Mehr (SELBST)Wert braucht die Welt!
„Um fremden Wert
willig und frei anzuerkennen,
muss man eigenen haben.“
Immanuel Kant
Was für eine provokante Aussage in einer Zeit, in der unsere Welt doch gerade darunter leidet, dass rücksichtslose, selbstbezogene und skrupellose Entscheider immer nur sich und ihren eigenen Profit vor Augen haben. Ist es nicht gerade der Egoismus, der unser Leben kalt und unnahbar werden lässt, der tiefe Beziehungen unmöglich macht und der zu Unverbindlichkeit und Oberflächlichkeit führt?
Sind wir nicht zu einem Volk von Egozentrikern, Einzelgängern und vor allem Einzelkämpfern geworden? Wie kann da einer die These aufstellen, MEHR [SELBST]Wert sei der Lösungsweg in eine menschlichere Gesellschaft? Müsste es nicht vielmehr Hingabe, Selbstlosigkeit und Rücksicht sein, die uns lenkt?
Familien und Partnerschaften zerbrechen, weil jeder nur noch an sich denkt, sich verwirklichen will, seinen Freiraum, seine Glückseligkeit sucht. Das eigene Wohlfühlen und das eigene Glück werden höher bewertet, als die Verantwortung dem Partner und den Kindern gegenüber. Vermeintlich soziale Netzwerke sind voll mit Zitaten, dass man sich jenes oder dieses nicht mehr antun will, dass man auf falsche Zuneigung verzichtet, dass man lieber ohne andere Menschen ist, als sich ausnutzen zu lassen. Einige Posts machen gar die Gesellschaft dafür verantwortlich, dass man so geworden ist, wie man ist, dass es einem nicht gut geht. Es wird dem Leser empfohlen, mehr an sich zu denken, da man ein Opfer der anderen sei und das doch nun endlich ein Ende haben solle.
Wie kann man vor diesem Hintergrund empfehlen, das eigene [SELBST] doch noch mehr in den Vordergrund zu stellen, ist das kein verantwortungsloser, unmenschlicher Ratschlag, der zu einer noch egozentrischeren Gesellschaft führen wird?
Nein. Das ist er nicht – im Gegenteil! Meine These ist, dass der höhere Wert des eigenen [SELBST] die Lösung gegen genau diese Auswüchse unserer Gesellschaft ist. Ich glaube sogar, dass mehr echter [SELBST]Wert auch hilfreich wäre, um der immer stärker werdenden Feindlichkeit gegenüber Fremden oder Andersdenkenden zu begegnen und unsere Welt somit insgesamt wieder auf einen menschlicheren, sozialeren und verantwortungsvolleren Weg zu bringen.
Warum ist der [SELBST]Wert so wichtig für unser Leben und unsere Gesellschaft und worauf basieren meine Thesen? Nun, während der Ausbildung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie wurden sämtliche Krankheitsbilder psychischer Erkrankungen und Auffälligkeiten umfassend gelehrt. Besonders erkenntnisreich war jedoch das Studium der möglichen Ursachen und Auslöser für die nichtbiologisch bedingten Erkrankungen – also die im früher verwendeten „Triadischen System“ als „psychogene Stö- rungen“ bezeichneten Erkrankungen wie Belastungs- und Anpassungsstörungen, Angst- und Zwangserkrankungen, somatoforme Störungen sowie Persönlichkeitsstörungen.
Auffallend war hierbei, dass ein geringes Selbstwertgefühl und geringe Eigenakzeptanz bzw. eine geringe Ich-Ausbildung hier regelmäßig als Mitursachen und Mitauslöser genannt wurden. Ob und mit welcher Härte und Dauer also ein Mensch von einer solchen psychischen Störung betroffen wird, scheint maßgeblich von der Konstitution seines [SELBST] beeinflusst zu werden.
Dieses Wissen und die späteren Erfahrungen in der Therapie und in Workshops führten zu einem kritischen Blick auf die Gesellschaft und auf den Alltag. Wenngleich natürlich nur die wenigsten Verhaltenweisen, die uns im Alltag begegnen, wirklich pathologisch (also behandlungswürdig krankhaft) sind, so ist doch naheliegend, dass auch beim „normalen gesellschaftlichen Alltagswahnsinn“ ein sehr gering ausgeprägtes [SELBST]Wertgefühl mit im Spiel sein könnte. Lassen Sie mich die These exemplarisch erläutern.
Rücksichtslose, kurzfristige und unverantwortliche Entscheidungen zur Gewinn- und Erfolgsmaximierung in Unternehmen
Die entsprechenden Manager werden wohl kaum von purer Existenznot getrieben sein, wenn sie – immer mit dem Ziel der Gewinnmaximierung, die dann auch eine Maximierung des eigenen Gehalts zur Folge hat – Arbeitsstrukturen menschenunwürdig „optimieren“, Mitarbeiter entlassen, waghalsige Anlageund Investitionsentscheidungen treffen, Zahlen manipulieren und Unwahrheiten akzeptieren.
