Liebe mit Wut im Bauch
„Jetzt reicht’s! Irgendwann ist Schluss! Ich hab’ die Schnauze so was von voll! So lass ich nicht mehr mit mir umgehen!“ Graham Greene schreibt: „Ein Mensch sagt nur dann die Wahrheit, wenn er wütend ist.“
Ob das stimmt, weiß ich nicht. Aber dem, was Hanns-Hermann Kersten mit dem Wortspiel „Was lange gärt, wird endlich Wut“ zum Ausdruck bringen will, kann wahrscheinlich jeder zustimmen, insbesondere die beiden Liebenden in einer Partnerschaft. Die kennen nicht nur Schmetterlinge oder Flugzeuge im Bauch, die kennen auch Bomben im Bauch – reingefressener und unterdrückter Ärger, der sich Luft macht, wenn einer die Lunte entflammt. Kaum einer kann dem gefährlich näherkommen als der geliebte Partner, der hat ungehinderten Zutritt zur Sprengstoffkammer. Kaum ein anderer kann einen Menschen so sehr aufregen und zur Weißglut bringen wie der geliebte Partner – und dann macht’s puff. Dann explodiert die Wut im Bauch.
Ärger, Wut und Zorn sind wohl ein Teil unserer menschlichen Natur, eine Emotion, die in allen ethnischen Gruppen und Kulturkreisen anzutreffen ist. Keine Gesellschaftsschicht, keine Personengruppe, keine Altersstufe ist davon ausgenommen – auch nicht Liebespaare.
Ärger, Wut und Zorn sind normalerweise eine gesunde Abwehrreaktion gegen Unrecht, unabhängig davon, ob es sich dabei um eine wirkliche Ungerechtigkeit handelt oder um eine empfundene und wir uns unfair behandelt fühlen. (Letzteres kommt gar nicht mal so selten vor.) Das liegt daran, dass es uns an Reife mangelt, unser Gerechtigkeitsempfinden aus dem Gleichgewicht geraten ist, wir im Panikmodus operieren oder von zu viel Selbstsucht und Geltungsbedürfnis angetrieben werden. Dann erscheinen uns Dinge als ungerecht, obwohl sie das nicht sind, und machen uns wütend. Beobachten Sie nur einmal ein Kleinkind im Einkaufswagen seiner Mutter, dem diese gerade die leckeren Süßigkeiten an der Kasse verweigert hat.
In den meisten Fällen entspringen aggressive Gefühle einer wirklichen Bedrohung oder Kränkung, einer realen Vernachlässigung oder Zurückweisung und tatsächlich vorhandenen Ohnmachts-, Verlassenheitsund Verlustbefürchtungen. Dann fungieren sie als eine Art Alarmsignal dafür, dass etwas, das uns wichtig ist und wir wertschätzen, in Gefahr ist, verloren zu gehen. Wir werden dann mobilisiert, zu kämpfen und unser Gut zu verteidigen.
Ärger, Wut und Zorn sind Affekte, die uns glauben lassen, dass das Leben noch verändert werden kann. Sie sind Ausdruck von Lebendigkeit, welche uns motiviert, zielgerichtet auf etwas Ungutes loszugehen und es zum Besseren hin verändern zu wollen. Dabei gibt es durchaus konstruktive Vorgehensweisen wie z. B. „Liebling, ich hab’ da eine Sache, die mir auf dem Herzen liegt. Ich hab’ mich da über etwas geärgert. Vielleicht hab’ ich da ja was falsch aufgefasst oder missverstanden. Lass uns bitte mal darüber reden. Wann würde es denn passen?“
Aber selbst solch gut angebahnte Gespräche können entgleiten und dann wird es destruktiv. Ein Wort gibt das andere und die Situation eskaliert. Eigentlich wollte man nicht Unrecht mit Unrecht und Böses mit Bösem bekämpfen, aber dann überkam es einen doch – „etwas stößt sauer auf“, „man kriegt so ´nen Hals“, „es platzt einem der Kragen“, heißt es im Volksmund – und man sagt oder tut schlimme Dinge, die man anschließend bedauert. Aber die Milch ist verschüttet und man bekommt sie nicht mehr zurück ins Glas.
Destruktiv kann sich aber auch Ärger-Abwehr auswirken. „Jetzt reg’ dich doch nicht so auf! Das ist doch kein Grund, so wütend zu werden.“ Solche und andere beschwichtigende Äußerungen, mit denen man eigentlich nur dem Streit aus dem Weg gehen. will, haben unglücklicherweise eine fatale Botschaft, nämlich „Fühl’ nicht so!“ Das aber geht nicht. Wohin also mit dem Ärger? Wenn ausdrücken nicht geht, bleibt oft nur unterdrücken. In der Grafik kann man sehen, was aus Aggression wird, wenn sie sich nicht äußern darf.
