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Systemische Therapie, Teil 2: Techniken und Fragestellungen

Wie ist es nun zu erklären, dass „der Begriff Systemische Therapieverfahren häufig falsch erklärt“ wird, mein Ausgangspunkt für diesen Artikel?

Wie alle anderen Therapieformen machen auch die Systemischen Therapieverfahren (SV) einen Wachstumsprozess mit. Dabei kommen neben Weiterentwicklungen vor allem auch neue Vokabeln über unseren Horizont. Vor 1970 wurde der Begriff „Systemisch“ im Allgemeinen für einen Rechtschreibfehler gehalten. Schon in den 1950er-Jahren entdeckte allerdings Virginia Satir, dass der monokausale Blick auf das seelische Leiden eines Menschen häufig Schuldige erzeugt, die es nicht sind, eine Fortsetzung der Tradition christlicher Schuldgefühle, zu denen die Bereitschaft bis heute hoch ist: Verdrängung, Widerstand, Änderungs-Unwilligkeit oder -Unfähigkeit sind einige Stichworte der Tiefenpsychologischen Lehrmeinungen (s. Teil 1 dieses Artikels).

Allerdings ist das dann mit unangenehmen Gefühlen verbunden, sodass der damals noch Patient genannt – aus dem Lateinischen patiens: leidend, duldend; heute sprechen wir in den SV vom Klienten (immer m/w/d) – nicht nur sein Problem hatte, sondern sich dafür auch noch dumm und dämlich fühlte.

Es wurde also eine Reihe von Techniken entwickelt, die, wie das historisch betrachtet mal so ist, immer weiter differenziert wurden, bis sie eigenständige Therapieformen zu sein schienen. Zu jeder einzelnen Technik gibt es inzwischen ein ganzes Regal von Lehrbüchern. Um nur einige zu nennen:

  • Zirkuläres Fragen, das auf den vermuteten Standpunkt Dritter (auch Anwesender) abzielt
  • Skalenfragen zur Verdeutlichung von Unterschieden und Fortschritten und zur Änderung der Aufmerksamkeit
  • Herausarbeiten der positiven Aspekte von problematischen Sachverhalten
  • Umdeutungen, Symptomverschreibungen, Paradoxe Intervention
  • Darstellen von Familienbeziehungen als Standbild aus Personen im Raum
  • Psychodramatische Techniken wie Rollenwechsel und Rollentausch
  • Hausaufgaben diverser und individuell angepasster Art zur Erledigung zwischen den Sitzungen

Bekannte Strategien

Zirkuläres Fragen

Die Technik besteht darin, die Gefühle, Reaktionen und Perspektiven, die eine Person infolge von Verstrickungen entwickelt, nicht direkt von dieser Person zu erfragen, sondern von einer dritten Person, manchmal auch die von Nichtanwesenden. Beispiel: „Wenn ich Ihre Schwester frage, wie es Ihnen dabei geht, was würde sie mir erzählen?“ – Dann die Schwester fragen. Eine Strategie mit seltenen Vorteilen für alle Beteiligten, sofern eine dritte Person dabei ist: Der Klient kann einmal zuhören, wie andere über ihn sprechen oder denken. Wann hat man das schon, wo doch so viele einmal Mäuschen spielen würden!

Das Mailänder Modell

Einen wesentlichen theoretisch-historischen, aber auch praktischen Ansatz stellt das Mailänder Modell der Gruppe um Mara Selvini Palazzoli dar. Sie wurde kontinuierlich unterstützt von Paul Watzlawick, der regelmäßig nach Mailand reiste und die Ergebnisse des dortigen Zentrums für Familientherapie mit den Therapeuten diskutierte. Die Mailänder Gruppe erzielte mit ihrer „Verschreibung“ in ungewöhnlich kurzer Zeit Erfolge bei schizophrenen Familienmitgliedern und bei Essstörungen.

Virginia Satir

Sie gilt als Mutter der Systemischen Therapie. Sie hat das systemische Repertoire und die Methodik erweitert und weiterentwickelt – durch Familienskulptur, Familienrekonstruktion, Parts Party. Dadurch können biografische Muster und generations- übergreifende Problemstellungen entdeckt und bearbeitet werden bzw. bei der Parts Party eigene Persönlichkeitsanteile sichtbar gemacht und integriert werden. Satirs Arbeit ist die Vorläuferin der systemischen Aufstellungsarbeit.

