AD(H)S wird viel zu oft falsch diagnostiziert – und betrifft (gerade) auch besonders tolle Menschen
Auch Einstein und Mozart wurde wohl ADHS-Ähnliches attestiert
„ADHS“ (bzw. „ADS“) ist wirklich eines der großen Themen unserer Zeit, auch des therapeutischen, psychologischen und pädagogischen Alltags. Es geht um erschreckend hohe Zahlen (inzwischen im Millionen- Bereich) sowohl von tatsächlich Betroffenen als auch von nur eventuell (oder gar nicht) Betroffenen! Ich meine hier Menschen, denen AD(H)S nur fälschlicherweise attestiert wurde, mit oft fatalen u. a. auch sozialen Folgen. Das ist deshalb so dramatisch, weil erstens ohne richtige Diagnose ja auch keine richtige Beratung bzw. Behandlung möglich ist. Und zweitens, weil mit einer falschen Diagnose sogar großer Schaden angerichtet werden kann – z. B. durch Nebenwirkungen dann unnötiger und sinnloser Medikamente – und weil die eigentlichen Probleme und deren Ursachen ungehindert weiter wirken können. Weil dies manchmal verheerende Folgen haben kann, gilt es hier, wirklich sehr wachsam zu sein – in verschiedene Richtungen. Einige Informationen und Beispiele dazu auch aus meiner eigenen Praxis:
Bis zu 90 %(!) Fehldiagnosen – mit oft fatalen Folgen
Auch wenn die Diagnose einer AD(H)S-Symptomatik den entsprechenden Fachärzten vorbehalten sein sollte, unter Einbezug psychologischer Untersuchungen und Einschätzungen sowie der Beobachtungen der Angehörigen (z. B. Eltern und Pädagogen): Alle Beteiligten, nicht zuletzt Betroffene selbst, sollten hier gesunde Vorsicht walten lassen und im Zweifelsfall lieber auch zumindest zwei (fachärztliche) Meinungen einholen. Ich plädiere dafür, weil viele Ärzte heute selber oft sehr im Stress sind und allein deshalb schon gelegentlich Fehldiagnosen möglich sind. Weiterhin sind AD(H)S(-ähnliche)-Symptome auch bei vielen anderen Problematiken bzw. Erkrankungen zu finden, wie z. B. bei bestimmten autistischen oder epileptischen. Hier genau zu differenzieren, erfordert wirklich Experten. Dass aber selbst die oft irren können, berichtet Ulrike Lehmkuhl, Direktorin der Kinderklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der berühmten Berliner Charité, die 90 % der AD(H)S-Diagnosen als falsch bezeichnet (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 12. Februar 2012).
Dort wird weiter berichtet, dass vor 20 Jahren in Deutschland 34 Kilo Methylphenidat ärztlich verordnet wurden – heute sind es 1,8 Tonnen(!). Ritalin wird in dem Artikel als „eine Pille gegen eine erfundene Krankheit, gegen die Krankheit, ein schwieriger Junge zu sein” bezeichnet. Denn die Diagnose AD(H)S werde inflationär zur Erklärung von Schulversagen herangezogen. Weltweit mache allein Novartis, der Hersteller von Ritalin (Methylphenidat), einen Umsatz von 464 Millionen Dollar damit, die störenden Jungen „glatt, gefügig und still“ zu machen.
Zitiert wird dazu dort auch G. Glaeske, Professor für Arzneimittelversorgungsforschung an der Uni Bremen: „Jungen lebten risikoreicher und wollten sich erproben, wofür ihnen heute die Freiräume fehlten. Schnell gelte ein Verhalten, das früher selbstverständlich als jungenhaft akzeptiert worden sei, heute als auffällig. ADHS sei eine Zuschreibungsdiagnose, die unter gesellschaftlichem Druck ausgestellt werde, um die Gabe leistungssteigernder Mittel zu legitimieren“, sagt Professor Glaeske dort. Angemerkt wird auch noch, dass der „Erfinder von ADHS“, der amerikanische Psychiater Leon Eisenberg, kurz vor seinem Tod im Jahr 2009 gesagt haben soll: „AD(H)S ist ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung.“ Methylphenidat, von dem man – so Lehmkuhl – „nicht genau wisse, wie es auf das Gehirn wirkt“, bekommen in Deutschland inzwischen allein 250 000 Kinder, in der Mehrzahl Jungen. Und seit einigen Monaten ist der Wirkstoff auch für Erwachsene mit der Diagnose AD(H)S zugelassen …
Wichtig ist, die eigentlichen Probleme zu erkennen und dabei zu helfen
Auch ich habe in meiner Praxis schon einige Menschen erlebt, jüngere und ältere, bei denen selbst ich als Nichtexperte feststellen konnte, dass sie einfach nur schlecht hören oder sehen konnten. Und dass sie deshalb z. B. Probleme hatten, im Unterricht, während der Ausbildung, Arbeit usw. mitzukommen (Konzentrationsstörungen). Dies kann auf Dauer natürlich auch depressiv oder aggressiv machen, aber nicht als Teil einer AD(H)S-Problematik, sondern als Folge von ganz anderen Problemen bzw. Erkrankungen, die oft auch recht leicht zu beheben sind. Dies geschieht jedoch nicht, wenn bis zu 90 % solcher Schwierigkeiten vorschnell auf AD(H)S geschoben werden.
