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Fallstudie: Hörigkeit?

Hörigkeit

Die Klientin Bettina K. kam auf Empfehlung. Sie bat telefonisch um einen kurzfristigen Termin zu einem Erstgespräch.

Sie schildert ihre Situation wie folgt:

„Ich habe mit meinem Lebensgefährten 12 Jahre zusammengelebt. Es gab keine Probleme. Er lebte bei mir im Haus, was wir als unser gemeinsames Haus betrachteten. Ich arbeite in unmittelbarer Nähe unseres Wohnortes, er ist öfter im Außendienst in Norddeutschland. Seine Abwesenheit war in der Regel so etwa zwei bis drei Tage in der Woche. Zum Wochenende kam er regelmäßig zurück.

Irgendwann, so vor etwa einem Jahr verbrachte er dann den Wochenanfang bis Donnerstag hier an seinem Dienstort und fuhr am Nachmittag dann Freitag und Samstag nach Norddeutschland. Das alles schien mir ganz normal und verständlich, da er nun in der Human Resource tätig war und die von ihm zu veranstaltenden Fortbildungsmaßnahmen auch an Wochenenden stattfinden sollten.

Es geschah dann einige Male, dass er am Samstag gegen Abend anrief und sagte, er sei so müde, dass er die knapp 600 km nicht mehr fahren könne, er käme am Sonntag zurück.

Auch das schien mir noch logisch, obwohl ich da schon Verdacht hätte schöpfen müssen. Aber da er sich regelmäßig und häufig telefonisch meldete und auch am späten Abend noch SMS schickte, verflüchtigte sich der anfängliche Verdacht sehr schnell. Wie könnte er denn in Anwesenheit von wem auch immer so lieb mit mir telefonieren und solche zärtlich-erotischen SMS schreiben.

Doch dann kam der Paukenschlag

otolia©creativixEs war Montagmorgen, als er mir während des Frühstücks ganz unschuldig und naiv erklärte, dass er gerade dabei sei, sich eine neue Wohnung etwa 5 km von unserem Haus einzurichten, und ob ich nicht Interesse und Lust hätte, mir diese Wohnung einmal anzuschauen.

Mir war, als hätte mir jemand mit einer Flasche auf den Kopf gehauen. Noch bevor ich antworten konnte, stand er auf und verabschiedete sich mit einem Kuss auf die Stirn zur Arbeit. Ich saß wie versteinert da und konnte weder antworten noch sonst irgendwie reagieren.

Zunächst dachte ich, es sei einer seiner für andere schwer verständlichen Scherze gewesen. Ich rief ihn an, um zu fragen, ob er das ernst gemeint habe. Ja, klar doch, antwortete er, du kannst ja heute Abend mitkommen, wird dir bestimmt gefallen. Ich war sprachlos und legte einfach auf.

Am späten Nachmittag kam er etwas früher nach Hause und fragte, ob ich fertig sei und mitkommen wolle. Und das war, jetzt im Rückblick gesehen, der entscheidende Punkt. Es war der entscheidende Fehler. Ich sagte einfach ja, nahm meine Tasche und stieg mit ihm ins Auto. Auf der Fahrt sprachen weder er noch ich ein Wort. Ich brachte keins heraus und ihm schien es überhaupt nichts auszumachen. Nach einer Viertelstunde kamen wir an dem kleinen Mehrfamilienhaus an, stiegen aus und er führte mich in den zweiten Stock des Hauses in eine Drei-Zimmer-Wohnung mit Balkon.

Sag mal, was soll das denn jetzt? – hörte ich mich selbst fragen, so, als stünde ich neben mir und ich hörte meine eigene und trotzdem eine fremde Stimme.

Na ja, sagte er. Wir sind jetzt 12 Jahre zusammen und brauchen mal ein bisschen Abstand. Zur Arbeit habe ich nur um die Ecke und zu dir ist es ja auch nicht weit. Wir können uns also so oft sehen, wie wir wollen, und Platz genug für ne Übernachtung ist ja auch. Vielleicht macht die Trennung oder auch Nichttrennung unsere Beziehung wieder etwas interessanter und spannender.

Aus all den wilden Befürchtungen und Ängsten tauchte plötzlich wieder Hoffnung auf. Also keine Trennung, dachte ich fast schon freudig erregt.

Aber es kam, was von Anfang an zu befürchten war. Er verbrachte jetzt mehr Zeit in Norddeutschland und kam immer kürzer zurück ins Rhein-Main-Gebiet und die Zeit, die er hier verbrachte, wurde auch immer knapper.