Inneres Team

Die Arbeit von Virginia Satir war die Inspiration für das Innere Team, ein Modell des Hamburger Psychologen Friedemann Schulz von Thun, um Persönlichkeitsanteile und deren Eigenschaften bewusst zu machen. Er spricht von der Vielseitigkeit des menschlichen Seelenlebens. Das Modell vom Inneren Team wird zunehmend für Psychotherapie und Coaching benutzt, um Persönlichkeitsanteile oder Symptome systemisch aufzustellen. Als Setting werden häufig bezeichnende Platzhalter als Bodenanker benutzt.

Heidelberger Schule

Der deutsche Psychoanalytiker und Pionier der Familientherapie Helm Stierlin war Inhaber des Lehrstuhls für Psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie der Universität Heidelberg. Um ihn sammelte sich ein Kreis junger und engagierter Therapeuten, die Heidelberger Schule, und propagierte den narrativen Ansatz, Mehrgenerationenperspektive, Genogramm und Paartherapie.

Aufstellungsarbeit

Während die Familienaufstellung nach Hellinger von der Systemischen Therapie als „zu phänomenologisch“ und „zu direktiv“ (Satir) abgelehnt wird, werden Systemaufstellungen, wenn diese dem konstruktivistischen Ansatz (dein Leben ist das, was du darüber erzählst) entsprechen, heute in den SV hauptsächlich mit der freien Arbeit mit allen Beteiligten gleichgesetzt: Alle in das Problem verstrickten Personen werden in Beziehung zueinander gesetzt, die Beziehungen werden einzeln angeschaut: Abstände, historische Ereignisse, Kritik – Ideale – Urteile, Schuld und Verpflichtungen und viele andere Aspekte stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Schule von Milwaukee

Insoo Kim Berg und ihr Mann Steve de Shazer entwickelten in Milwaukee die lösungsfokussierte Kurzzeittherapie. Man geht davon aus, dass Problem und Lösung zwei verschiedenen Welten angehören. Von Milton H. Erickson inspiriert, versteht de Shazer das Therapiegeschehen als Prozess der Entwicklung und Loslösung vom jeweiligen Problem. Wichtige Instrumente der lösungsfokussierten Kurzzeittherapie sind eine Problemskalierung und der Interventionsablauf, der als Wunderfrage („Wenn über Nacht ein Wunder geschehen und dein Problem über Nacht verschwunden wäre, woran würdest du es als Erstes merken?“) bezeichnet wird.

Eine erstaunliche, fast unglaubliche Einzelheit dieser lösungsorientierten Arbeit ist, dass der Therapeut nicht einmal das Problem zu kennen braucht, um dem Klienten eine Weiterentwicklung zu ermöglichen. Diese These konnte ich wiederholt bestätigen.

Fragen

Der Charakter der Fragen hat sich verändert. Es wird nicht nach Ursachen oder Fehlern gefragt, sondern nach den Zusammenhängen in der Kommunikation des Klienten. Hier stelle ich Ihnen eine Auswahl von Fragen vor, die einen überraschenden Perspektivwechsel einleiten können. Viele der aufgeführten Fragen umfassen die genannten Themen: Standpunkt Dritter, Skalen, positive Aspekte, Umdeutung, Familienbeziehungen, Rollenwechsel, Hausaufgaben.

Wenn ich die Fragen im Rahmen eines Seminars vorstelle, lade ich die Teilnehmer üblicherweise ein, sie an sich selbst zu stellen, mit der Bitte, sich dazu ein aktuell besonders drückendes Thema des eigenen Lebens vorzustellen. Suchen Sie sich fünf Fragen aus den Fragenkomplexen aus und hängen Sie die auf einem Zettel an Ihren Schreibtisch.

Auch die Haltung des Therapeuten hat sich verändert: Er ist nicht mehr die geheimnisvolle Autorität am Kopfende der Couch, der nach einer Dreiviertelstunde seine Deutung abgibt, er ist ein Begleiter, auf Augenhöhe mit dem Menschen, der zu ihm gekommen ist, der sich von diesem durch einen Satz guter Fragen unterscheidet. Wenn’s gut läuft, stellt er seine Frage, und der Klient sagt: Hey, so habe ich das ja noch gar nicht betrachtet!

Alle Fragen können sowohl vermischt als auch wiederholt werden, der Kreativität des Therapeuten ist keine andere Grenze als die der beiderseitigen Würde gesetzt. Kritik, Ideale und Urteile bleiben aus. Es handelt sich um offene Fragen, nicht um Suggestivfragen. Alle Fragen sind Einladungen zu einem Wechsel der Perspektive, jede Frage kann das leisten.

