Depression als Chance
Die US-amerikanische Psychiaterin Kelly Brogan ist den Ursachen von Depressionen auf den Grund gegangen. Ihrer Meinung nach gehen sie nicht vom Kopf aus, sondern sind durch Entzündungen im Körper begründet, die durch eine veränderte Lebensweise und gesunde Ernährung ausgeglichen werden können.
Liebe Frau Brogan, Sie sagen: „Depression ist eine Chance“. Könnten Sie diese Behauptung bitte erklären?
Man hat uns Märchen über die Depression aufgetischt – dass sie wahrscheinlich genetisch bedingt ist und nur aufgrund von chemischen Ungleichgewichten im Gehirn auftritt, die für den Rest unseres Lebens eine medikamentöse Behandlung mit Produkten chemischen Ursprungs erfordern, um sie in den Griff zu bekommen. Die Wahrheit sieht anders aus als das, was man uns weismachen will, vor allem seitens der Pharmaindustrie, die Einfluss auf die Ausbildung der Ärzte nimmt und Milliarden ausgibt, um mit einer direkt an den Endverbraucher gerichteten Medikamentenwerbung ihre Botschaften zu verbreiten. Das ist das Ammenmärchen, an das ich während meiner gesamten beruflichen Laufbahn als Vertreterin der konventionellen Psychiatrie geglaubt habe.
Fakt ist aber, dass in den letzten sechs Jahrzehnten keine hieb- und stichfesten Beweise für ein chemisches Ungleichgewicht als primäre Ursache einer Depression vorgelegt werden konnten. Das überrascht wohl kaum, denn bei genauerer Betrachtung wird offensichtlich, dass die Depression keine Primärerkrankung ist. Sie ist vielmehr ein Hinweis auf ein bestehendes Ungleichgewicht. Das ist ähnlich, als würde Ihr Zeh wehtun – die Schmerzen könnten auf eine Nagelbettentzündung oder einen zu fest zugebundenen Schnürsenkel zurückzuführen sein, oder Ihnen ist ein Hammer auf den Zeh gefallen. Auch hier ist der Schmerz lediglich eine Aufforderung, genauer hinzuschauen, um die bestmögliche Problemlösung zu finden.
Selbst nach Ansicht der führenden Experten in diesem Forschungsbereich ist es an der Zeit, sich von der Theorie des chemischen Ungleichgewichts zu verabschieden und den Weg, den die Wissenschaft einschlagen sollte, aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Der menschliche Körper besitzt eine tief verwurzelte ureigene Intelligenz, die das Fundament der Interaktionen mit seiner Umwelt bildet. Der Körper erzeugt aus einem ganz bestimmten Grund Krankheitssymptome. Die Depression weist nachhaltig auf eine biologische Fehlanpassung an unsere heutige Lebensweise hin – schlechte Ernährung, zu viel Stress, mangelnde körperliche Bewegung, zu wenig natürliches Sonnenlicht, massiver Kontakt mit Umwelttoxinen und zu viele Medikamente. Die Entzündung ist ein Ausdruck, dessen sich der Körper bedient, um auf ein Ungleichgewicht aufmerksam zu machen und eine nachhaltige Veränderung herbeizuführen. Normalerweise unterdrücken wir diese Symptome mit Arzneimitteln, aber das ist so, als würde man den Rauchmelder ausschalten, wenn es brennt.
Die Depression ist eine Chance. Sie führt uns vor Augen, dass wir innehalten und herausfinden sollten, was unser Ungleichgewicht verursacht haben könnte, statt die Symptome zu verschleiern, zu unterdrücken oder umzulenken. Sie bietet uns die Möglichkeit, ein neues Kapitel der Geschichte aufzuschlagen, einen radikalen Wandel in die Wege zu leiten und Ja zu einer anders gearteten Lebenserfahrung zu sagen.
Als Psychiaterin mit eigener Praxis propagieren Sie die sogenannte Lebensstilmedizin, statt pharmazeutische Produkte zu verordnen. Was genau versteht man darunter?
Die Lebensstilmedizin konzentriert sich auf die Prävention und Therapie von sogenannten Zivilisations- und Wohlstandserkrankungen durch eine gezielte Veränderung der Lebensweise und eine bessere Anpassung von Körper, Geist und Seele an die Ergebnisse von mehreren Millionen Jahren der Evolution. Wir müssen in Betracht ziehen, dass die Depression früher einmal eine Anpassungsreaktion an die Umwelt war.
Die Depression hat vermutlich irgendwann einmal im Verlauf der Evolution ihren Zweck erfüllt, doch die Beschaffenheit und die Intensität der Auslöser in unserer heutigen Zeit könnten dazu beigetragen haben, sie in stärkerem Maß zu verbreiten als zweckdienlich erscheint (bis zu 41 % der Frauen sind davon betroffen!). Diese Sichtweise schließt das Entzündungs- oder Zytokin-Modell der Depression mit ein; hier geht man davon aus, dass sowohl psychischer Stress als auch Entzündungsprozesse im Körper Veränderungen im Gehirn zur Folge haben, die immunvermittelte entzündliche Erkrankungen hervorrufen.
