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„Ich hatte kein Recht auf Kindheit!“ Wenn Eltern suchtkrank sind

Es war an einem der hektischen Tage im November 2017. Ich schloss gerade die Tür zur Praxis ab, da stand sie da mit ihrem Hund in der dunklen Kälte, Lore (Name und erkennbare Zusammenhänge wurden geändert). Lore war kein Kind, sondern eine gestandene Frau von 52 Jahren, allerdings mit den großen Augen eines neugierig explorierenden Kindes. „Entschuldigen Sie, ich wollte Sie hier in der Dunkelheit nicht erschrecken. Doch komme ich immer an Ihrem Haus vorbei und freue mich über die bunten Bilder in den Fenstern. Heute fasse ich den Mut, Sie anzusprechen, denn Sie arbeiten doch psychologisch mit Kindern. Nehmen Sie sich auch einer Erwachsenen an?“ Ich erklärte der Besucherin, dass ich vor allem mit Familien arbeite und mit dem erweiterten Bezugssystem, also Erwachsenen, doch meistens haben die Beratungen einen Bezug zum Kind, das in meine Praxis kommt. „Wissen Sie, eigentlich geht es auch um ein Kind“, erwiderte Lore, „um mein Kind da drinnen“, sie zeigte auf ihre Brust. „Ich glaube, es möchte endlich sprechen und zwar mit jemandem, der sich mit verletzten Kinderseelen auskennt.“

Ich lud Lore zu einem unverbindlichen Kennenlerngespräch ein, daraus wurden 47(!) Beratungsstunden, die mir einen tiefen Einblick in die verlorene Seele eines Kindes gaben, deren Mutter suchtkrank war.

Diese Einblicke fasse ich hier gerne zusammen, auch wenn sie lückenhaft sind und selbstverständlich nicht alles wiedergeben können, was meine Klientin durchgemacht hat. Ich hoffe, damit Ihr Verständnis für die Problematik zu erweitern, und möchte ein Fenster öffnen, durch das Sie von außen in die Welt von Lore schauen können, um Augenblicke aufzufangen, die das Leben eines Kindes massiv beeinflussen können und ihm das Recht auf eine unbeschwerte Kindheit nehmen.

Ich nannte die Klientin auf ihren Wunsch beim Vornamen, dennoch blieben wir beim „Sie“. Sie sagte, sie genösse es, wenn ich ihren Vornamen so liebevoll ausspräche, dann fühle sie sich geborgen. Stimme ist ein wichtiges Element in der Beratung und Therapie, der Klang kann „nährenden Charakter“ besitzen und heilsam sein. Diese Wirkung darf nie unterschätzt werden.

Lore erinnerte sich an glückliche Kindheitstage, bevor ihr zwei Jahre jüngerer Bruder einen schweren Fahrradunfall hatte und nach Tagen im Koma verstarb. Lore war von Schuldgefühlen überwältigt. Hätte sie den Unfall verhindern können, wenn sie in der Nähe des Bruders gewesen wäre? Hätte die Mutter die Situation besser verkraftet, wenn sie statt des Bruders gestorben wäre?

Doch mit all diesen Gedanken blieb Lore allein, stattdessen übernahm sie Aufgaben und Pflichten, mit denen ein siebenjähriges Kind total überfordert war und unterdrückte die eigenen Bedürfnisse.

Ihr Vater vergrub sich in seine Arbeit, kam oftmals erst spät am Abend nach Hause. Ihre Mutter flüchtete in ihrer unbewältigten Trauer immer mehr in den Alkoholmissbrauch.

Ob es die Depressionen waren oder die zunehmende Suchtentwicklung: Die Mutter konnte kaum mehr den Haushalt führen oder sich um Lores Belange kümmern. „Ich wollte meiner Mutter unbedingt helfen, irgendwann musste es doch wieder besser werden! Außerdem tat es meinen Schuldgefühlen gut, zu helfen, denn ich fühlte mich verantwortlich und wollte meine Mutter wieder glücklich machen!