Fragen nach der Vergangenheit

Die Beschäftigung mit der Vergangenheit kann durchaus fruchtbar sein; es kommt nur darauf an, wie man fragt.

  • Wann war es zum letzten Mal so, dass Sie sagen würden: „Es war o.k.“?
  • Was war anders, als es o.k. war? Wie haben Sie das gemacht/zugelassen?
  • Was war in der Vergangenheit so, dass Sie es sich wieder wünschen?
  • Angenommen, dieses Thema hätte Ihnen nie Probleme gemacht, welche Erfahrungen hätten Sie trotzdem gerne gemacht?
  • Gab es einen Zeitpunkt, an dem Sie etwas anderes hätten tun können, damit die Sache eine andere Richtung genommen hätte? Können Sie dies nachholen?
  • Gab es eine Situation in Ihrem Leben, die Ihnen ähnlich zugesetzt hat? Was/wer hat Ihnen damals am meisten geholfen?
  • Welche Leitsätze haben Ihnen bisher in schwierigen Situationen geholfen?
  • Haben Sie schon einmal versucht, weniger zu tun, um das Thema zu klären, es zu ignorieren oder sogar so zu tun, als sei es gar nicht vorhanden?

Fragen nach der Zukunft

Falls die Vergangenheit keinen Lösungsansatz bietet, lohnt es unter Umständen, sich der Zukunft zuzuwenden. Dies kann die Wahrnehmung der Gegenwart deutlich verändern.

  • Angenommen, Ihr Problem würde sich über Nacht lösen, ohne dass Sie es sofort mitbekommen – was würde Ihnen im Laufe der nächsten Tage auffallen?
  • Was würden andere in Ihrer Umgebung merken?
  • Was müssten Sie ab heute tun, um Ihre Lage in der beklagten Sache weiter zu verschlechtern bzw. den derzeitigen Stand aufrechtzuerhalten?
  • Angenommen, es ginge Ihnen ohne Ihr Zutun wieder optimal. Wie könnten Sie den derzeitigen Zustand wieder absichtlich herbeiführen?
  • Bei wem wird die Verwunderung am größten sein, wenn Sie Ihr Problem gelöst haben?
  • Angenommen, in einigen Jahren kommt Ihre Tochter mit demselben Problem zu Ihnen. Was könnten Sie wohl für Tipps geben?
  • Angenommen, Ihr Thema wäre nicht mehr existent, was würde Ihnen fehlen?
  • Angenommen, das aktuelle Problem wäre gelöst, welches würden Sie dann als nächstes angehen? Haben Sie die Möglichkeit, dieses zuerst zu lösen?

Fragen nach der Gegenwart

Man könnte vielleicht meinen, über die Gegenwart wäre dem Probleminhaber bereits alles Wissenswerte bekannt – Tatsache ist aber, dass häufig gerade die Perspektive ausgelassen wird, die einen Lösungsansatz bietet. Dabei können es, gerade bei Fragen nach der Gegenwart, für einen Außenstehenden unspektakuläre Kleinigkeiten sein, die einen lösungsrelevanten Unterschied ausmachen.

  • Was in Ihrem Leben ist so, dass Sie es möglichst unverändert lassen wollen?
  • Was soll in dieser Beratung geschehen, damit Sie sagen können: „Es hat sich gelohnt, hierher zu kommen“?
  • Welchen kleinen Schritt könnten Sie heute noch tun, um sich in die gewünschte Richtung zu bewegen?
  • Wenn Sie alle Möglichkeiten hätten, Ihr Leben zu verändern, was würden Sie sofort machen?
  • Was müsste am Zustand der Welt geändert werden, damit Sie unter Ihrem aktuellen Problem nicht mehr leiden würden? Können Sie selbst etwas in dieser Richtung bewegen?
  • (wenn etwas weggewünscht wird, z. B. „Ich möchte nicht mehr so unkontrolliert essen.“) Was hätten Sie gerne stattdessen?

Sonstige möglicherweise nützliche Fragen

Auch wenn einige Fragen bereits an anderer Stelle im Text auftauchen, sollen sie der Vollständigkeit halber hier noch einmal genannt werden.

Skalenfragen

Einstiegsfrage: „Stellen Sie sich vor, auf einer Skala von 1 bis 10 bedeutet die 1 „der bisherige Tiefststand“ und die 10 „die optimale Lage“

  • Wo befinden Sie sich zurzeit auf der Skala?
  • Wie haben Sie es geschafft, von 1 wieder auf 3 zu kommen?
  • Wie werden Sie es schaffen, einen Punkt höher zu kommen?
  • Woran werden Sie merken, dass es genug ist?
  • Was sehen andere, wenn Sie auf Ihrer Skala einen Punkt höher sind?
  • Was kann ich tun, damit Sie auf Ihrer Skala einen Punkt höher kommen?