Treibende Kraft ist wohl eher ein maßloser Wunsch nach Anerkennung und Erfolg. Dieses Ziel wird blindwütig verfolgt – ohne Rücksicht auf menschliche Verluste, Anstand oder Gesetze. Wie ein Junkie giert der betroffene Manager auf das, was er offenbar in seinem [SELBST] nicht hat: eine Bestätigung seines Wertes! Da aber Anerkennung von außen deutlich weniger nachhaltig ist als von innen kommendes [SELBST]Wertgefühl, muss regelmäßig nachgelegt und am besten noch gesteigert werden.
Fazit: Nur ein Mensch, der ein solides [SELBST]Wertgefühl hat, ist kein von Erfolgsgier und Anerkennung Getriebener. Nur solche Menschen können bei ihren Entscheidungen Weitblick und Nachhaltigkeit beweisen und verantwortungsvolle Wege einschlagen.
Egozentriker, Einzelkämpfer, Egomanen führen zum „Erkalten“ der Gesellschaft
Ist es wirklich verwunderlich, wenn Menschen, die schon als Kinder angeleitet werden, dass sie nur dann einen Wert haben, wenn sie möglichst die Besten und Cleversten sind, frühzeitig erkennen, dass man am bequemsten dann der Beste ist, wenn man die anderen einfach „wegtritt“ und deren Befindlichkeiten hinanstellt?
Konkurrenzkampf zwischen den „besten Eltern“ färbt schnell auf das „beste Kind“ ab. Da wird frühzeitig verglichen, welches Kind schon was kann. Noch nie hatten wir so viele vermeintlich hochbegabte Kinder, noch nie gab es so viele Förderprogramme für Kinder. Schön, wenn Eltern Gutes für ihr Kind wollen. Leider nicht so schön, wenn das Kind in den Zwischenzeilen erfährt, dass es eben nur dann liebenswert und wertvoll ist, wenn es den Wünschen der Eltern möglichst nahekommt.
Nur dann, wenn ein Kind in seiner Entwicklung erfahren kann, dass es um seiner [SELBST] willen geliebt wird – und nicht für seine Leistungen oder für das Erfüllen bestimmter Rollen oder Wunschvorstellungen – hat es die Möglichkeit, sich wertig zu fühlen und sich [SELBST] zu lieben. Es muss dann nicht andere „wegtreten“, um möglichst gut dazustehen. Wo weniger Konkurrenzdenken ist, herrscht auch weniger Kälte. Umfassender habe ich mich zum Einfluss der Eltern auf das [SELBST]Wertgefühl des Kindes in meinem in 2016 erschienenen Buch „Betriebsgeheimnis Kind“ geäußert.
[SELBST]Verwirklichung um jeden Preis und scheiternde Beziehungen
Nur ein vollgesogener Schwamm kann Wasser abgeben. Ein ausgetrockneter Schwamm wird jeden Tropfen Wasser gierig aufsaugen. Ähnlich verhält es sich mit dem zwischenmenschlichen Umgang.
Bin ich selbst voller Defizite – das können Introjekte (verinnerlichte Leitsätze) sein wie: Ich bin nicht liebenswert, ich bin nicht perfekt, ich bin unsicher, ich bin schlechter als andere, ich bin es nicht wert, geachtet zu werden –, bin ich bemüht, diese möglichst schnell von außen aufzufüllen. Ich werde versuchen, mir selbst das Gegenteil meiner Grundannahmen über mein mangelhaftes Ich zu beweisen. Ich werde mich nur noch auf mich selbst konzentrieren, ich werde versuchen, mich zu verwirklichen und dabei rücksichtslos werden. Leider ist das vom heilsamen [SELBST]Verwirklichen häufig weit entfernt, denn solange nicht am Kern des Problems – nämlich am mangelnden [SELBST]Wertgefühl gearbeitet wird, bleibt es Makulatur.
Oder ich werde Beziehungen unmöglich machen, weil ich vom Partner erwarte, dass dieser meine Defizite doch auffüllen möge, indem er mir regelmäßig seine Liebe und Wertschätzung beweist. Er soll das geben, was ich selbst nicht habe. Er soll mich durch seine Liebe heilen. Diese Aufgabe kann wohl niemand erfüllen. Also wird der Partner ausgetauscht, der mich nicht genügend liebt. Hinzu kommt, dass möglicherweise ja auch der Partner nicht defizitfrei durch sein Leben geht. Also bestehen große Erwartungen von beiden Seiten. Die Annahme „Liebe heilt alles“ kann nur dann zutreffen, wenn auch hinreichend Eigenliebe vorhanden ist. Ich muss selbst „gesättigt“ sein, um einen Partner, einen Freund, einen anderen Menschen „füttern“ zu können.