Einer normal denkenden Frau hätte allerspätestens jetzt alles klar sein müssen. Doch immer wenn er anrief und fragte, ob ich am Abend zu ihm kommen wollte, gab es für mich kein Halten. Und jeder Abschied wühlte mein Innerstes auf. Angst, ihn zu verlieren, wechselte mit wilder Hoffnung, ihn doch noch an mich binden zu können.

Doch eines Abends schliefen wir wieder zusammen und als wir hinterher nebeneinanderlagen, erzählte er zunächst etwas zögerlich, doch dann fließend, von seiner neuen Flamme. Sie war, so erzählte er freimütig, der Grund für seine längeren Abwesenheiten in Norddeutschland und für den nachlassenden Kontakt zu mir.

Unter Tränen sprang ich aus dem Bett, zog mich an, erklärte ihm, dass er sich nie mehr zu melden brauche, setzte mich ins Auto und fuhr nach Hause.

Einerseits fühlte ich mich erleichtert, weil das, was mir mein Bauchgefühl schon seit langem sagte und mir permanente Kopfschmerzen und Übelkeit bereitete ausgesprochen war. Andererseits aber tat sich vor mir ein ungeheures großes Loch auf und es brummte in meinem Kopf. Ich lief in unserer Wohnung auf und ab, wie auf Watte, ohne etwas aus meiner Umgebung aufzunehmen. Auch unseren Hund streichelte ich wie in Trance, schon mechanisch.

Ich ging zu Bett, eine Flasche Rotwein half mir einzuschlafen. Sechs Wochen ging alles gut, ich glaubte schon, ich hätte den ersten großen Schmerz überwunden, als er sich plötzlich eines Abends telefonisch meldete.

Er tat so, als sei überhaupt nichts zwischenzeitlich geschehen und fragte, ob ich nicht auf ein Glas mal rüberkommen wolle.

Es war der große Fehler Nr. 2. Ohne nachzudenken sagte ich, ich wäre gleich bei ihm.

Nach zehn Minuten waren wir wieder in der alten Routine. Nur dass er mir dieses Mal lang und breit von seiner neuen Flamme erzählte, auch teils Witze über sie machte und wir gemeinsam darüber lachten. Ich hatte ihn ja jetzt bei mir und sie war es, die nun hinters Licht geführt wurde, genauso, wie sie es die ganze Zeit mit mir getan hatte. Erst als der Abend vorüber war und er mich bat, doch jetzt nach Hause zu gehen, wurde mir mein Elend wieder klar. Ich war es, die erneut, zum wievielten Male, hinters Licht geführt worden war.

So lief es über ein Jahr. Nach der Enttäuschung der Nacht, kam kurze Zeit später der Anruf und mit ihm die Hoffnung auf seine endgültige Rückkehr.

Jedes Mal, wenn er anrief, war sofort wieder der vertraute Ton in der Leitung und er sprach mit mir wie mit dem besten Freund oder der besten Freundin über alles, was ihn bewegte und mit seiner neuen Flamme geschah. Und immer, wenn er in seine Wohnung kam, eilte ich ohne Zögern und Bedenken zu ihm und es war wie früher.

Diese Abende und Nächte waren wie Inseln der Seligkeit in dem grauen und unruhigen Meer der Zwischenzeiten. Auch wenn wir miteinander schliefen und er dabei immer wieder betonte, wie vertrauensvoll, gewohnt und kuschelig es doch mit mir sei, flammte die Hoffnung auf seine Rückkehr zu mir wieder auf. Sprach ich ihn darauf an, wurde er einsilbig und meinte schroff, ich solle nicht die ganze Stimmung kaputt machen.

Ich vermied es von nun an, denn ich hatte Angst, er würde sich nicht mehr melden und ich würde die letzte Gelegenheit verspielen, ihn wieder zurückzugewinnen.

Das Schlimmste, was er mir sagte, und es war sicher positiv von seiner Seite gemeint, war: „Weißt du, wir sind wie die besten und vertrautesten Freunde, die sich gegenseitig ihr Innerstes öffnen können, ohne dass daraus eine Belastung oder Verpflichtung entsteht.“ Ich fragte mich, wo all die gegenseitige Fürsorge und Hingabe geblieben waren, die unsere 12 gemeinsamen Jahre so besonders machten. Oft verglichen wir unsere Beziehung mit denen unseres Bekannten- und Freundeskreises, um herauszufinden, wie besonders unser Verhältnis, unser gemeinsames Leben doch war.

