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Nahtod-Erlebnisse bei Suizidenten

Seit ca. 50 Jahren sind sog. Nahtod-Erfahrungen (NTE) mit ihren relativ ähnlichen Mustern einer breiteren Öffentlichkeit rund um die Welt bekannt geworden und zunehmend erforscht. Dabei zeigte sich ein deutliches Übergewicht an positiven, geradezu himmlisch anmutenden Visionen, während negative Berichte mit mehr oder weniger höllischem Charakter offenbar maximal ein Fünftel der NTE ausmachen. Spannend ist daher insbesondere die Frage, wie sich im Vergleich die Erfahrungen von Suizidenten in unmittelbarer Nähe des Todes darstellen. Die Betreffenden sind oft depressiv, ja am Leben verzweifelt
– vielleicht sogar an ihrer religiösen Überzeugung. Ihnen fehlt Hoffnung als jenes Grundelement, ohne das man psychisch kaum mehr Luft zum Atmen bekommt und die innere Kraft dahinschwindet. Der sog. Freitod – ist er wirklich eine Tat der Freiheit oder nicht vielmehr insgeheim ein Notschrei angesichts der Ermangelung an Freiheit? Haben die Worte „SichdasLeben- nehmen“ nicht einen merkwürdigen Doppelsinn, wonach sich im suizidalen Entschluss eine tiefe Sehnsucht nach Erfüllung ausspricht?

 

Von daher aber könnte gerade die Konfrontation mit den meist positiven Berichten aus unmittelbarer Todesnähe für sie eine gewisse Faszination ausüben. Freilich sollten sie und im Übrigen alle mit Suizidenten Befassten (immer m/w/d) genauer wahrzunehmen versuchen, was die internationale Nahtod-Forschung insgesamt zum Thema zu sagen hat. Deren Ergebnisse sind allerdings keineswegs eindeutig.

Bereits 1937 hatte der französische Schriftsteller Georges Barbarin Sterbe-Erlebnisse von Menschen vergleichend untersucht, die dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen und ins Leben zurückgekehrt waren. Seinem Buch „Der Tod als Freund“ zufolge sprechen solche Nahtod-Erfahrungen oder Sterbebett-Visionen ungefähr allesamt dafür, dass „der Tod immer einfach und leicht“ sei, ja dass in manchen Fällen sogar ein gewisses Wohlgefühl“ jedoch meist kein Schmerz empfunden werde. Doch just für Selbsttötungen gilt laut Barbarin diese Regel nicht, hier drohten vielmehr düstere Erfahrungen.

Fast vier Jahrzehnte später bestätigte der US-amerikanische Mediziner, Philosoph und Nahtod-Forscher Raymond A. Moody aufgrund seiner Materialsammlung: „Zahlreiche Menschen, die eines natürlichen Todes oder bei einem Unfall gestorben waren, haben mir erzählt, ihnen sei kundgetan worden, dass der Selbstmord eine sehr schlimme Tat sei, die eine Bestrafung zur Folge habe.“ So habe sich einem aus der Todeszone Zurückgekehrten fest eingeprägt, dass zwei Dinge absolut verboten seien: sich selbst oder einen anderen umzubringen. Alle Zeugnisse Suizidaler stimmen laut Moody darin überein, dass ihr Selbstmordversuch gar keine Lösung gebracht habe.

Eine Frau beispielsweise habe sich eingesperrt gefühlt in eben derselben Lebenslage, die sie in den Selbstmordversuch getrieben hatte: „Es kam ihr so vor, als würde sich der Zustand, in dem sie sich vor ihrem ‚Tod‘ befunden hatte, unablässig wiederholen wie in einem Zyklus.“ Der Bestsellerautor unterstreicht: „Alle haben gesagt, nachdem, was sie jetzt erlebt hätten, würden sie nie wieder an einen Selbstmord denken.“ Ein Suizid löse die jeweiligen Probleme weder im Diesseits noch im Jenseits.