Eine grundlegende Veränderung der Lebensweise unterstützt die wirkungsmächtigen Selbstheilungsmechanismen des Körpers und ist imstande, die Depression zu beenden: Ernährungsumstellung (mehr gesunde Fette und weniger Zucker, Milchprodukte und Gluten); natürliche Nahrungsergänzungsmittel wie B-Vitamine und Probiotika, die nicht nur rezeptfrei, sondern auch in bestimmten Lebensmitteln vorhanden sind; weitmögliche Verringerung oder Vermeidung von Toxinen, die biologische Prozesse beeinträchtigen, beispielsweise Fluoride im Leitungswasser, Chemikalien in weitverbreiteten Medikamenten wie Paracetamol, Statine und Duftstoffe in Kosmetikprodukten; ausreichend Schlaf und körperliche Bewegung; und Verhaltenstechniken, die darauf abzielen, Entspannungsreaktionen zu fördern. Ich habe beobachtet, wie Frauen allein auf diesem Weg innerhalb eines einzigen Monats grundlegende Verbesserungen ihres Gesundheitszustands und allgemeinen Befindens erzielen konnten.
Wie sollten also Patientinnen vorgehen?
Für mich steht die Ernährungsumstellung an erster Stelle und ich lege meinen Patientinnen dringend nahe, diese „Verordnung“ sehr ernst zu nehmen. Es gilt, einen inneren Wandel herbeizuführen, indem sie der Ernährung allerhöchste Priorität einräumen. Wenn sie sich an meine Empfehlungen halten, wird ihnen bald klar, dass die Macht, persönliche Erfahrungen positiv zu verändern, schon immer in ihren eigenen Händen lag. Dazu bedarf es keiner Unterstützung durch einen Arzt oder Guru. Sie müssen sich lediglich wieder auf ihr grundlegendes intuitives Heilwissen besinnen und die eigenen Fähigkeiten anerkennen.
Ich fordere meine Patientinnen außerdem auf, Kundalini-Yoga-Meditationen auszuprobieren, 3 bis 12 Minuten am Tag. Wir müssen unser Nerven- und Wahrnehmungssystem neu verdrahten und unsere Ängste loslassen. Nach meiner Erfahrung kann uns diese altüberlieferte Entspannungsmethode sehr schnell ans Ziel bringen, und darüber hinaus. Ich rate ihnen ebenso, sich mehr zu bewegen, in welcher Form auch immer. Dabei kann es sich um ein HVT-Intervalltraining mit hohem Trainingsumfang handeln, gefolgt von einer Regenerationsperiode, ein Ausdauertraining auf dem Crosstrainer, Ballett, Tanz oder Yoga; zwanzig Minuten pro Woche reichen dabei schon aus. Wichtig ist auch, auf ausreichenden Schlaf zu achten und mit der Entgiftung im häuslichen Bereich zu beginnen – Produkte, Luft, Wasser und elektromagnetische Strahlung wären hier zu nennen.
Darüber hinaus arbeite ich mit meinen Patientinnen zudem an einer grundlegenden Einstellungsänderung. Im Zuge dieses Prozesses erinnern wir uns daran, was wir vergessen haben – dass der Körper seine Selbstheilungsmechanismen am besten aktiviert, wenn ihm niemand ins Handwerk pfuscht. Uns wird bewusst, dass wir die Verantwortung für uns selbst zurückgewinnen können, die wir in fremde Hände gelegt haben. Ein Behandlungsmodell, das auf der lebenslangen Einnahme von Pharmazeutika beruht, vermag nichts dergleichen zu bieten. Wir haben immer das Gefühl, das etwas fehlt, selbst wenn unsere Symptome „unter Kontrolle“ gebracht wurden. Es liegt in unserer Macht, uns ein Herz zu fassen und die Verantwortung für unsere eigene Gesundheit zu übernehmen. Damit ist alles möglich, einschließlich der Aussicht, uns von einer jahrzehntelangen Medikation zu befreien. Halten Sie sich vor Augen, dass Sie diesen Weg aus einem ganz bestimmten Grund gehen und auf Selbstvorwürfe verzichten sollten.
In Ihrem Buch geht es explizit um die weibliche Depression. Wie unterscheidet sich die Depression zwischen Männern und Frauen?
Frauen, die davon betroffen sind, verordnet man doppelt so häufig Antidepressiva wie ihren männlichen Entsprechungen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie mit ihren Beschwerden, die auf ein komplexes Krankheitsbild hindeuten, an einen Psychiater verwiesen werden, statt den eigentlichen Ursachen der Symptome auf den Grund zu gehen, ist deutlich höher. Dazu kommt, dass sie im klinischen Sinne anfälliger für die Verhaltenssymptome von Entzündungsprozessen im Körper sind.
Ich bin überzeugt, dass die Depression Frauen heute eine einzigartige Chance bietet, ihren inneren Kompass wieder in Besitz zu nehmen, den sie einem unpersönlichen und auf Unterdrückung gepolten medizinischen System überlassen haben. Es ist eine Chance, wieder die Aufmerksamkeit auf die Botschaften von Körper, Geist und Seele zu richten. Unsere Welt braucht starke Frauen, die Kontakt zu ihrer Seele haben, um das Ruder herumzureißen und den Kurs der Zerstörung zu beenden, der im jahrhundertelangen Patriarchat festgeschrieben wurde.
Brogan, Kelly:
Die Wahrheit über weibliche Depression.
Warum sie nicht im Kopf entsteht
und ohne Medikamente heilbar ist.
Beltz, 2016, ISBN 978-3-407-86412-3