Und so bin ich nun hier. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Aber wenn er anruft, bricht alles zusammen, der festeste Entschluss, die wüsteste Beschimpfung, alles vergessen, alles vergeben, alles verziehen. Es ist wie eine Sucht nach ihm, so wie ich jeden Abend trinken muss, um einschlafen zu können.“

Mit der Klientin war vereinbart, dass die erste Sitzung openend sein sollte. So konnte sie sich ungehindert aussprechen, gleichzeitig war ihr auch der Abrechnungsmodus bewusst. Dies füge ich hier absichtlich ein, damit sich hinterher keine Unklarheiten über die ausgestellte Rechnung ergeben.

Auf den ersten Blick war die Situation, in der sich die Klientin befand, recht eindeutig. Sie zeigte Symptome der Verlustangst und des Verlustes, bis hin zu Symptomen der Abhängigkeit oder gar Hörigkeit. Für ihren Ex war die Lage äußerst angenehm. Er hatte den Reiz des oder der Neuen und gleichzeitig die Vertrautheit des oder der Gewohnten. Den Thrill und den Kick fand er bei der Neuen, die Rückzugsmöglichkeit bei der Klientin. Was konnte er mehr verlangen?

Er spielte mit beiden Partnerinnen. Einerseits beutete er die Geduld meiner Klientin und ihre aus der Verlustangst geborene intensive Aggressions- und Vermeidungsstrategie weidlich aus. Außerdem ließ er immer wieder die Hoffnung auf seine Rückkehr aufkeimen. Für ihn eine komfortable Lage und spannendes Spiel, auch Gelegenheit, seine Macht zu demonstrieren, für meine Klientin hingegen war es ein sich beschleunigender Teufelskreis der Abhängigkeit und Hoffnungslosigkeit.

fotolia©Stefan BalkDie kognitive Einsicht in die Aussichtslosigkeit der Beziehung hatte sie, sie ist sich ihres Leidensdrucks bewusst, hat aber weder die Kraft noch den Mut zu einem alles klärenden Gespräch oder einer klaren und endgültigen Entscheidung. Sie begibt sich damit wissentlich und willentlich in die Opferrolle. Die Tatsache, dass sie ausschließlich von dem lebt, was er für sie übriglässt, nagt immer stärker an ihrem Selbstbewusstsein. Es macht sie noch abhängiger von ihm. Ein Teufelskreis, der im wahrsten Sinne des Wortes teuflisch für sie enden kann. Sie fühlt und spürt es, eigentlich weiß sie es, sie ist aber ohnmächtig gegenüber der letzten notwendigen Entscheidung: Trennung.

Die Trennung, die sie als aktiv Handelnde vollziehen muss, um wieder Herr ihrer selbst zu werden und wieder die Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen.

Auch auf seiner Seite schien ein gewisses Maß an Entschlusslosigkeit vorzuliegen. Einerseits konnte er das Spiel auf zwei Instrumenten gleichzeitig genießen, es war gut für sein Ego, andererseits konnte auch in ihm das Problem der Entscheidungsschwäche, Angst vor dem endgültigen Verlust der ersten Partnerin vorliegen. Oder eine Mischung aus beiden Haltungen. Da es weder in der Psychologie noch in der Psychotherapie ein Entweder-Oder geben sollte, sondern nur ein Sowohl-Als-Auch, war es wohl eher eine Mischung, die ihm jedoch sehr entgegenkam, dem Wohlbefinden meiner Klientin jedoch großen Schaden zufügte.

Was war es nun, was meine Klientin in diese Form der Abhängigkeit brachte, eine Abhängigkeit, in der sie sich all diese Formen der Selbstentwertung und Erniedrigung gefallen ließ und trotzdem sich nach diesem Mann sehnte?

Es wäre zu interessant gewesen, in Gesprächen die Biografie des Mannes zu eruieren. Er verweigerte jedoch jegliche Teilnahme an den Gesprächen. Auch war er zu einer Paartherapie nicht bereit, wie sie meine Klientin vorschlug. Für eine Freundschaft brauche man keine Therapie, war seine Begründung.

Obwohl ich im Bereich der Tiefenpsychologie äußerst zurückhaltend bin und, wenn immer es geht, auch psychoanalytische Gespräche auch nur im Anfangsstadium zu vermeiden suche, war es doch im vorliegenden Fall klar, dass einiges in der Entwicklung bei beiden oder zumindest einem der Partner nicht ganz geglückt war. Mein erster Verdacht lag natürlich auf der Seite des männlichen Partners. Meine Klientin erzählte viel von ihm und was sie alles gemeinsam unternommen hatten und was noch ihre gemeinsamen Zukunftspläne wären. „Es waren doch alles seine Ideen und Pläne und ich fand sie immer ganz toll und aufregend“, schilderte sie diesen Teil ihrer Beziehung.

