Gefühle gehören nicht ins Klassenzimmer!
Fallstudie: Stressfreie Kommunikation – für mehr Gelassenheit im (Schul-)Alltag!
Im Herbst 2012 suchte mich Frau M., eine Realschullehrerin Mitte vierzig auf, weil sie unter starker Erschöpfung litt. Frau M. klagte über massive Probleme mit ihren Schülern, die keinen Respekt vor ihr zeigen und zu denen sie einfach keinen Draht findet. Der Schulalltag lauge sie aus, an manchen Tagen hat sie Angst, den Klassenraum zu betreten. Ihr äußeres Erscheinungsbild ist von starker Nervosität und tiefer Traurigkeit gekennzeichnet. Ihre Stimme ist brüchig, teils aggressiv, wenn sie von den pubertierenden Schülern berichtet. Eigentlich wolle sie nur eine gute Lehrerin sein und ihren Erziehungs- und Bildungsauftrag („aus Monstern Menschen zu machen“) bestmöglich erledigen. Nun aber habe sie den Draht zu ihren Schülern verloren. Sie berichtet von einer großen Wut und dem zunehmenden Gefühl von Hilflosigkeit.
„Was mache ich falsch?“ Diese Frage richtete sie mehrmals an sich selbst. Gleichzeitig wies sie ihren Schülern während der Schilderung von Konfliktsituationen im Klassenraum immer wieder die Schuld zu, sparte nicht an Kritik und Vorwürfen, und stellte sie als frech, respektlos, brutal, gemein und dumm dar. Mehrfach betonte sie in der ersten Sitzung, dass sie nicht über ihre Angst und Hilflosigkeit reden möchte, weil sie sich dafür schäme, Gefühle zu zeigen – sowohl vor mir als auch vor ihren Schülern. „Gefühle gehören nicht in den Klassenraum.“
Um mir ein detaillierteres Bild davon zu verschaffen, welche Beziehung Frau M. zu ihren Schülern hat, ließ ich sie zunächst einen Wutbrief schreiben. So hatte die Patientin Gelegenheit, scheinbar lange angestauten Aggressionen Luft zu machen. Der Brief sollte gleichzeitig Grundlage für unsere weitere Arbeit sein.
In der zweiten Sitzung las Frau M. das Schreiben laut vor. Ich hatte starke Verärgerung vermutet, teilweise waren ihre Formulierungen aber voller Verachtung, was mich auf tiefe Verletzungen schließen ließ. Dabei passte ihre Stimme nicht zum Inhalt, sie war zu leise und zittrig für Sätze wie: „Wenn ich dich schon sehe, dann könnte ich dir eine reinhauen ...“. „... ihr nervt mich. Diese Arroganz und Faulheit nerven mich ...“. „Wegen euch ist der ganze Tag versaut ...”. „... ich verachte es, dass ihr vor nichts Respekt habt!“
Wir nahmen einige der Formulierungen genauer unter die Lupe und ich spiegelte Frau M. ihre Haltung gegenüber den Pubertierenden. Ziemlich schnell wurde klar, dass Gefühle wie Wut, Angst und Selbstzweifel durchaus präsent waren und dass ihre Strategie – möglichst wenig Gefühl im Klassenraum, möglichst wenig Angriffsfläche bieten – nicht aufging.
Es gelang mir, Frau M. durch einen Perspektivwechsel in die Rolle der Schüler schlüpfen zu lassen und ihr so zu vermitteln, wie diese sich fühlen. Abschließend erarbeiteten wir gemeinsam ein Ziel, welches Frau M. auf einer Karte notierte: „Ich möchte neue Wege finden, meine Schüler (wieder) besser zu erreichen.“ Ich schlug Frau M. vor, mit der Methode der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) nach Marshall B. Rosenberg konkrete Werkzeuge zu erarbeiten, mit denen sie besser in Kontakt mit den Schülern kommen sollte.
