „Es scheint dir ja Spaß gemacht zu haben! Du siehst ja erschreckend aus mit der Maske“. Martin lacht mit seiner Mama und sagt: „Ja klar, ich bin ja auch der Himmelsteufel und hier ist der Himmel!“
Martin zeigt in dieser ersten Stunde sehr negative Erwartungen, sein mangelndes Selbstwertgefühl und sein unstrukturiertes Verhalten werden deutlich. Er beobachtet meine Reaktionen sehr genau, ich merke, wie verletzlich sein Inneres ist und wie wichtig es sein wird, ihm Erfolgserlebnisse zu vermitteln. Dass er die Umgebung als Himmel und sich selbst als Himmelsteufel bezeichnet, schließt ein, dass er sich seiner zerstörerischen Kräfte bewusst ist, dennoch scheint er unsere erste Begegnung positiv erlebt zu haben, worüber ich mich sehr freue.
Die zweite Stunde
Martin bringt heute einige Textaufgaben mit, die er noch rechnen muss, weil er es in der Schule nicht erledigen konnte. „Die muss ich noch machen, weil ich es nicht hinbekommen habe!“, sagt er trotzig. „Mmm, klar diese Dinge musst du erledigen, was ist dir daran so schwer gefallen?“ „Die anderen haben mich geärgert, sie haben gesagt, ich bin doof und nicht normal und kann nichts, da habe ich den Sven mit der Federmappe beschmissen, er hat sie an den Kopf gekriegt und geweint, ich musste ins Lehrerzimmer und dort eine ganze Stunde alleine bleiben.”
Ich seufze für Martin: „Du hast dich bestimmt ungerecht behandelt gefühlt, weil dich der Sven und die anderen vorher geärgert haben?“ Für mich völlig unerwartet weint Martin plötzlich los, der ganze Körper bebt, seine Nase läuft und ich gebe ihm ein Taschentuch, das er nicht benutzt und in der Hand zerknüllt. Er ist emotional total erregt und verletzt. „Jetzt mag mich Frau Janzen (seine Lehrerin) auch nicht mehr! Oh Scheiße!”, sagt er plötzlich, „nur Mädchen weinen, so was Blödes!“ „Ah ja“, sage ich, „der Sven ist also auch ein Mädchen?“ Martin schaut mich an, er heult und lacht gleichzeitig. „Oh Mann, warum sagst du solche Sachen, dann muss ich lachen!“ – „Und lachen dürfen auch nur Mädchen?“, frage ich. „Mensch nein, bist du denn dumm?”, erregt sich Martin weiter. „Ich bin nicht dumm und du bist nicht dumm und ich glaube, wir beide wissen, dass es absolut o. k. ist zu weinen, wenn man verletzt worden ist“, sage ich ernst. „Aber nicht ich bin verletzt worden, ich habe den Sven verletzt.“
„Also verletzt zu werden ist nicht nur eine Sache von Beulen, Wunden und Blut, man kann auch in seinem Herzen, in seinen Gefühlen verletzt werden, wenn einem Unrecht widerfährt, wenn niemand zuhört, wie alles passiert ist und du hast ja allein die Schuld bekommen. Das kann auch ziemlich wehtun, im Herzen.“ Martin zwinkert nervös mit den Augen. „Ja, so was kenne ich und ich weiß, dass ich der Mama immer im Herzen wehtue.“ „Martin, ich glaube, ich verstehe, was du meinst, deine Mutter macht sich Sorgen und es ist nicht immer einfach für dich und deine Eltern, aber die Frage ist auch, ob man jemanden mit Absicht verletzt oder weil es schwer ist anders zu handeln. Wie siehst du das?“
„Ich will eigentlich niemandem wehtun, immer mache ich so blöde Sachen, dafür hasse ich mich!“ Ich streiche Martin kurz über die struppigen Haare: „Du machst auch viele gute Sachen und glaube mir, dass werden immer mehr!“ Martin läuft durch den Raum, er schreit laut Renngeräusche, irgendwann muss ich ihn einfangen, um die Matheaufgaben mit ihm zu erledigen. Seine Mengenvorstellung ist schlecht ausgeprägt, über plastische Anregungen kommen wir mit vielen Unterbrechungen zu den Ergebnissen, die Zahlen sind kaum lesbar, doch alle Ergebnisse gelöst. Er blickt selbst verwundert auf sein Heft, ich lobe ihn, wahrscheinlich hat er sein Bestes gegeben.