Die verschiedenen Gesichter der Wut zeigen sich im Spannungsfeld zwischen Impulsivität und Emotionsunterdrückung. Da ist zunächst der Ärger über eine ungute Sache. Nehmen wir als Beispiel den Partner, der leidenschaftlich gern kocht – und gut obendrein! Der Bekochte genießt es. Aber anschließend sieht die Küche aus wie ein Saustall. Wer ist nun fürs Aufräumen zuständig? „Du hast gekocht, also räumst du auch hinterher auf, das gehört schließlich dazu“, so die Auffassung des einen, worauf der andere entgegnet: „Jetzt mach mal halblang, ich hab’ gekocht, da kannst du ja wohl ein wenig mithelfen und aufräumen.“ So leicht kann sich ein Paar ins Gehege gekommen und schnell ist ein Konflikt um Zuständigkeiten und Geltungsbereiche entbrannt. Um den Konfliktbereich wieder zu befrieden, muss da etwas verhandelt und ausgeredet werden.
Kann der Ärger nicht auf direkte, offene und konstruktive Weise zur Sprache gebracht werden, dann wächst die Energie zur Wut an oder gar zur Zornesglut. Dahinter steht aber immer noch eine Absicht der Zuwendung, die mit dem Betroffenen eine Diskussion und Auseinandersetzung um die Sache anstrebt, welche die Dinge zum Besseren verändern soll. Daher wird Zorn manchmal auch die andere Seite der Liebe genannt.
Wird Ärger jedoch mit den diversen Taktiken einer erfolgreichen Konfliktabwehrfähigkeit (statt Konfliktfähigkeit) unterdrückt, dann muss er zwangsläufig abgekühlt und beruhigt werden. Wenn man das aber nicht kann, dann erscheint er als passive Aggression z. B. in Form von gelangweiltem Gähnen, während der andere redet, oder durch „Keine Ahnung“- oder „Weiß nicht“-Antworten. Immer wieder wird etwas vergessen – „tut mir leid ...“, es kommt zu ständigen Vertröstungen und Missverständnissen. Der unterdrückte Ärger zeigt seine kalte Schulter. Zum Schluss verschlägt es ihm die Sprache und es herrscht eisiges Schweigen, was nicht zu überhören ist.
Innen drin jedoch kommt das Selbstgespräch nicht zur Ruhe. Man hadert insgeheim immer noch mit der Sache und es erwächst langsam Bitterkeit und Groll. Irgendwann entlädt sich der angeschwollene Grimm dann in offenem Hass. Das aber ist der letzte Versuch, doch noch die gewünschte Aufmerksamkeit für sein Anliegen zu erhalten und die schon lange anstehenden Dinge endlich aussprechen zu können.
Scheitert dieser letzte Versuch, dann kippt die Wut und wird giftig. Sie schlägt um in Geringschätzung und Verachtung, welche sich zunächst in polemischen, spitzen, zynischen und beleidigenden Bemerkungen äußern, die man dem anderen so nebenbei unter die Haut jubelt, bis hin zu offenem Sarkasmus und schrecklich abfälligen Bemerkungen. Aus Liebe ist tiefe Feindseligkeit geworden. Nicht selten muss sich der ehedem geliebte Partner jetzt Sätze anhören wie „Du kotzt mich an, ich halt’ das nicht mehr aus, geh!“ oder „Du widerst mich an! Ich kann dich nicht mehr sehen.“ An dem Punkt ist der Beziehungsabbruch meist schon unvermeidlich geworden und es ist oft selbst für die besten Ehe- und Paarberater nichts mehr zu retten. Aber vorher!
Fritz Riemann beschreibt in seinem Buch „Grundformen der Angst“ unterschiedliche Wut-Typen. Da ist z. B. der dramatische Persönlichkeitstyp. Er kennt von Kindheit an nur Rivalisieren und Konkurrieren im Wettbewerb. Entsprechend setzt er seine Wut-Energie für Kampf und Intrige ein. Dadurch zeigt er ein ausgeprägtes Geltungsstreben: Er will Eindruck machen und im Mittelpunkt sein. Aber eigentlich hat er bloß Angst vor dem Nicht-geliebt-Werden.