Die GFK kann dabei unterstützen, die Beobachtungen von der Bewertung zu trennen, Gefühle und Bedürfnisse auszudrücken, ohne zu kritisieren, zu verurteilen oder anzuklagen, Bitten zu formulieren, ohne zu erpressen, zu manipulieren oder zu drohen und hinter feindseligen Äußerungen des Anderen seine unausgesprochenen Gefühle/Bedürfnisse wahrzunehmen. Der Fokus liegt auf Werten und Bedürfnissen, die alle Menschen gemeinsam haben. Die GFK regt zu einem Sprachgebrauch an, der Wohlwollen verstärkt und gleichzeitig Ablehnung und Abwertung vermeidet – ein zentrales Thema bei Frau M., die sich gleich sehr zugänglich für diese systematische Herangehensweise zeigte.
Nachdem ich der Patientin in der dritten Sitzung die Grundhaltung in der GFK nahelegte – Empathie, Akzeptanz und Wertfreiheit als Basis für ein positives Gesprächsklima – regte ich sie zu ersten kleinen generischen Übungen an.
So sollte sie z. B. ein aktuelles Problem wertfrei schildern (1. Ich nehme wahr).
Im zweiten Schritt ergänzten wir die sachliche Beobachtung mit dem ausgelösten Gefühl (2. Welches Gefühl löst Wahrnehmung in mir aus?).
Drittens sollte Frau M. dieses Gefühl um ein dahinter liegendes Bedürfnis erweitern (3. Ich brauche, um mich wohlzufühlen).
Schließlich sollte sie daraus eine konkrete Handlung vom Gesprächspartner fordern (4. Ich wünsche mir von dir).
Die Erarbeitung von Gesprächsförderern (z. B. Gefühle spiegeln, aussprechen lassen) und -blockierern (z. B. bagatellisieren, moralisieren) sollten ebenfalls ein wichtiges Rüstzeug für die künftige Gesprächsführung sein.
Die vier Punkte dienten in den kommenden Sitzungen als Leitfaden, um die Sprachmuster von Frau M. zu analysieren und schließlich Schuldzuweisungen und Kritik in Gefühle und Bedürfnisse zu übersetzen. Ein Beispiel aus der Übersetzungsarbeit:
- Er quatscht die ganze Zeit dazwischen.
- Ich? Warum unterbreche ich ihn nicht?
Gefühl: Angst
Bedürfnis: Ruhe und Respekt - Er ist laut und frech, dominant, will mich ärgern.
- Ich? Wie lasse ich mich unterdrücken?
Gefühl: Selbstzweifel
Bedürfnis: Anerkenung/Wertschätzung
„Unsere Sprache ermuntert, andere
in Schubladen zu stecken, statt
unsere Bedürfnisse zu formulieren.“
(Marshall B. Rosenberg)
Nach etwa fünf Sitzungen gelang es der Patientin, die Aufmerksamkeit im Sprachprozess zu verlagern und ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse ebenso wahrzunehmen und zu formulieren wie die des Gesprächspartners, was ich anhand von Rollenspielen gut beobachten konnte. Schließlich berichtete Frau M. von einer aktuellen Situation, die sie mittels empathischer Kommunikation selbstbewusst gemeistert hat.
Die Situation
Ben, ihr „schlimmster Schüler“ steht an der Tafel und macht eine obszöne Onanierbewegung in den Klassenraum. Die Schüler kichern, Unruhe bricht aus. Frau M. reagiert zunächst erbost und weist Ben harsch zurecht. Dann besinnt sie sich:
Das Gefühl: Verärgerung.
Das Bedürfnis: Anerkennung der Arbeit, die sie in den Unterricht gesteckt hat und Respekt gegenüber Erwachsenen/Lehrern (mit wichtigem Auftrag).
Der Dialog
Frau M.: „Du benimmst dich wie ein Neandertaler, völlig überflüssig und dämlich deine Geste (Kritik). Nur weil du wieder mal alle störst, schaffen wir den zweiten Teil der Übung nicht, den ich extra vorbereitet habe.“ (Schuldzuweisung).
Ben: „Dann schaffen wir die Übung halt nicht, ist eh langweilig.“ (Auf den Angriff von Frau M. folgt ein Gegenangriff).