Viele Menschen kommen heute auch in unserer „Generation Burnout“ (wie der Focus es einmal nannte) in Beratung bzw. Therapie mit scheinbar ganz klarer Wolfgang-Diagnose – erstellt von Pädagogen, Verwandten, Bekannten, teilweise aber auch von anderen Therapeuten und Ärzten. Nach genauerer Betrachtung der Lebens- bzw. Arbeitsumstände der Betroffenen sah das aber schon ganz anders aus, so z. B. bei Menschen mit sie völlig überfordernden (oder auch unterfordernden!) beruflichen oder schulischen Umständen. Das sieht dann vielleicht aus wie AD(H)S, ist aber im Grunde eher Burnout und erfordert ganz andere Konsequenzen:
Ein Wechsel der Arbeits- oder Ausbildungsstelle, der Klasse oder Schule (auch der Wechsel in eine höhere!) oder auch nur Kita- oder Ausbildungsgruppe bzw. Abteilung machte so schon oft aus „zweifelsfrei“ AD(H)S-Problemkindern – teilweise auch mit angeblich „unbedingt notwendigem Medikamentenbedarf“ – die Besten(!) ihrer Klasse, Abteilung usw. Manchmal reichten sogar nur Aussprachen mit Lehrern, Erziehern, Vorgesetzten usw., die ich teilweise auch begleitete. Sie hatten oft einfach „nur“ die besonders positiven Seiten der Betroffenen verkannt, z. B. dass diese Kinder eben besonders sensibel, lebensfroh, lebendig sind – alles ja eigentlich positiv. Nur ist es für Lehrer und Erzieher in meist überfüllten Klassen und Gruppen oft schwer, darauf einzugehen (bzw. das überhaupt noch erkennen zu können). Hier können externe, psychologische oder pädagogische Berater mit ihrem „Blick von außen“ durchaus wichtige Hinweise und Tipps geben, auch zusammen mit den Eltern.
Das Beispiel der Berliner Rütli-Schule kann hier vorbildlich, beispielhaft und hilfreich sein, was ich auch schon vielen Betroffenen (Eltern, Lehrern, Erziehern usw.) mit Erfolg vorgeschlagen habe. Wie an der Rütli-Schule wurden dann gemeinsam bessere Lernbedingungen (räumlich, personell, methodisch usw.) erarbeitet bzw. errungen. Das Miteinander kostet natürlich auch viel weniger Kraft als das Gegeneinander (gegenseitige Schuld-Vorwürfe nach dem Motto: die Eltern/die Lehrer oder die Gene sind schuld). Das Miteinander vermittelt ja auch bessere Gefühle und Motivation. Viele Schüler (und Lehrer) brauchten dann auch plötzlich keine Medikamente mehr. So wurden, wie an der Rütli-Schule, mit besseren Bedingungen aus angeblichen AD(H)Slern plötzlich Musterschüler – sehr erfolgreich und zufrieden.
Hier eine mehr systemische Sicht der Dinge zu haben, kann also sehr sinnvoll sein. Auch wer wie ich als Systemischer Berater und Familientherapeut arbeitet, sollte seinen Blick auf die „Systeme“ auch außerhalb der Familie richten, eben auf das Bildungssystem/ die Arbeitswelt, die meistens – wie kürzlich auf einem wissenschaftlichen Kongress in Heidelberg analysiert – Auslöser von Burnout ist.
Gegen einen ausnutzenden, völlig überfordernden Chef oder auch gegen mobbende, schikanierende Kollegen, Mitschüler oder auch Partner hilft ja aber sicher kein Ritalin oder dergleichen. Viel besser können hier verschiedene psychotherapeutische Methoden helfen. Das konnte ich auch schon mit meiner Arbeit sehen. Aber in der Regel ja nicht nur. Und je mehr Menschen in Beratung kommen, die Opfer von Mobbing, Burnout oder auch einfach ungesunder Beziehungen sind, mit nur vermeintlichem AD(H)S, umso mehr muss da wirklich auch zur Vorsicht geraten werden.
