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Interkulturelle Kompetenz für die Praxis – Teil 4

2016 04 Inter1

„Ich habe mir nicht denken können, dass er sich wirklich etwas antun wird; er hatte seine Tabletten und wir saßen alle zusammen und haben gescherzt.“ Das hörte ich unlängst von einem Freund, der ehrenamtlich mit Flüchtlingen arbeitet. „Alle seine Mitstreiter im Kulturtreff sind nun sauer auf ihn. Der Suizidversuch fällt doch auf uns alle zurück, sagen sie.“

fotolia©Photographee.euMeine Arbeit mit Flüchtlingen eröffnet mir neue Blickwinkel. Es ist eine Sache, mit Doktoranden aus anderen Ländern zu arbeiten (wie ich es früher tat), die sich je nach individuellen Gegebenheiten und Möglichkeiten auf ihren Aufenthalt in Deutschland vorbereitet haben. Selbst, wenn sie unter dem Gesichtspunkt, dass alle Menschen ihre jeweiligen kulturellen Standards als die gültigen, als die „richtigen“ ansehen, bestimmte bekannte Verhaltensmuster als gegeben erwarten und betrübt sind, wenn sie feststellen, dass diese hier nicht gelten – sie wissen grundsätzlich um Unterschiede und sind eher bereit, sich diese zumindest einmal wohlwollend anzusehen.

Etwas anderes ist es hingegen, wenn sich Migranten (immer m/w) ihre eigenen kulturellen Standards bewahrt haben und uns nun im Pflegebetrieb als Patienten oder Kunden begegnen. Ganz anders und viel komplexer und komplizierter wird jedoch ein Umgang mit Flüchtlingen sein. Viele kommen unvorbereitet, vielleicht traumatisiert, mit oberflächlichen Informationen über das Leben in Deutschland versehen, auf jeden Fall jedoch in vielerlei Hinsicht voller Erwartungen und mit kulturellen und religiösen Vorstellungen, die hier oft keine Entsprechung finden.

Ich bearbeite im Moment mit einer Gruppe junger Männer in einer Einrichtung ganz niedrigschwellig kulturelle Themen aus dem alltäglichen Leben. Neulich hatten wir das Thema Höflichkeit. Ich fragte in die Runde: „Sie sind privat eingeladen. Gastgeberin und Gastgeber erwarten Sie an der Tür? Wen begrüßen Sie zuerst?“ Die beinahe einhellige Antwort: „Den Mann“. Auf meine Frage nach dem Warum, kam ein Lächeln, Schulterzucken: „Das ist bei uns so. Das ist höflich.“ „Hier“, so antwortete ich, „hätten Sie schon verloren. Hier wird die Frau zuerst begrüßt.“

Als mich ein junger Mann nach dem Warum fragte, musste ich lächeln und mit den Schultern zucken: „Das ist bei uns ein Zeichen der Höflichkeit und des Respekts“. Wir alle lachten.

Natürlich kann man tiefer gehen. Es gibt ja die sog. kulturelle Zwiebel, und wenn wir diese schälen, kommen je weiter wir ins Innere vordringen die Gründe für das Warum von kulturellen Verhaltensmustern zum Vorschein. Auf der täglichen Arbeitsebene reicht es zu wissen, dass ein junger Mann aus einem nah- und mittelöstlichen Land nicht unbedingt unhöflich ist oder sein will, wenn er Frauen nicht zuerst begrüßt (die Hierarchieebene im Berufsalltag sei hier einmal unberücksichtigt). Er kennt vielleicht die hiesigen kulturellen Standards noch nicht und kann sich eventuell nicht einmal vorstellen, dass es solche gibt.

Das nächste Thema, das wir besprachen, war Pünktlichkeit. Die war allen bekannt. Grundsätzlich. „Ja“, sagte einer, „die Deutschen nehmen die Zeit viel zu wichtig – und sie stellen sich wegen ein paar Minuten fürchterlich an.“