Frau M.: „Ich höre heraus, dass du dich langweilst, sind meine Aufgaben zu leicht für dich?“ (Frau M. greift empathisch das geäußerte Gefühl der Langeweile auf und zeigt dem Schüler damit, dass sie ihn ernst nimmt).
Ben: „Voll.“
Frau M.: „Klingt, als würdest du dich langweilen, weil du unterfordert bist. Sind die Aufgaben zu einfach für dich?“ (Frau M. versucht das Bedürfnis des Schülers zu ermitteln, zeigt ihm damit abermals ihre Wertschätzung)
Ben: „Ne, macht einfach keinen Bock.“
Frau M.: „Dir machen meine Aufgaben keinen Spaß, höre ich das richtig aus deiner Aussage heraus? Du wünscht dir Aufgaben, die mehr Spaß machen?“
Ben: „Nee, nur Spaß, keine Aufgaben (deutet wieder die Onanierbewegung an).“
Frau M. fühlt sich kurz eingeschüchtert und hat Angst, die Situation nicht unter Kontrolle zu behalten. Sie bemerkt dann, dass die Klasse diesmal nicht lacht, was ihr Mut gibt, den Dialog weiterzuführen – eine wertschätzende Haltung gegenüber den Schülern hat anscheinend Respekt der Schüler gegenüber Frau M. zur Folge.
Frau M.: „Den Spaß, den du dir vorstellst, können wir in der Schule nicht bieten, aber wir können versuchen herauszufinden, wie wir gemeinsam den Unterricht so gestalten können, dass die Aufgaben spannender sind. Ich mache mir dazu abends viele Gedanken und bin nun sehr enttäuscht darüber, dass ihr dies nicht würdigt.“ (Frau M. hat ihr Gefühl der Enttäuschung preisgegeben, ohne sich zu entblößen. Gleichzeitig gibt sie den Schülern das Gefühl der Mitbestimmung und zeigt so wiederum Respekt, den sie im Gegenzug auch erwartet.)
Konrad, ein anderer Schüler mischt sich ein: „Es ist langweilig, weil Sie immer nur vorgeben! Die andere Klasse kann mal Themen vorschlagen, neulich haben die sogar einen Ausflug gemacht, aber Sie geben immer nur vor.“ (Mit dem Aussprechen des konkreten Bedürfnisses und einer implizierten Handlungsaufforderung – wir wollen mitgestalten – ist das Gespräch fast auf Augenhöhe angelangt.)
Frau M.: „Höre ich heraus, dass ihr gerne mal den Unterricht vorgeben wollt?“
Ben: „Klar wir schmeißen die Stunde. Dann brauchen wir sie nicht mehr. Dann hätten wir Spaß hier ...“
Frau M.: „Das würde mich aber sehr traurig machen. Vielleicht können wir damit anfangen, dass ihr mir sagt, was ich tun kann, damit ihr euch im Unterricht nicht langweilt?“
Gemeinsam mit ihren Schülern erarbeitete Frau M. eine „flexible Stunde“, in der einmal je Monat abwechselnd Schüler den Unterricht gestalten dürfen.
Über eine empathische und authentische Kommunikation ist es Frau M. gelungen, eine respektlose Handlung in einen wertschätzenden Dialog umzuwandeln, in dem beide Gesprächspartner ihre Gefühle und Bedürfnisse schildern – mit dem Ziel, die Situation so zu gestalten, dass sie für alle Beteiligten zufriedenstellend ist.
Frau M. hat sich mit ihrem klaren und offenen Auftreten nachhaltig Anerkennung und Respekt der Schüler erarbeitet, sodass sie in Zukunft motivierter, selbstbewusster und gelassener in den Unterricht gehen wird.
Ela Windels
Sozialpsychologin (M. A.) mit psychotherapeutischer Zusatzausbildung, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Kommunikationstrainerin und Schreibcoach, Dozentin für GFK an den Paracelsus Schulen, selbstständig in eigener Praxis in Hannover