Wachsende Verängstigung
Dieses ist meiner Einschätzung nach eine der offensichtlichsten Folgen eines fehlenden [SELBST]Wertgefühls der meisten Menschen in unserer Gesellschaft. Wir sind nicht fest verwurzelt im Glauben an uns und unsere eigenen Fähigkeiten. Wir sind nicht sicher, dass wir immer einen Weg finden werden, wir sind nicht sicher, dass das, was und wie wir leben, für uns richtig ist. Als Folge empfinden wir alles, was uns und unser Leben schlicht durch sein Anderssein infrage stellt, sogleich als Bedrohung.
Besonders offensichtlich ist das in Bezug auf andere Lebensformen oder Religionen. Wenn Menschen zu uns kommen, die – anders als die meisten von uns – in ihrer Religion noch sehr verwurzelt sind, verunsichert uns das häufig, haben wir doch gelernt, dass Religion und Glaube nicht mehr zeitgemäß und ein Zeichen mangelnder Aufklärung sind. Beneiden wir diese Menschen – ich meine damit natürlich nicht die, die versuchen, ihren Glauben missionarisch oder gar gewalttätig in die Welt zu bringen, sondern ich meine den ganz normalen Andersgläubigen – nicht insgeheim um diesen Glauben und den Halt, den sie daraus ziehen? Unser kultivierter und fortschrittlicher Unglaube, der mit dem uns fremden Glauben konfrontiert wird, führt uns in einen psychischen Konflikt. Vielleicht ist es viel mehr unser innerer Konflikt, den wir fürchten, als tatsächlich den anderen Glauben oder die andere Lebensform?
Angst – wodurch auch immer sie geschürt wird – ist ein einfach anzuwendendes Machtinstrument für die, die sie schüren. Deshalb ist Angst – z. B. von Populisten – durchaus gewünscht. Ängstliche Menschen suchen Führer. Ängstliche Menschen suchen Schutz. Ängstliche Menschen stellen keine Fragen, solange sie nur als Gegenleistung Sicherheit erhalten. Deshalb werden wir von schlechten Nachrichten und Katastrophenszenarien überschwemmt, wenngleich es statistisch ganz sicher auch genauso viele gute Nachrichten geben würde, die man verbreiten könnte.
Angst ist eine Art Urinstinkt. Die körperliche Reaktion auf Angst ist weitestgehend automatisiert, der Verstand hat hier kaum Möglichkeiten, einzuwirken. Und genau das ist es, was eine wachsende Ver- ängstigung der Menschen so gefährlich macht. Die Menschen agieren in einer Art „Neandertaler-Modus“ – der gesunde Menschenverstand und erst recht eine Reflexion sind dabei ausgeschaltet. Angst macht dadurch unfrei.
Natürlich ist ein solides [SELBST]Wertgefühl keine Garantie für Angstlosigkeit. Aber da, wo Wertgefühl ist, hat es die Angst viel schwerer, sich zu verbreiten, und der Mensch hat die Chance, selbstbestimmt zu entscheiden.
Fazit
Vieles in unserer Welt könnte besser und menschlicher zugehen, wenn wir Akteure mit einem soliden [SELBST]Wertgefühl ausgestattet wären. Statt Egomanie und Defizitbekämpfung sowie Kompensation der eigenen Minderwertigkeit könnte auch wieder Rücksichtnahme, Mitgefühl und Verantwortung gegenüber den Mitmenschen im Mittelpunkt stehen. Wir müssten uns nicht dauernd als Opfer sehen, sondern könnten die Verantwortung für unser eigenes Denken und Handeln übernehmen. Und wir müssten nicht angstgesteuert vermeintlichen Rettern hinterherlaufen.
Deshalb ist der „Weg zu sich [SELBST]“, der zu einem gesunden [SELBST]Wertgefühl führt und die beschriebenen neurotischen Auswüchse unnötig macht, ein Weg in eine bessere, sozialere, wärmere und menschlichere Gesellschaft. Da dieser Weg gerade am Anfang meist holprig ist, sind Therapeuten hier oft gute Wegbegleiter. Sie fungieren als „Geburtshelfer“ für das eigene [SELBST]Wertgefühl und haben damit eine wichtige Aufgabe in gesellschaftlicher Hinsicht.
Nathalie Berude-Scott
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Referentin, Autorin des Buchs „Betriebsgeheimnis Kind“ , Praxis [SELBST]Auskunft, Essen