In der Schule fiel keiner Lehrkraft auf, was mit mir los war. Ich war angepasst, versuchte, nicht durch schlechte Leistungen aufzufallen. Schularbeiten machte ich nicht selten in der Nacht oder am frühen Morgen, nichts sollte meiner Mutter zusätzlich Sorgen bereiten und ich hatte wahnsinnig Angst, meine Mutter zu verlieren!“

Was Lore beschrieb, durchleben viele betroffene Kinder suchtkranker Eltern. Sie übernehmen zunehmend Verantwortung und Aufgaben, doch die Parentifizierung hat schwere Folgen für die kindliche Entwicklung. Auf der einen Seite fühlte sich Lore stark, denn sie konnte helfen und aktiv handeln, auf der anderen Seite wurden ihre eigene Trauer und ihre Angst nicht aufgefangen, sie musste eigene Bedürfnisse und Emotionen verdrängen, was langfristig zu schwerwiegenden psychischen Problemen führte. Zudem war der Druck der Geheimhaltung enorm, niemand von außen sollte etwas von dem Alkoholproblem bemerken, die Loyalität von Kindern ist hier sehr stark.

Lore schrieb in der Beratung einen Brief an ihre Mutter. Ich arbeite gerne mit schreibtherapeutischen Methoden bzw. dem kreativen Schreiben. So können innerste Gedanken und Gefühle nach außen gelangen und diese dann wieder aus der Distanz betrachtet und reflektiert werden. Auf Wunsch lese ich das Geschriebene vor, während die Klientin/der Klient eine entspannte Haltung einnimmt.

Lores Brief enthielt Wünsche, Worte, die sie nie an die Mutter richten konnte, die vor 15 Jahren verstarb und zuvor lange Zeit krank war und unter zahlreichen organischen Suchtschäden litt. Lore las mir den Brief vor, dabei weinte sie immer wieder und schluchzte. Es waren Wünsche eines kleinen Mädchens, das für ihre Leistungen gelobt werden und in den Arm genommen werden wollte, wenn es traurig war, erzählen wollte, was es am Tag erlebt hatte, spielen und tanzen wollte, das Gefühl brauchte, geliebt zu werden und wertvoll zu sein.

Doch Lores Mutter war immer weniger in der Lage, Lore auch nur ein Minimum an Liebe und Geborgenheit zu geben. Das Mädchen musste sich selbst versorgen und war auch emotional auf sich allein gestellt. Die Mutter ging nur noch aus dem Haus, um Alkohol und einige Lebensmittel zum Überleben einzukaufen. Aber sie fiel auf, oft war sie angetrunken, manchmal stürzte sie oder fing Streit mit Menschen an, die sie kritisch ansahen – mitten im Supermarkt. Wenn Lore dabei war, beruhigte sie die Mutter, packte schnell die Sachen in die Taschen und zog sie aus dem Geschäft.

In der Beziehung der Eltern wurde der Alkoholkonsum ein zunehmend dramatisches Problem, es gab viele Auseinandersetzungen. Der Vater beschimpfte seine Frau, dass sie alles „verschlampen“ ließ und nur noch „soff“. Dann suchte die Mutter wieder Trost bei Lore, oft schlief sie im Bett der betrunkenen Mutter, machte sauber, wenn sich diese erbrach, ertrug den Gestank nach Alkohol, Unsauberkeit und Erbrochenem. Oft lag die heulende Mutter in ihren Armen und erzählte von der Ungerechtigkeit der Welt und dass sie die Einzige war, die sie noch hatte und für die sie weiterlebte.

Lore hatte nur einen zum Erzählen, ihren Teddybär Brummi, der einst ihrem Bruder gehört hatte und auf den sie immer gut aufpassen wollte. Lore wurde zunehmend zum Partnerersatz für die Mutter, etwas, dass eine häufige Dynamik in Suchtsystemen darstellt, die in einigen Fällen bis zum sexuellen Missbrauch führen kann.

Eine völlige Eskalation der Situation erlebte Lore mit dem Verlust des Vaters, der in eine andere Beziehung flüchtete und sich kaum noch um Lore und ihre Mutter kümmerte. Nur der Unterhalt kam immer pünktlich. Heute glaubt Lore, dass der Vater einfach nicht anders handeln konnte, er war völlig überfordert und die Flucht aus der Familie seine Strategie zu überleben.

Zu diesem Zeitpunkt war Lore neun Jahre alt, ihre Schulleistungen wurden nun doch stark beeinträchtigt, denn sie konnte nicht mehr auffangen, dass die Mutter immer schwächer wurde, kaum noch etwas aß und bereits morgens Kaffee mit Schnaps trank.