Der depressive Persönlichkeitstyp kennt von früh auf die Ideologie der Friedfertigkeit nach dem Motto: „Der Erleidende ist der Bessere“. Folglich schlüpft er in die Dulderrolle. Eigentlich aber hat er Angst vor dem Liebesverlust, im Besonderen die Angst vor dem „Bumerang“. Dagegen versucht er sich mit Jammern, Klagen und Lamentieren zu schützen, d. h. mit Selbstmitleid. Auf diesem Weg landet er in Resignation, weil er die Vorstellung hat, dass er nicht genug Aggressionsenergie aufbringt, um etwas zu verändern. Was er bräuchte, wäre die Erfahrung, dass er respektiert wird – auch mit seiner Wut.
Der zwanghafte Persönlichkeitstyp kennt von Kindheit an vorwiegend Kontrolle und Beherrschung. Er hat Strafangst. In ihm kommt es zu einem Affektstau, den er spürt, und er bekommt zusätzlich Angst vor dem Ausbruch seiner aufgestauten Wut in einem unverzeihbaren Affektdelikt. Hiergegen versucht er sich zu schützen durch Normen, Regeln, Prinzipien. In Beziehungsauseinandersetzungen schlägt er gerne mal aus dem Hinterhalt zu oder revanchiert sich mit Unterlassungen.
Der schizoide (gefühlsabgespaltene) Persönlichkeitstyp kennt hingegen zahlreiche Frustrationen durch Hunger, Kälte, Schmerz oder Verlust; er kennt Verletzungen, z. B. des Eigenrhythmus oder der Integrität des Lebensraums; er leidet unter Überlastungen der Sinnesorgane durch Lärm oder Einschränkungen des Lebensraums durch Eingesperrtsein. Hinzu kommen emotionale Übergriffe auf das Selbstsein, z. B. durch überrennende Nähe oder sexuellen Missbrauch. Auch er fürchtet sich vor dem Alleingelassensein und elterlicher Distanziertheit oder Abwesenheit. Seine Welt ist die Angst und folglich spaltet er seine Gefühle ab. Die entstehende Aggressivität entwickelt sich nach innen und irgendwann explodiert er nach außen. Was er bräuchte, wären gleichmäßige Zuwendung und Zeit, um die Kontaktlücken auffüllen zu können und Beziehungsfähigkeit zu entfalten.
Welcher Wut-Typ sind Sie? Und welcher ist Ihr Partner?
Ärger, Wut und Zorn sind meist verbunden mit dem Bedürfnis nach Selbstsein und Selbstwerdung. In einer Liebesbeziehung geschieht dies im Spannungsfeld zum Gemeinschaftsselbst. Meist geht es um die Abgrenzung der eigenen Ich-Identität zur Wir-Gefühl-Identität. Solche Kämpfe wollen ausgefochten werden. Aber wie?
Hier ist unser Dutzend an Erkenntnissen und therapeutischen Ansätzen zum Umgang mit emotionaler Aggression in einer Liebesbeziehung:
1. Beide Partner übernehmen die volle Verantwortung für ihr jeweils eigenes Selbstwertgefühl, statt den anderen dafür verantwortlich machen zu wollen. Das beinhaltet unter anderem auch die Überprüfung der Abwehrkonzepte, die Wahrnehmung von Angstgefühlen, die hinter der Wut stecken – mit Angst muss man nämlich anders umgehen als mit Wut –, und die Korrektur und Anpassung des eigenen Selbstkonzepts, wo dies notwendig ist.
2. Beide Partner erkennen und anerkennen, dass hinter Wut im Bauch ein Sinn steht, nämlich die Bedrohung des Selbstwertes und die legitime Verteidigung der eigenen Grenzen vor Übergriffen, Liebesentzug, Beleidigungen, Übervorteilungen, Missbrauch, Ausnutzung oder sonstigen schmerzhaften Zufügungen.
3. Beide Partner erklären sich einverstanden, Unzufriedenheiten direkt, offen und sachlich kundzutun, ohne dabei Beleidigungen und Schuldzuweisungen zu gebrauchen. Eine entsprechende Formulierung könnte z. B. etwa lauten: „Mich frustriert es, dass die Schuhe so unordentlich im Flur rumstehen. Was können wir machen, damit das anders wird?“ Persönlich herabsetzende Formulierungen sind tunlichst zu vermeiden! („Dass du immer deine Schuhe im Flur rumstehen lassen musst!“)
4. Passive Aggressionsmuster werden bei Verdacht offen angesprochen: „Ich merk’, dass du sauer bist. Was wurmt dich denn? Möchtest du nicht lieber mit mir über das reden, was dich ärgert.“
5. Sich selbst nicht vor dem Partner zu vertreten (d. h. sich selbst im Stich zu lassen), ist nicht edel. Außerdem ist der Preis zu hoch, denn statt sich mit innerer Zustimmung an eine vereinbarte Sache hingeben zu können, hat man das Gefühl, sich unter stillem Protest für eine Sache hergeben zu müssen.