Natürlich können Mobbing, ständige Ausnutzung, Ausbeutung, Schikanierung usw. krank (auch depressiv oder aggressiv) machen und zu Konzentrationsstörungen, großer Nervosität usw. führen.
Dann aber nicht als Zeichen für ein auch noch mutmaßlich „genetisch bedingtes“ AD(H)S – sondern gegen die genannten Umstände, um die man sich dann natürlich auch in der Beratung vorrangig kümmern muss. Im Privaten kann hier ggf. noch eine Paar- oder Familienberatung helfen. Bei bewussten, böswilligen Schikanierungen, echter Ausbeutung usw. muss aber auch Weitergehendes empfohlen werden, ggf. eine Trennung bzw. bei Eskalationen auch eine polizeiliche Beratung. Im Arbeitsleben, bei Mobbing und dergleichen (auch von Betriebs- bzw. Personalräten bzw. Schüler- /Elternvertretungen, Vertrauenslehrern etc.) benötigt man ggf. auch Hilfe eines Anwalts, besonders wenn das Mobbing bzw. das Ausnutzen sogar von Vorgesetzten ausgeht. Und auf jeden Fall ist begleitend immer ein Arzt wichtig, da so etwas natürlich auch psychosomatisch krank machen kann.
Sehr wichtig: Auch Vorurteilen und falschen Einschätzungen entgegenarbeiten
Selbst wenn die Diagnose AD(H)S einmal richtig ist, muss immer wieder betont werden, dass dies zu allermeist nicht Folge davon ist, dass man als Betroffener schlecht ist – bzw. auch seine Eltern oder seine Gene nicht. Vielmehr sind ja gerade Menschen mit eigentlich sehr positiven Eigenschaften betroffen. Das können z. B. Kinder sein, die recht spät eingeschult wurden oder auch einfach „nur“ besonders schlau, kreativ, lebendig sind, was ja eigentlich etwas Positives ist. Diese Kinder können trotzdem Probleme bekommen, unruhig und zappelig werden – aus Langeweile, weil sie eben schon viel weiter sind als andere Kinder.
Wie z. B. schon Einstein oder wohl auch Mozart, denen zumindest auch AD(H)SÄhnliches nachgesagt wurde ... Dazu kommt, dass heutige Schulen, gerade in Deutschland, oft nicht besonders auf die Individualität der Kinder eingehen (können), allein schon wegen zu großer Klassen, aber auch vielen methodischen Schwächen, schlechten Rahmenbedingungen usw. Und sogar bei früh eingeschulten Kindern wird besonders häufig eine Aufmerksamkeitsstörung diagnostiziert und behandelt. Aber meistens nur, weil ihr im Verhältnis zu älteren Mitschülern „unreiferes Verhalten“ auch wiederum irrtümlich als krankhaft interpretiert wird. Dabei liegt es meist eben nur am eigentlich – auch schon für Laien(!) logisch – jüngeren Alter, wie nun auch kanadische Forscher in einer Studie mit fast einer Million Grundschulkindern herausgefunden haben. Das berichteten Wissenschaftler im Fachmagazin „Canadian Medical Association Journal“:
http://www.netdoktor.de/search/?q=adhs
Analysen bestätigten demnach Befürchtungen, dass die normale Spannbreite des Verhaltens von Kindern zunehmend mit Medikamenten behandelt werde, so der Erstautor Richard Morrow von der University of British Columbia in Vancouver. Jüngere Kinder einer Klasse würden aufgrund ihres alterstypischen Verhaltens häufig falsch „etikettiert“, stigmatisiert und behandelt. Die Studie zeigte, dass solche Kinder um 39 % wahrscheinlicher mit ADHS diagnostiziert und sogar zu 48 % eher mit Medikamenten behandelt werden! Auch wegen dieser Erkenntnisse und Zahlen warnen die Forscher davor, Kinder unnötig den potenziellen Schäden und Langzeitfolgen einer Fehldiagnose und medikamentösen Behandlung auszusetzen. Denn Mittel gegen ADHS wie Methylphenidat (Ritalin) können sich negativ auf Appetit, Wachstum und Schlaf der Kinder auswirken (also erst richtig unruhig, „zappelig“ machen). Auch das Risiko für spätere Herz-Kreislauf-Erkrankungen sei erhöht, sagen die Wissenschaftler. Außerdem verhielten sich Eltern und Lehrer gegenüber ADHS-Kindern häufig anders. Das wiederum könne zu psychischen Folgen wie einem schlechten Selbstwertgefühl bei den Kindern führen. Solche „Falsch-Etikettierungen“ führen zu weiteren Stigmatisierungen, sodass dann auch noch weniger berufliche Möglichkeiten die Folge sind. Dies geschieht nicht nur bei ADHS, sondern auch bei anderen Auffälligkeiten wie in R. H. Largos „Kinderjahre – Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung“ weiter belegt und beschrieben.