Mittlerweile ging Lore auch allein einkaufen, musste den Alkohol für die Mutter mitbringen. Das funktionierte nur noch im kleinen Laden, der weiter weg war, im Supermarkt erhielt sie keinen Alkohol mehr. Sie schleppte die schweren Taschen nahezu 2 km weit, ihre Hände hatten noch Stunden später rote Streifen von den kneifenden Taschenschlaufen.

Sie war verzweifelt, wie konnte es weitergehen? Würde die Mutter sterben und sie war schuld daran, weil sie den Alkohol mitbrachte? Die Mutter versprach immer wieder, mit dem Trinken aufzuhören, doch es gelang ihr keinen Tag. Im Gegenteil, sie war fast durchgehend betrunken, jammerte über das Unrecht der Welt und den bösen Mann, der sie im Stich gelassen hatte.

Die Klassenlehrerin gab Lore einen Brief mit, sie wollte ein Gespräch mit der Mutter, die fast alle Elternsprechtage bislang versäumt hatte. Lore gab den Brief nie ab. Immer mehr spürte sie auch Wut gegen die Mutter, schrie sie an und zerrte sie in die Küche, damit sie etwas aß. Es kam kaum noch Widerstand vom abgebauten Körper der suchtkranken Frau.

Lore schwänzte mittlerweile mehrere Tage die Schule, sodass das Jugendamt informiert wurde. Der Besuch des Jugendamtes wurde angekündigt, Lore ahnte, dass es um ihren Verbleib zu Hause ging. Sie hatte furchtbare Angst, in ein Heim zu müssen, und schrubbte tagelang die Wohnung, räumte auf, bis alles völlig ordentlich war. Die Mutter durfte nur noch im Schlafzimmer trinken und blieb an dem Vormittag des Besuchs der Sozialarbeiterinnen tatsächlich trocken.

Die beiden jungen Fachkräfte bemerkten tatsächlich nichts, die Mutter entschuldigte sich, dass die Entschuldigungen für das Fehlen nicht bei der Lehrerin angekommen waren, diese würden nachgeholt. Eine Mitarbeiterin fragte noch, ob Tiere im Haushalt lebten, sie würde einen strengen Geruch wahrnehmen. Dann gingen die beiden.

Eigentlich hatte es sich für Lore gut angefühlt, nach ihrem Befinden gefragt zu werden, wie es ihr ging und warum sie nicht in der Schule war. Am liebsten hätte sie ihren ganzen Frust und ihre Traurigkeit herausgeschrien, aber dann wäre sie ins Heim gekommen und die Mutter wäre ganz allein geblieben. Doch so ging alles weiter, Lore und der Kampf ums Überleben, ein einsamer Kampf, der schon weit über zwei Jahre anhielt. Bis zu dem Tag, an dem sich doch etwas veränderte, ein weiterer grausamer Tag, der jedoch gute Tage nach sich zog.

Es war Lores 10. Geburtstag, nicht mal an diesem konnte ihre Mutter nüchtern bleiben, es gab kein Geschenk, keinen Kuchen, nur ein Versprechen, dass sie sich bald etwas Schönes aussuchen dürfte, doch Geld war sowieso nie da, Vaters Unterhalt und die Sozialhilfe reichten für das Notwendigste, zu dem vor allem der Alkohol gehörte. Lores Verzweiflung wurde immer größer, sie spürte, dass sie der Mutter trotz aller Anstrengung nicht helfen konnte, dass sie nicht ihrer selbst willen geliebt wurde. Sie war überfordert und am Ende ihrer Kräfte.

Ein Mädchen aus ihrer Klasse lud Lore zum Geburtstag ein, es war Lores größter Wunsch mit den anderen Kindern zu feiern und zu lachen. Sie sagte zu, besorgte beim nächsten Einkauf heimlich ein kleines Geschenk und hatte Glück, die Mutter schlief am besagten Tag ein und Lore machte sich auf den Weg zur Geburtstagsfeier.

Sie hatte Spaß an den lustigen Spielen, es gab leckere Sachen und die Eltern der Mitschülerin gaben sich total Mühe, dass alle Kinder Freude hatten. Das erste Mal seit langer Zeit vergaß Lore die belastende Welt um sich herum, sie hatte viel Spaß, genoss die Versorgung und die kurze Freiheit.