Ich bin betroffen von Martins Sensibilität, sein Ringen um Anerkennung, z. B. durch die Lehrerin, seine Eltern, eine Seite an ihm, die kaum jemand wahrzunehmen scheint. Der Gedanke, seine Lehrerin lehne ihn nun ab, trifft ihn schmerzlich. Leider kann ich das Gespräch nicht mehr darauf lenken. Martin hat ein sehr geringes Selbstwertgefühl und glaubt, an allen Missständen Schuld zu sein. Er verursacht aus seiner Sicht vor allem Negatives, seine Motive werden ignoriert, was ihm ein Gefühl der Hilflosigkeit gibt. Er nimmt wahr, wie er das Familienleben beeinflusst, welche Sorgen er bei seinen Eltern auslöst, doch er hat keine Strategien, diese Situation zu ändern.
Ich möchte in die nächste Stunde auf jeden Fall kreatives Material einbinden, denn durch das Gestalten erhält er das Gefühl, seine Welt aktiv beeinflussen zu können, zu handeln und sich darüber selbst wahrzunehmen.
Die dritte Stunde
Ich habe für Martin Dinge zurechtgelegt und hoffe, er hat Lust, mit mir einen Roboter zu bauen. Ich möchte mit ihm das Thema: „Funktionieren und programmiert werden“ spielerisch erarbeiten. Vielen Kindern macht es Freude, wenn der Roboter einfach nicht richtig funktionieren möchte, aber gerade dadurch ein besonderes „Exemplar“ wird. Doch als Martin kommt, ist er in ganz schlechter Stimmung. Es war Elternsprechtag und es hat furchtbaren Krach mit den Eltern gegeben. Martin ist blass und nervös, er zuckt mit den Augen und sein ganzer Körper zeigt unruhige, ruckhafte Bewegungsmuster. Gleich mehrere Lehrer haben sich über sein Arbeitsverhalten, die unordentlichen Unterlagen und Hefte, die fehlenden Hausaufgaben, sein Verhalten gegenüber Mitschülern geäußert. Leider habe ich Frau M. nicht mehr angetroffen, sie hat Martin nur zur Stunde gebracht und ist wieder weggefahren.
Nun ist Martin überhaupt nicht zum Roboterbasteln zumute, er ist frustriert, wütend, wirft auf einmal alle Materialien vom Tisch und sagt: „Du kannst mir auch nicht helfen, mich will halt keiner haben!“ Ich kann ihn so gut verstehen, will nun auch nicht dagegensprechen, antworte nur: „Da hast du einen schlimmen Tag hinter dir, ich verstehe, warum du dich so fühlst.“ Ich spiegele seine traurige Haltung, denke, es ist gut, der Traurigkeit Raum zu geben. Martin schaut mich nicht an: „Ich mache alles kaputt, warum hast du nicht geschimpft, ich habe deine Sachen vom Tisch geschmissen.“ Ich schaue auf den Tisch, verblieben sind ein kleiner Karton und die Silberfolie sowie ein Klebestift. Ich hole aus und fege mit dem Unterarm den Rest zu Boden. „Ach, wenn einem doch so richtig danach ist, dann muss es auch mal raus!“ Martin muss lachen, sein frustriert-trauriger Blick erhellt sich. „Mann, aber du darfst doch so was nicht machen!“ „Wer sagt das?“, gebe ich gespielt trotzig zurück und lache Martin an.
„Ich habe Mathe nicht kapiert und schreibe morgen eine Arbeit.“ „Du möchtest, dass wir uns das noch mal gemeinsam ansehen?“ „Ja, ich will eine 2 in Mathe schreiben.“ Ich freue mich, Martin hat ein Ziel genannt und nach Hilfe gefragt. Den Eltern wird heute nicht mehr nach Lernen zumute sein, ich schlage ihm vor, länger zu bleiben, da ich anschließend keinen weiteren Termin habe.
Martin ruft seine Mutter an, die wirklich froh ist, dass ich noch mit ihm üben möchte und Zeit habe. Martin hat kaum so konzentriert mitgearbeitet wie heute. Ich lobe ihn sehr, er hört nach seinen Möglichkeiten zu und löst die Aufgaben richtig. Ich habe ein gutes Gefühl, die Arbeit kann gelingen und Martin ist auch sehr zuversichtlich. Frau M. kommt etwas verspätet, deshalb malt Martin noch ein „schnelles Bild“.
Zum Bild erzählt Martin, dass alle in seiner Klasse denken, er schießt mit Bleikugeln, dabei sei es nur Konfetti, er wolle doch niemandem wehtun.