fotolia©Photographee.euEin anderer Teilnehmer erzählte dann leicht erbost eine Geschichte. Er hatte einen Termin bei der Ausländerbehörde, Datum X, 9 Uhr. Als der Morgen kam, war er rechtzeitig losgegangen, dachte er. Dann aber sah er an der Haltestelle, dass ausgerechnet an diesem Tag ein Bus ausfallen würde; sein Fahrrad konnte er auch nicht nehmen, da defekt, und sein Handyakku war leer. So musste er zurückgehen und einen Mitbewohner bitten, ihm sein Fahrrad zu leihen. So kam er 10 Minuten zu spät zu diesem wichtigen Termin in die Behörde – na ja, vielleicht waren es auch 15 Minuten. Er klopfte an die Tür und der Beamte bedeutete ihm zu warten. Nach 10 Minuten kam er heraus, um dem jungen Mann zu sagen, dass er zu spät sei und einen neuen Termin erhalten würde. So radelte der junge Mann unverrichteter Dinge zurück, um mir am Nachmittag zu erzählen, dass die Deutschen die Flüchtlinge nicht mögen und sie absichtlich schlecht behandeln. Ich versuchte, ihm die deutsche Pünktlichkeit zu erklären, aber er sagte, dass er diese kenne, aber es seien doch nur 10 oder 15 Minuten gewesen, das Büro leer und überhaupt: Es könne doch immer etwas dazwischenkommen!

Ja dieses „Es kann immer etwas dazwischenkommen“. In Kulturen, in denen das Zeitverständnis ein anderes ist, Zeit nicht monochrom verläuft, wo also nicht ein Schritt nach dem anderen gemacht, auf einer Zeitgeraden quasi möglichst planvoll vorangeschritten wird, können in der Tat mehrere Aktionen nebeneinanderlaufen und es kann immer etwas dazwischenkommen. Das kann natürlich auch in Deutschland geschehen, und es geschieht ja auch. Wir gehen nur anders damit um. Wir bereiten uns vor, damit möglichst nichts dazwischenkommen kann. Wenn wir ortsfremd sind, schauen wir uns die Verbindungen genau an, nehmen ggf. den früheren Bus, unser Handy ist aufgeladen und das Fahrrad als Alternative einsatzbereit oder ein anderes wurde rechtzeitig geliehen. Und wenn dann doch etwas schiefgehen sollte, hoffen wir aufs Beste, erwarten das Schlimmste und leben mit der Konsequenz.

Der junge Mann musste lachen und sagte, er hätte viel gelernt gerade und so etwas passiere ihm bestimmt nicht wieder. Aber warum müsse er dann beim Arzt oftmals warten, obwohl er einen Termin habe, warum auf dem Amt? Neulich habe sich ein anderer Mitbewohner beim Ohrenarzt wirklich aufgeregt, weil er sich als Flüchtling schlecht behandelt gefühlt habe.

Tja, sagte ich, das läge simpel am Recht des Stärkeren, hier war eben der Arzt mit einer für die Patienten unfreundlichen Terminvergabe der Stärkere. Aber es könnte natürlich auch daran gelegen haben, dass selbst beim Arzt etwas dazwischenkommen kann, z. B. ein echter Notfall. Und warum, so eine weitere Frage, kämen andere Leute schon an die Reihe, obwohl sie später gekommen seien? Ich erklärte den Unterschied von Kassenpatienten zu Privatpatienten und auch die Möglichkeit, nicht eine Stunde im Wartezimmer zu warten, sondern sich anzumelden, noch einmal zu gehen, um kurz vor dem Termin wiederzukommen.

Fallstricke für ein perfektes Missverstehen lauern folglich überall, selbst wenn wie in diesem Fall das simple Thema „In Deutschland wird Wert auf Pünktlichkeit gelegt“ grundsätzlich bekannt ist.

Wenn Sie als Coach, Trainer, Berater, Therapeut oder Pflegekraft mit Menschen arbeiten, die die typisch deutschen Verhaltensweisen nicht leben, kann es schnell zu Missverstehen, Missverständnis und in der Folge zu ablehnendem Verhalten auf beiden Seiten kommen. Es ist also ganz klar jeder Mensch im Vorteil, der solche Fallstricke kennt und erkennt. Mein Hauptargument in allen meinen interkulturellen Trainings ist immer: Was will ich vom anderen? Wie kann ich ihn am besten erreichen?

Meine Freundin ist Hebamme. Unlängst kam eine junge Romni zur baldigen Entbindung. Sie kam, ihr Mann kam – und da beide noch sehr jung waren, kam auch die gesamte engere und weitere Familie mit. Das Zimmer platzte aus allen Nähten und die mit im Zimmer untergebrachte junge deutsche Frau bekam eine Panikattacke. Diese Situation hätte leicht aus dem Ruder laufen können und nur die interkulturelle Kompetenz meiner Freundin und ihrer Kollegen konnte die Situation so entzerren, dass am Ende alles gut wurde und zwei gesunde Kinder das Licht der Welt erblickten.