Möglicherweise sind ja auch ganz andere Interessen im Spiel wie im Artikel der FAS bzw. in der Deutschen Apotheker-Zeitung genannt: „Methylphenidat gegen ADHS – Ein Goldesel für die Pharmaindustrie“ (Online- Ausgabe vom 12.02.2012). Jedenfalls, selbst wenn man zu der Einschätzung kommt, dass man Medikamente braucht, wogegen bzw. wofür auch immer – nach eben richtiger, ganzheitlicher, Untersuchung – ist ja wichtig, dass man auch alle Seiten sieht. Selbst wenn etwas genetisch bedingt wäre, ist ja immer noch entscheidend, was daraus gemacht wird. Bis ins 21. Jahrhundert galten „mongoloide“ Kinder – mit klar genetisch bedingter Erkrankung bzw. „Behinderung“ – auch als unbeschulbar. Bis hin zu „nicht einmal für Sonderschulen“ geeignet. Nun haben die ersten von ihnen ihr Abitur gemacht ...
Im Rahmen der „kognitiven Verhaltenstherapie“ wird viel damit gearbeitet, dass „Glaubenssätze“ geändert werden, z. B. „aus mir wird nichts“ oder „aus mir kann nichts werden“. Das half auch in meiner Praxis schon vielen, mehr oder weniger, vermeintlich oder manchmal vielleicht auch tatsächlich AD(H)S-Betroffenen. Oft half diesen – bzw. deren Eltern – aber, dass bei ihren Lehrern, Ausbildern bzw. Chefs, manchmal auch Verwandten, einige „Glaubenssätze“ ins Wanken gebracht wurden. Denn natürlich, wenn mir ständig eingeredet wird, dass ich zu kaum etwas zu gebrauchen bin, verhalte ich mich dann irgendwann auch so, auf meine Schwächen reduziert. Hätte ein Jürgen Klopp, Trainer und auch Pädagoge, seiner Mannschaft so „zugeredet“, wäre die wohl abgestiegen – statt zweifacher deutscher Fußball-Meister zu werden ...
Letztlich werde ich, gerade bei „AD(H)Slern“, immer mehr zum Vertreter bzw. Anwender „humanistischer“ Therapien bzw. Methoden, bei denen Aspekte der Freiheit, Wertschätzung, Würde, Integrität von Menschen besondere Bedeutung gegeben wird. Probleme entstehen demnach, wenn äußere Einflüsse die individuelle Selbstentfaltung blockieren. Das müssen ja nicht nur Mitmenschen sein. In unserer Gesellschaft sind viele von uns schon von Kindheit an Bedingungen ausgesetzt, die unglaublich stressen, krank und auch unruhig, aufgeregt, aggressiv bzw. depressiv machen können. Wussten Sie, dass in Kitas und Schulgebäuden die CO2-Konzentration nicht selten über das gesetzlich erlaubte Höchstmaß hinausgeht? Dies berichtet der Leiter des Instituts für interdisziplinäre Schulforschung in Bremen, H. G. Schönwälder, in der Zeitschrift „Erziehung und Wissenschaft“ 12/2011).
Allein das stresst natürlich – auch körperlich. Es macht reizbar, müde, lässt die Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit sinken. Also eine große Grundlage auch zum Entstehen von AD(H)S – bzw. zum Intervenieren von außen.
Oft sind es aber auch „nur“ schlechte Förderer (bzw. gar keine), weshalb auch ein psychologischer Berater manchmal wirklich einer der Ersten sein kann, der Betroffenen hilft, auch endlich einmal mehr Positives an sich zu sehen. Auch bei älteren Erwachsenen erlebe ich das immer wieder. Dies war oder ist gerade auch für viele (vermeintliche) AD(H)Sler das Problem, wie ja auch für Einstein, Mozart usw., die in der Schule auch schlecht waren in ihren (späteren) Paradedisziplinen! Bis sie eben auch andere Unterstützung, Förderer, Umstände usw. bekamen.