Auf die Frage, was denn ihr Anteil an den Zukunftsplänen gewesen sei, kam eine sehr überraschende Antwort, die die ganze Beziehung in ein vollkommen anderes Licht tauchte. „Bei uns im zweiten Stock war ich dabei, ein Zimmer nach unserem gemeinsamen Traum einzurichten. Es war das Zimmer Der Fluch der Karibik, eingerichtet mit allem, was man an Souvenirs und Merchandising-Produkten kriegen konnte. Mit Hängematte, Schlafkoje, Waffen an den Wänden, Poster der Filme, alles, was sich finden ließ. Es war schon zu 80% fertig. Einmal, es war zu Karneval, maskierten wir uns als Piraten und nach einem tollen Maskenball schliefen wir auch zusammen in diesem Zimmer. Zunächst aus Spaß, dann immer wieder, verbrachten wir die Nacht im Piratenkostüm in diesem Zimmer. Aber irgendwann hörte es auf, er wollt das nicht mehr, es sei ihm zu kindisch. Na ja, und dann kam der Bruch. Seitdem steht das Zimmer unbenutzt und ich habe jegliches Interesse verloren. Wenn wir zusammen sind, fragt er noch nicht einmal danach.“

Diesem Teil des Gesprächs maß ich zunächst kaum Bedeutung bei, aber als dieses Piratenelement immer häufiger erwähnt wurde, wollte ich nun doch etwas näher in die Biografie und Entwicklung meiner Klientin einsteigen.

Insbesondere die Vater-Tochter Beziehung weckte mein Interesse, da meine Mandantin erst spät in der einleitenden Gesprächsphase erwähnte, dass der Vater Selbstmord beging, als sie knapp 15 Jahre alt war.

Väter werden insbesondere dann für Störungen in der Entwicklung ihrer Töchter verantwortlich gemacht, wenn sie entweder sehr schwach und unzuverlässig sind, oder als zu dominant, besitzergreifend und verbietend erfahren werden. Die Tochter kann dann oft nicht die frühe dyadische Beziehung zu ihrer Mutter verlassen, da sie aus Selbsterhaltungsgründen eine Koalition gegen den Vater eingehen. Kann der Vater jedoch seine Rolle und seine Aufgaben gut erfüllen, fällt es der Tochter leicht, sich aus der Dyade zu befreien und zunächst den Vater als unabhängigen Dritten wahrnehmen und eine enge emotionale Beziehung zu ihm aufbauen.

In ihrer frühen Kindheit ist der Vater Objekt der Befriedigung ihrer narzisstischen Bedürfnisse. Sie bildet eine starke Vatersehnsucht aus, bei der jedoch noch keine erotisch-sexuellen Komponenten eine Rolle spielen. Später, in der beginnenden Pubertät spielen diese Komponenten jedoch eine größer werdende Rolle und gepaart mit der noch immer vorhandenen narzisstischen Komponente ist eine ungeschickte Zurückweisung durch den Vater eine ungeheure Kränkung für die Tochter.

Meine Klientin schildert nun das Verhältnis zu ihrem Vater als distanziert, weil er sich nicht nur ihr, sondern auch der Mutter gegenüber verschloss. Er ging auf beide nicht ein und so konnte weder die Mutter meiner Klientin eine vollständig feminine Objektrepräsentanz vermitteln noch der Vater auch nur ansatzweise eine maskuline Objektrepräsentanz, von einem einfachen Vater-Tochter-Vertrauensverhältnis ganz zu schweigen. Die Loslösung aus der Mutter-Tochter-Dyade über eine Vater-Tochter- Dyade hin zu einer gesunden Triade war also nicht möglich. Viel wichtiger aber war die Tatsache, dass somit weder der Umgang mit den ödipal-inzestuösen Phantasien und Gefühlen erfahren und erlernt wurde noch eine ausreichende narzisstische Zufuhr möglich war, um dieses Bedürfnis seitens meiner Klientin zu stillen.

Was hätte meine Klientin eigentlich von ihrem Vater erwarten dürfen, gerade in der Pubertät?