Hier glauben wir an Ruhe und oft an das In-Ruhe-gelassen-Werden, an Distanz. Zu viel Nähe von zu vielen Menschen, die uns zu nahe rücken, macht uns eher Angst. Wenn Sie aber einer Familie, die eher kollektivistisch als individualistisch lebt, Ruhe empfehlen und damit typisch deutsch auch meinen, dass man eher abgeschieden, geräuscharm, für sich allein die beste Genesung findet, stürzen Sie im schlimmsten Fall die Patientin/den Patienten in eine emotionale Krise, die der Genesung maximal entgegensteht. Im besseren Fall können Sie erklären, worum es Ihnen geht und vor allem, was möglich ist, und zwar auf eine Weise, die sowohl die kulturellen Möglichkeiten des Gegenübers als auch die beruflichen und persönlichen Möglichkeiten berücksichtigt.

Und da wären wir bei einem sehr wichtigen Aspekt für die Arbeit mit einem kulturellen Hintergrund, der nicht dem mittel- und nordeuropäischen entspricht: der Beziehung. Wir neigen dazu, unsere Beziehungen zu Menschen, mit denen wir beruflich zu tun haben, distanziert zu halten, uns auf die jeweilige Sache zu konzentrieren, auf unsere Vorgaben, Regeln, Standards. Mit dieser Strategie allein käme ich in meiner Arbeit mit den Flüchtlingen allerdings nicht weit. Besonders in der Arbeit mit Frauen geht es oft nur über das Gewinnen von Vertrauen voran. Ich erreiche sie über ihre Kinder, über aktives Zuhören, über Verständnis für ihre jeweilige Situation. Ich hole sie da ab, wo sie sind, zumindest versuche ich es mit den mir gegebenen zeitlichen und persönlichen Möglichkeiten. Der zeitliche Rahmen ist ohnehin oft genug sehr eng gesteckt. Trotzdem: Wenn ich weiß, dass es für viele Frauen sehr schwer ist, einen Termin außer Haus wahrzunehmen, dann kann ich schneller herausfinden, worum es geht, mit Verständnis Vertrauen gewinnen und mit dem Verstehen der Situation eine Lösung finden.

Zurück zum Eingangsbeispiel: Der Mann aus der ehrenamtlichen Flüchtlingsgruppe hat versucht, den jungen Flüchtlingen, die den Suizidversuch eines Mitflüchtlings nicht verstehen können und als persönlichen Angriff auf ihre eigene Integrität verstanden haben, zu erklären, warum es zu einer solchen Handlung kommen kann.

Sicher, auch Deutsche haben oft Probleme, psychische Erkrankungen und ihre möglichen Folgen zu verstehen bzw. mit Verständnis darauf zu reagieren. Allein, wenn ich den jeweiligen kulturellen Ansatz, aus dem heraus überhaupt verstanden werden kann, nutze, habe ich auch eine gute Chance, mit meinen Erklärungen erfolgreich zu sein. Interkulturelle Kompetenz ist nicht nur etwas für Träumer oder für Menschen, die in ganz bestimmten Bereichen arbeiten. Sie wird von uns heute jeden Tag überall gefordert, und hilft, das Leben zu erleichtern.

Meine Freundin, die Hebamme, hat der Roma-Familie im Eingangsbereich einen kleinen Warteraum angeboten und gesagt, sie würden alle Informationen erhalten und die junge Frau dürfe nach der Untersuchung bestimmt auch noch einmal nach unten kommen. Im Zimmer durften der junge künftige Vater und die Mutter des Mädchens bleiben. Eine Kollegin hatte inzwischen die andere junge Frau beruhigt, ihr erklärt, dass es in vielen Kulturen üblich sei, dass sich immer die ganze Familie um einen Kranken oder wie hier um eine Geburt kümmert, und sie gefragt, ob es die jetzige Regelung für sie in Ordnung sei – das war sie.

Interkulturelle Kompetenz kann eine fachliche Kompetenz sein. In jedem Fall ist sie eine soziale Kompetenz, die das Arbeiten und Leben mit Fremden sehr erleichtern kann. Und gerade wir, die wir mit Menschen arbeiten, sollten uns nicht begrenzen, sondern die Möglichkeiten nutzen, die sich uns bieten.

Carola SeelerCarola Seeler
Heilpraktikerin für Psychotherapie, zertifizierte Psychologische Beraterin (VFP), Betriebswirtin, Trainerin, Coach, Autorin
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