6. Beide Partner achten darauf, dass die Machtverteilung stimmt, denn fruchtbare Auseinandersetzungen müssen auf Augenhöhe geführt werden, sonst kann man nicht sagen, was einem wirklich wichtig ist, geschweige denn, was in einem vor sich geht. Wer Repressalien befürchten muss, wird sich mit der Wahrheit zurückhalten. Damit ist aber das Problem nicht gelöst und der Beziehung nicht geholfen. Wenn einer der Partner dazu neigt, die Macht an sich reißen zu wollen (z. B. durch Ultimaten oder Drohungen verschiedenster Art bis hin zur Andeutung, die Beziehung aufzukündigen oder gar zu gehen), so wirkt das äußerst kontraproduktiv, weil diese Art von Poker den Einsatz unnötig erhöht und nur neue Beschämung auslöst, die wiederum neue Wut provoziert.
7. Wenn nicht beide das Gefühl haben, etwas gewinnen zu können – auch wenn sie beide dafür auf etwas verzichten müssen –, können kaum gute Lösungen gefunden und angestrebt werden.
8. Ganz oft wird nicht das gehört, was eigentlich gesagt wird, insbesondere in angespannten Beziehungssituationen. Da ist es ratsam, immer wieder mal nachzufragen, zu präzisieren, zu rekapitulieren – oder einen Paarberater als „Übersetzer“ hinzuzuziehen. Der kann dann intervenieren: „Ich glaube, was dein Mann/deine Frau dir sagen will ist ... trifft es das?“ Der andere heißt nämlich so, weil er es ist: anders. Dieses Anderssein muss akzeptiert werden, sonst kann man es nicht sehen oder gar wertschätzen und lieben lernen.
9. Es braucht Codewörter und Übereinkünfte, wie damit umgegangen wird, wenn’s ausufert. Ein Paar hat z. B. folgendes vereinbart: Wenn einer von uns beiden das Gefühl hat, dass jetzt „der Kamm zu sehr anschwillt“, dann sagt er „Ich könnte jetzt eine Umarmung vertragen“. Normalerweise ist ein Paar selbst im heftigsten Streit noch dazu in der Lage (wir haben es zahlreiche Male in unserer therapeutischen Arbeit erlebt) – und dann ist erst mal wieder der Dampf ein wenig raus aus dem Wigwam.
10. Ziel ist es, dass jeder das eigene problematische Verhalten in die eigene Verantwortung nimmt. Ein „Bitte sag’ doch was, wenn ich meine Schuhe kreuz und quer im Flur stehen gelassen habe“ ist nicht zielführend, sondern provoziert bloß einen Konflikt nach dem anderen.
11. Einseitige Anpassungsleistungen entsprechen nicht unserem Gerechtigkeitsempfinden (das Symbol dafür ist die Waage) und bergen in sich oft schon das Potenzial für neue Unstimmigkeiten. Die gemeinsame Beziehung ist immer die Sache von beiden! Und selbst wenn einer für sich den höheren Status beanspruchen sollte und sich damit auch im Besitz der besseren Argumente wähnt – obwohl das oft nicht stimmt –, echte Liebe sucht nicht das Beste für sich selbst, sondern für den anderen.
12. In jedem Fall braucht es eine Art Versöhnungskultur, wo ausgemacht ist, wie man sich wieder vertragen und miteinander umgehen will.
Bleibt noch ein Letztes zu sagen: In der Grafik ganz links ist ein Balken unbeschriftet geblieben. Es ist der intensivste Ausdruck zorniger Zuwendung. Die Griechen gaben ihm daher auch den Namen Orgasmós – Zornausbruch – von orgáo‚ was so viel heißt wie anschwellen in Glut oder gereizt werden bis zum Ausbruch. Anschließend ist Stille.
Literatur
- Riemann, Fritz: Grundformen der Angst
- Kast, Verena: Vom Sinn des Ärgers
Herbert und Gisela Ruffer
Heilpraktiker für Psychotherapie in eigener Praxis in Landshut,
Wochenend-Intensivtherapie für Einzelpersonen und Paare