Sie hätte jemanden gebraucht, der über kognitive und emotionale Kompetenz verfügt, um ihr bei der Bewältigung der Probleme behilflich sein zu können. Sie hätte ihn weiterhin als männliche Objektrepräsentanz gebraucht, um ihre Weiblichkeit auszuprobieren. Sie hätte jemanden gebraucht, der ihr hilft, ihre Emotionen richtig zu erkennen, sie zu bewerten und letztlich kontrollieren zu können. Sie hätte jemanden gebraucht, der sich, seiner Verantwortung als Vater und des Inzesttabus bewusst, allmählich von ihr hätte zurückziehen sollen, und diesen Übergang vom kleinen Kind zur unabhängigen Frau zwar als Verlust, aber auch als persönlichen Gewinn hätte vermitteln müssen.

So konnte meine Klientin in der Adoleszenz weder ihre kindhafte narzisstische Zufuhr verwirklichen noch in der konflikthaft ödipalen Phase an ihrem Vater ihre weiblichen Verführungskünste ausprobieren. So entstanden zwei große Defizite, die sich später als teuflisch für die Paarbeziehung herausstellen sollten.

„Die narzisstische Befriedigung, die die Tochter in der Beziehung zu ihrem Vater findet, ist für die Entwicklung des Selbstgefühls gerade in der Adoleszenz sehr wichtig. Wenn die Bestätigung (narzisstische Zufuhr) durch den Vater nicht erreicht wird, gelingt es oft nicht, den Schritt in die Erwachsenenwelt zu tun. Die Töchter sind in dieser Situation sehr enttäuscht und wütend.“

Auf diesen Satz in der Studienarbeit von Jana Weber (Zur Psychodynamik der Vater- Tochter-Beziehung in der Adoleszenz) stieß ich bei meinen weiteren Nachforschungen im Fall meiner Klientin.

Nun setzten sich alle Teile zu einem Gesamtbild nahtlos zusammen

Der Ex war der erste Mann, der meine Klientin überhaupt als Frau wahrnahm, ihr das Gefühl gab, begehrens- und liebenswert zu sein. Dinge, nach denen sie sich sehnte. Würde sie von diesem Zufluss abgeschnitten, fiele sie in die Zeit vor dem Selbstmord des Vaters zurück. Lieber ein Mann, auch wenn er grausam und zerstörerisch ist, als gar niemanden, der mich wahrnimmt.

Er spürte seine Macht über meine Mandantin und nutzte ihre Abhängigkeit, ihre Schwäche unverschämt aus. Er beging eine Grenzüberschreitung, die er aus Verantwortungsgefühl gegenüber seiner ehemaligen Partnerin nie hätte begehen dürfen. Hier muss man allerdings einräumen, dass meine Klientin diese Grenzüberschreitung, wenn auch nicht provoziert, jedoch einwilligend zugelassen hat.

Meine Klientin konnte diese Situation nicht vollständig kontrollieren, da sie eigentlich nie lernte, sich gegenüber Männern eindeutig abzugrenzen, weder durch die Erfahrung der spätpubertären Identitätsverwirrung, noch durch den Aufbau einer geschlechtlichen Identität in dem Lösungsprozess durch den Vater.

Er hatte sie in zwei entscheidenden Situationen ihres Lebens alleine gelassen, ja geradezu verlassen. In der Kindheit stand er nicht zur Verfügung, damit sie sich aus der Mutter-Tochter Dyade lösen und in eine gesunde Triade hineinentwickeln konnte, noch in der Adoleszenz, um sich in der Identitätsverwirrung gegenüber dem Vater abgrenzen zu lernen. In ihrer emotionalen Abhängigkeit war sie nun für den Mann, in den sie sich verliebt hatte, total verfügbar, ein Opfer, ein Objekt seiner Manipulationsfähigkeit.

Dieses Beziehungsmuster haben wir in 12 doppelstündigen Sitzungen im Gespräch herausgearbeitet, wobei meine Klientin sich durch Lektüre und Internetrecherche auch selbst informierte und somit ihre Situation auch selbst analysieren und entsprechend beschreiben konnte.

In einer abschließenden hypnotherapeutischen Sitzung packte sie alle diese schlechten Dinge in einen großen Kahn und schickte ihn weit hinaus ins Meer. Sie hatte es gepackt.

Als Nächstes wollten wir die Aussöhnung mit ihrem Vater angehen. Sie wollte sich wieder melden, wenn sie sich dazu bereit fühlte.

Sie meldete sich wieder und teilte mir mit, sie habe nach mehrmonatiger Unterbrechung den Kontakt mit ihrem Ex wieder aufgenommen und es laufe alles wieder so, wie es vorher war. Mit ihm sei es schwierig, ohne ihn aber unmöglich.

Walter LenzWalter Lenz, Ph. D.
Privatpraxis für Psychologie & Psychotherapie (nach dem Heilpraktikergesetz)
Hasslocher Straße 73, 65428 Rüsselsheim 

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