Ich treffe noch auf Frau M., die sehr angegriffen aussieht, und ich bemerke, dass sie geweint hat. Martin blickt auf seine Mutter und er bemerkt es auch. Er ist auf einmal sehr still, schaut nach unten und ich spüre, wie sehr er sich vor seiner Mutter schämt. Ich lege eine Hand auf ihre Schulter und sage ganz zuversichtlich: „Martin hat heute super mitgemacht, ich glaube, er schreibt morgen eine gute Mathearbeit.“
Wenn die Kinder etwas besonders toll gemacht haben, bekommen sie von mir ein „Das war spitze“-Zeichen. Drei Zeichen können gegen ein Spielzeug eingetauscht werden. Heute erhält Martin eines und freut sich riesig darüber. „Vielleicht kriege ich nächste Woche noch eins“, ruft er mir beim Abschied zu. „Das kann ich mir gut vorstellen!“, rufe ich ihm nach.
Als ich zurück ins Therapiezimmer gehe, sehe ich etwas, was mir erst jetzt auffällt. Martin muss mit dem Fuß die Bastelkartons für den Roboter zusammengeschoben haben. Zwei Bleistifte liegen noch als Antennen oberhalb des Kopfes. Wann hat er das getan? Ich habe es nicht mitbekommen? Er hat sofort gesehen, was ich vorhatte. Ich betrachte das fragmentierte Männchen und denke: „Ja irgendwie hat er die passende Gestalt für seine heutigen Gefühle gelegt.“ Ich fotografiere die Utensilien, um sie beim nächsten Mal wieder genauso dort hinzulegen. Wer weiß, was beim nächsten Mal daraus entstehen kann?!
Allgemeines
Ich habe den Beginn von Martins Förderstunden beschrieben, um einen „kleinen Einblick“ in das seelische Leid hyperaktiver Kinder und deren Umwelt zu geben. Gerade innerhalb dieser ersten Stunden des Beziehungsaufbaus kamen bereits wichtige Aspekte zum Tragen, die später weiter vertieft werden konnten. Martin steht dabei für viele Kinder, die mir in meiner langjährigen Beratungspraxis und Lernförderung begegnet sind. Die Kinder fallen auf, sie stören die alltäglichen Prozesse, doch wie sehr sie selbst unter ihrer Störung leiden, wie empfindsam sie in ihrem seelischen Erleben sind, wird oftmals wenig beachtet.
Dabei sind die sekundären Entwicklungsfolgen gravierend, Schulversagen mit allen Auswirkungen auf die Arbeitswelt, Beziehungsprobleme, Suchtgefährdungen, seelische und psychosomatische Erkrankungen, Jugenddelinquenz sind nur einige Ergebnisse mangelhafter Verarbeitung der Problematik „Hyperaktivität“. Diese entwickeln sich aus Empfindungen, die bereits im Kindesalter beobachtbar sind und aufgefangen werden müssen.
Therapieziel darf nicht nur sein, dass die betroffenen Kinder besser „funktionieren“, sie brauchen Geduld, Verständnis, Erfolge und Liebe, wie jedes andere Kind auch. Wer tiefer in die Seele dieser Kinder blickt und deren Ressourcen erkennt, wird sicher bereit sein, sie auf ihrem Weg zu ermutigen. Dabei benötigen auch Eltern und pädagogische Fachkräfte Hilfestellungen von Experten. Schulpsychologische Dienste und Beratungsstellen haben spezielle pädagogische Konzepte erarbeitet, durch die betroffene und verantwortliche Bezugspersonen konkrete Umgangsweisen und Hilfestellungen in der Gestaltung der Umwelt betroffener Kinder erhalten. Zusammen mit einer wertschätzenden Vertrauensbeziehung können diese Hilfen greifen und Erfolge sichern.
Martin ist noch über 2 Jahre in meine Lernpraxis gekommen und besucht mittlerweile die Gesamtschule. Es ließen sich nicht alle Probleme gemeinsam lösen, doch er und seine Eltern hatten immer einen Raum, in dem sie mit allen Erlebnissen und Gefühlen angenommen wurden, und ich glaube, gerade für Martin war das sehr wichtig.
Ich wünsche allen betroffenen Kindern und deren Eltern verständnisvolle Pädagogen und Menschen, „die etwas tiefer“ schauen.
Literatur: Udo Baer, Waltraut Barnowski- Geiser, Innenwelten hyperaktiver Kinder. Würde-Bücher 1, Semnos-Verlag, 2005
Bettina Papenmeier
Dipl. Soz. Pädagogin, Dipl. Soz. Arbeiterin, dipl. Legasthenietrainerin, Lehrerin für AT und PME, geprüfte Psychologische Beraterin (VFP), freiberufliche Begleitung von Kindern mit Lernauffälligkeiten, graphomotorischen Problemen, kreative Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im eigenen Atelier, Dozentin an der Paracelsus Schule Bielefeld (Weiterbildungen in Spieltherapie)