Um sich diese zu suchen, muss man sich aber auch bewusst sein, dass man Probleme bzw. Symptome wie bei AD(H)S sogar als (besonders) toller Mensch bekommen kann. Der dann aber auch natürlich Hilfe, Unterstützung verdient hat – so wie jeder Mensch sie oft braucht, auch z. B. im Rahmen einer psychologischen Beratung. Um dann seine Stärken, Potenziale noch mehr entdecken zu können und in geeigneter Form einzusetzen. Das kann ggf. auch nötig und sinnvoll sein gegenüber Menschen, die einen „schlecht machen“.
Dann kann man sich auch verdientermaßen ein besseres privates und berufliches Umfeld suchen, in dem man mehr wertgeschätzt wird, statt zu denken, dass man „nur Schlechtes“ verdient hat, weil man nicht gut ist bzw. „krank“, ein Problemkind, Versager, geborener Loser usw., was unglaublich viele AD(H)S-Betroffene leider denken – natürlich völlig zu Unrecht. Zumal es kein Mensch verdient hat, ausgenutzt oder schikaniert zu werden.
Solche Einsichten halfen schon vielen Betroffenen in meiner Beratung in – auch für mich – oft kaum vorstellbar kurzer Zeit, viel zufriedener und erfolgreicher zu werden, nach oft jahrelangen wenig bringenden anderen, auch medikamentösen, Therapien.
Allerdings natürlich auch nicht immer! „Heilungsversprechen“ sind ja zu Recht gesetzlich (sittlich sowieso) untersagt. Inzwischen warnen sogar schon diverse Sektenbeauftragte vor „Heilsbringern“ gerade auch bei AD(H)S, wonach man mit AD(H)S zu einer besonderen Rasse von Menschen gehört, ggf. auch Außerirdischen, als Vorboten einer besseren Menschheit – und dann bitte nicht mit Medikamenten „ruhig gestellt“.
Aber auch wenn man es wirklich so sehen kann, wie auch ich, dass gerade (besonders) tolle Menschen oft in Ecken geschoben werden wie A(D)HS – besonders (positiv!) aktive, lebensfrohe, kreative, auch soziale Menschen, die dann aber durch entgegengesetzte Bedingungen, Umstände besonders aufgeputscht bzw. „eingedämmt“ werden. Viel zu einengende, unkreative soziale Strukturen, Abläufe, auch Gebäude usw. beeinträchtigen natürlich gerade besonders kreative, soziale, lebendige Menschen, die dadurch besonders unruhig bzw. depressiv werden können …
Ich meine Menschen, die sich noch viel positiver entwickeln könnten. Denn, wie z. B. der Verfasser des Standard-Lehrbuches „Psychologie“, P. G. Zimbardo, auf Seite 588 völlig zu Recht klarstellt: „Der Diagnostiker sollte stärker als bisher erkennen, dass der Mensch, den er durch eine Diagnose beschreibt (…) in seinem aktuellen Handeln und Erleben genauso durch die derzeitige Lebenssituation beeinflusst wird wie durch überdauernde Merkmale.“ Das bedeutet also, dass bei anderen, besseren Umständen viel bessere Leistungen möglich sind bzw. Menschen auch weniger Probleme haben können.
Wenn Menschen verzweifeln und z. B. depressiv werden – „nur“ weil sie ihre tollen Potenziale bisher nicht ausschöpfen durften – bedürfen sie ggf. fachmännischer und sogar medikamentöser Unterstützung. Ansonsten kann sie das völlig überfordern, in den Suizid treiben oder sonst fatal enden – wie bei Anhängern von Ideologien, denen sogar verboten wurde, Hilfe zu suchen …
Sie sehen, AD(H)S ist ein sehr vielschichtiges Thema, bei dem wirklich in alle Richtungen Vorsicht geboten ist. Für die Betroffenen selbst geht es letztlich darum zu erkennen, dass sie wirklich nicht „behindert“ sind. Sondern man wird als AD(H)S-Betroffener behindert – durch Vorurteile, schlechte Bedingungen, die Umstände, zu wenig Unterstützung, Förderung oder einfach „nur“ durch fehlende Aufmerksamkeit anderer Menschen.
Da ist auch meistens „nur“ das Defizit …
Wolfgang Laub
Generation ADHS
Trainerverlag ISBN 978-3-8417-5061-7
Wolfgang Laub
Dipl.- Pädagoge mit Fortbildungen zum systemischen Berater, in Systemischer (Familien-)Therapie, Heilund Sonderpädagogik und Sozialmanagement. Zertifiziert als Umgangspfleger, Verfahrensbeistand in Kindschaftssachen, Heilpraktiker für Psychotherapie, Autor. Falkensee (Berlin) und Kiel