Als es dunkel wurde, durchfuhr Lore eine schreckliche Ahnung, ihre Mutter war ganz allein! Sie bedankte sich noch bei der gastgebenden Familie, dann rannte sie los, in ihrem Kopf war ein Gespenst, ihrer Mutter sei etwas passiert, weil sie so lange weg war, die unzuverlässige, böse Tochter hatte nur an ihr Vergnügen gedacht! Als sie in die Straße zum Wohnhaus einbog, sah sie bereits das Blaulicht. Die Mutter lag im Krankenwagen, sie wollte das Haus verlassen und war die Treppe hinuntergestürzt.

Eine Nachbarin sprach Lore an: „Da ist überall Blut, deine Mutter ist schwer auf den Kopf gestürzt. War sie wieder betrunken?“ Lore war wie gelähmt, alles klang wie durch Watte. Alle hatten von der Alkoholsucht gewusst aber nicht geholfen und sie war nicht da, als es passierte. Sie hätte es verhindern können! In der Beratung erinnerte sich Lore an diesen Tag, als sei es einem anderen Kind passiert, sie hatte kaum Zugang zu den damaligen Gefühlen, was auch zeigte, dass eine weitere Traumatisierung ihr Leben belastete.

Mit einer „Lifeline“, einem Faden und Symbolen wie Steine und Blüten, arbeitete Lore ihr Leben auf, das durch die Ereignisse geprägt wurde. Sie entdeckte Stärken und Schwächen, schöne Augenblicke und Leid, Menschen, die gingen, und Menschen, die kamen. Durch Kreativität gestaltete sie sichere Orte, an Stellen, wenn die Schwere besonders zum Tragen kam, genoss Entspannungsreisen und positive Imaginationen. In Rollenspielen ging Lore in den Dialog mit verschiedenen Personen, schimpfte, stritt, schrie den Schmerz aus ihrer Seele heraus. Dabei spielte auch Brummi eine Rolle, der szenisch Lore beschrieb und sich symbolisch mit ihr erinnerte. Es half sehr oft, „Brummi sprechen zu lassen“, wenn es Lore schwerfiel. Gut, dass sie den Bären immer aufbewahrt hatte.

Zudem schöpfte sie aus einer Quelle Kraft und Energie, die tief in ihrer Persönlichkeit lag. Die Quelle malte sie symbolisch als leuchtenden Kristall, manchmal als Blüte, die sie mit Emotionen wie „Liebe“, „Hoffnung“, „Zuversicht“ betitelte.

Nach dem dramatischen Ereignis nahmen der Vater und die neue Lebensgefährtin Lore zu sich und sie erlebte noch eine gute Zeit, für die sie heute dankbar ist.

Es ist die letzte Beratung, die 47., als Lore geht. Sie hatte nie geheiratet, sie konnte nur schwer vertrauen, daran scheiterten nach ihren Aussagen die Beziehungen. Außerdem sah sie sich nicht imstande, ein Kind zu erziehen.

Ihren Beruf als Arzthelferin liebt Lore. Allerdings arbeitet sie nur halbtags, da sie sich zu mehr nicht in der Lage sieht. Sie muss ihre Kräfte gut dosieren, liebt es, mit ihrem Hund spazieren zu gehen.

Als Lore sich verabschiedet, sagt sie zu mir: „Ich konnte nie Mutter werden, doch nun bin ich meiner Verantwortung nachgekommen, mein eigenes Kind zu trösten und auf seine Bedürfnisse zu achten. Das werde ich auch in Zukunft tun und Ihre liebevolle Art wird dabei immer wieder als ‚gute Mutter‘ an seiner Seite sein und es ermutigen, wenn ich es nicht schaffe!

Ach ja, ich werde abgeholt, denn ich habe im Schwimmbad Harald kennengelernt, ich glaube, es ist an der Zeit, zu vertrauen!“

Vor der Beratungsstelle steht Harald mit dem Hund Kathi und wir winken uns zu. Eine kleine Umarmung zwischen Lore und Harald und ich wünsche den beiden einfach nur ganz viel Lebensglück!

 

Bettina Papenmeier
Dipl.-Sozialpädagogin/Dipl.-Sozialarbeiterin, Psychologische Beraterin (VFP), Lerntrainerin

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