Metapherfragen

Wenn mit einem bildhaften Vergleich gearbeitet wird, diesen aufnehmen und lösungsorientiert weiterfragen, z. B. auf die Aussage „Ich fühle mich wie ein Vogel im Käfig ...“ kann man fragen:

  • Hat der Käfig eine Tür? Wie schafft es der Vogel, die Tür zu öffnen?
  • Was macht der Vogel, wenn es ihm gut geht?
  • Wäre es ein Unterschied, wenn der Käfig anders eingerichtet wäre als zurzeit? Inwiefern?
  • Was ist am Käfigdasein so angenehm, dass es möglichst weiterhin so bleiben sollte?
  • Wohin würde der Vogel gerne fliegen?
  • Was redet der Vogel mit anderen Vögeln, wenn er wieder zufrieden ist?

Zirkuläre Fragen

Dabei werden unterschiedliche Perspektiven eingenommen, um ein Thema zu betrachten, z. B.:

  • Was würde Ihre Mutter bemerken, wenn Ihr Problem gelöst wäre?
  • Was würde den Kindern auffallen, wenn Sie sich „lockerer fühlen“?
  • Was meinen Sie, würden die Nachbarn sagen, wenn Sie dieses schwierige Thema hinter sich haben? Was würden diese darauf antworten?
  • Was würde der Mensch, der Sie am besten kennt, sagen, wenn es Ihnen etwas besser geht?

Wortspiele

Häufig ändern neue Begriffe auch die Ansicht der Situation und fördern die Kreativität des Therapeuten/Klienten, z. B.:

  • Sie nennen Ihre Situation „aussichtslos“. Welches Wort würde sie genauso gut beschreiben? Versuchen Sie mehrere Versionen, bis Sie die finden, bei der Sie sich besser fühlen.
  • Sie sagen, Sie leiden unter „Depressionen“. Wenn Sie ein kleines Kind wären und dieses Wort noch nie gehört hätten, was würden Sie stattdessen sagen?
  • Sie sind ein kultivierter Mensch und beschreiben die Lage sehr rücksichtsvoll. Wie würden Sie diese nach einigen Gläsern Bier vielleicht nennen?
  • Angenommen, ein Medizinmann aus einem Naturvolk würde eine Diagnose zu Ihrem Problem stellen, wie könnte die wohl lauten? Welche Therapie würde er vorschlagen?

Und was soll das?

In diesen Fragen sind die Wege zu den genannten Strategien der SV enthalten:

Zirkuläres Fragen, Skalenfragen, positive Aspekte des Status quo, Umdeutung, Symptomverschreibung, Paradoxe Intervention, Familienbeziehungen als Standbild, psychodramatische Techniken, Hausaufgaben.

Der Therapeut muss nicht wissen, wie eine Störung zu deuten ist, was der Patient zu lernen hat, was richtig und was falsch ist und wie man eine möglichst glückliche Person wird. Das sind alles Dinge, die unvermeidlich dem historischen Wandel unterliegen und somit nichts mit Wahrheiten zu tun haben können. Der Therapeut muss lediglich ahnen, welche gute Frage sich in einer gegebenen Situation anbietet, und eine gute Frage ist dadurch gekennzeichnet, dass der Klient selber sagt: hey, gute Frage!, und dass sie ihn ein Stück seines Weges vorwärts leitet. Wohin? Ja, woher sollen wir das denn wissen!

Der Status quo

In Deutschland wird seit Ende 2008 die Systemische Therapie als wissenschaftliches Psychotherapieverfahren anerkannt. Bestätigt wird die Wirksamkeit der Systemischen Therapie in der Behandlung von Erwachsenen bei:

  • affektiven Störungen (ICD-10: F3x)
  • Essstörungen (ICD-10: F50)
  • psychischen und sozialen Faktoren bei somatischen Krankheiten (ICD-10: F54)
  • Missbrauch und Abhängigkeiten (substanzgebunden und nichtsubstanzgebunden) (ICD-10: F1x, F55, F63)
  • Schizophrenie und wahnhaften Störungen (ICD-10: F2x)

Ende 2018 wurde die Systemische Therapie in Deutschland in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen.

Thomas Schnura
Psychologe M. A., Heilpraktiker und Dozent

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