Neid: Ein Plädoyer für „negative“ Gefühle
Wir kennen diese Gefühle, vielleicht nicht alle, aber doch sicher einige davon: Wut, Angst, Trauer, Scham, Schuld, Ekel, Verachtung, Neid, Reue, Misstrauen, Verzweiflung, Einsamkeit, Leere, Enttäuschung, Sorge, Ungeduld.
Niemand würde wohl behaupten, dass diese Gefühle angenehm sind. Doch wenn wir Gefühle als „negativ“ bewerten und ihnen damit gedanklich einen Stempel aufdrücken, was passiert dann?
Wir versuchen, sie zu vermeiden. Und dennoch treten sie immer wieder in unser Bewusstsein (schon Sigmund Freud schrieb, dass solche Gefühle immer wiederkehren, und mit der Zeit auch auf hässlichere Weise), und wir wollen sie schnellstens wieder loswerden.
In unserer zivilisierten und technisierten westlichen Gesellschaft ist es generell nicht einfach, über Gefühle zu reden, und erst recht gilt dies für die oben genannten unangenehmen Gefühle. Man braucht nur einen Blick in die bekannten Social-MediaKanäle zu werfen, wo uns in den allermeisten Beiträgen eine Illusion der Positivität und des gelingenden Lebens gezeigt wird. Das mag auch durchaus der Wirklichkeit entsprechen, aber es ist nur ein Ausschnitt aus dem Leben von anderen.
Alle Gefühle haben ihre Berechtigung
Ich glaube, wenn wir dauerhaft unsere Gefühle unterdrücken, leugnen und nicht wahrhaben wollen, dann verleugnen wir uns auf Dauer selbst. Gefühle sind ein Ausdruck unserer Seele. Und wir als Menschen sind Wesen mit einem Körper, einer Seele und einem Geist. Und unseren Geist können wir nutzen, um konstruktiv mit Gefühlen umzugehen.
Wenn wir beginnen, unangenehme Gefühle näher zu betrachten, werden wir mit der Zeit feststellen, dass sie eine Berechtigung haben. Wir müssen diese Gefühle aber zulassen, so unangenehm sich dies auch erst mal anfühlen mag. Gefühle nerven uns nicht einfach, sie wollen uns hingegen etwas Wichtiges zeigen, uns auf etwas hinweisen, das uns guttut. Unsere Seele will uns nichts Böses, sie will uns den Weg in ein gutes Leben aufzeigen.
Gefühle machen uns menschlich
Unangenehme Gefühle sind die zweite Seite der Medaille, die uns zum Menschen macht. Die angenehmen und die unangenehmen Gefühle zeigen unsere Seele und machen uns zu einem ganzen Menschen. Es liegt letztlich auch immer an uns, mit unseren Gefühlen umzugehen. Gefühle sind nicht einfach da und überwältigen uns, sondern wir können unseren Geist zu Hilfe nehmen, um unser Leben zu gestalten.
Beim Thema „negative“ Gefühle spielt vor allem in Deutschland der Neid eine besondere Rolle, Stichwort „Neid-Debatte“.
Neid kann ein Gefühl mit großer Tragweite sein
Wenn wir neidisch sind, dann schauen wir auf das, was andere haben, was wir aber selbst nicht haben. Das können Dinge sein, aber auch menschliche Beziehungen. Wir können potenziell auf alles neidisch sein.
Wenn wir neidisch sind, glauben wir, dass jemand anders etwas Erstrebenswertes hat. Denn wenn es nicht erstrebenswert wäre, würden wir es nicht weiter beachten und wären daher nicht neidisch.
Das Problem des Neids
Schwierig wird es, wenn wir immer wieder neidisch sind wegen ähnlicher Dinge. Denn in solch einem Fall geraten wir sozusagen immer wieder in die gleiche Gefühlsspirale. Das ändert jedoch nicht viel. Wir kommen immer wieder in die gleichen Situationen oder begeben uns in die gleichen Beziehungen und wundern uns, dass wir immer wieder neidisch sind.
Wenn wir jedoch immer wieder das Gleiche tun, wird es immer wieder zum gleichen Ergebnis kommen.
Neid kann sich auf unsere Beziehungen negativ auswirken, da er unseren Verstand vernebelt. Das führt dazu, dass wir nur noch selektiv das Beneidete wahrnehmen. Das kann zu einer geistigen Fixierung führen, die uns immer wieder auf das Beneidete schauen lässt. Wenn wir dann noch unseren Neid kommunizieren, kann dies unsere Beziehungen belasten. Doch am meisten belasten wir damit letztlich uns selbst. Denn eine selektive Wahrnehmung hilft uns nicht heraus aus der Neidspirale.
Neid als Triebfeder
Wir können unseren Neid nutzen, um zu schauen, was sich wirklich an Bedürfnis unsererseits hinter diesem Gefühl verbirgt. Ist es vielleicht eine Unzufriedenheit mit uns selbst? Sind wir zu hart zu uns? Und wollen wir das Beneidete wirklich oder handelt es sich dabei vielleicht mehr um ein Idealisieren? Ist es bloß die Vorstellung, die uns antreibt, die aber gar nicht realistisch ist?
Es gibt vielfältige Möglichkeiten, unseren Neid genauer zu untersuchen. Wenn wir schauen, was wir wirklich wollen, können wir den Neid überwinden. Denn wenn das Beneidete für uns nicht erreichbar ist, macht es wenig Sinn, dem Unerreichbaren weiterhin geistig zu folgen durch ein neidisches Gefühl.
Hilfreich ist es hingegen, dass wir uns neue Ziele suchen. Dies verändert unseren Fokus der Aufmerksamkeit.
Wenn wir dann diesem neuen Ziel folgen, werden wir bemerken, dass sich der Neid verflüchtigt und wir ihn nicht mehr spüren.
Dann können wir die Energie, die wir nicht mehr auf den Neid verwenden, für unsere neuen Ziele einsetzen.
Julia Möller
Psychologische Beraterin, Frankfurt am Main