Auch viele andere Nahtod-Forscher sind später zu sehr ähnlichen Resultaten gelangt. So betonte der bekannte US-amerikanische Psychologieprofessor Kenneth Ring, lange Jahre Präsident der Association for Near-Death-Studies (IANDS), in seinem Material finde sich kein einziges Beispiel, wonach Suizidale etwa ein erlösendes Lichtwesen erlebt hätten.

Die amerikanische Ärztin und Nahtod-Forscherin Barbara Rommer hat speziell negativen, unangenehmen NTE ein ganzes Buch gewidmet: „Der verkleidete Segen. Erschreckende Nah-Todeserfahrungen und ihre Verwandlung“ (2004). Darin bringt sie das Beispiel einer 29-jährigen Suizidalen, die eine Überdosis Medikamente genommen hatte und dann durchaus eine Art Christus-Begegnung erlebte, allerdings eine düstere: „Alles Schlechte, was ich jemals getan habe, wurde hervorgekehrt. Ehrlich, ich fühlte mich wie in der Hölle. Ich fühlte mich beurteilt in Bezug auf absolut alles, was ich getan hatte – danach, ob es gut oder böse war.“ Die einstige Atheistin sah sich mit einer zornigen Richtergestalt konfrontiert, die sie in ihrer Lebensrückschau kritisch belehrte.


2019 erzählte die Krankenschwester Ingrid Wenger öffentlich von einem Suizidversuch mit Rattengift und starken Medikamenten, den sie als Jugendliche unternommen hatte. Obwohl sie unmittelbar vorher sogar noch gebetet hatte, fiel ihre Nahtod-Erfahrung albtraumartig aus. Auf der Todesschwelle begegneten ihr heulende Dämonen und lautes Dröhnen schmerzte in ihren Ohren. Und doch stellt sich das Gesamtbild bei Suizidenten in der Forschung keineswegs eindeutig negativ dar.

Das belegt das neueste Buch des Arztes Sascha Plackov mit dem Titel „Dem Licht ganz nahe. Nahtod-Erfahrungen und Suizid“ (2024). Seine Forschungsdaten besagen, „dass Suizidenten nicht öfter eine negative Nahtod-Erfahrung erleben als andere“, auch wenn tatsächlich zu einem geringen Anteil „höllische“ Szenen erlebt werden. Das Ergebnis ist klar: „Somit kann der Suizid an sich nicht als Grund für eine negative Nahtod-Erfahrung herangezogen werden.“

 

Gegen seine Darstellung wäre freilich klarer in Rechnung zu stellen gewesen, dass es sich bei den betreffenden NTE allemal „nur“ um Suizidversuche gehandelt hatte, weshalb aus deren Durchleben keine endgültigen Schlüsse hinsichtlich eines postmortalen Geschicks gezogen werden dürfen. In dieser Beziehung bleibt die Theologie gefragt, die freilich ihrerseits je nach Ausrichtung ganz verschiedene Auskünfte geben kann. Und das gilt natürlich auch für die ethische Bewertung jeder Suizidabsicht und -tat.

Plackov untermauert seine kritische Betrachtung von Selbsttötungen am Ende gleichwohl mit einer Reihe von Zitaten aus dem Mund nahtoderfahrener Suizidenten. Dieser konzentrierte Schlusseindruck entspricht durchaus den Resultaten der meisten NTE-Forscher aus früheren Jahrzehnten. Exemplarisch sei hier nur ein Satz wiedergegeben: „Ich kann niemandem raten, sich umzubringen, also Selbstmord zu begehen. Niemals!“ Plackov resümiert: „Deshalb stimmen die Zeugnisse Suizidaler auch alle darin überein, dass Selbsttötung keine Lösung ist. Es findet sich kein einziges Zeugnis, das diesen Weg allen Ernstes empfiehlt.“

Ein Stück weit wird diese Sichtweise aber bei genauerer Wahrnehmung der Forschungslage doch relativiert. So berichteten die Thanatologen Russell Noyes und Roy Kletti 1982 von einer 22-Jährigen, die für einen ernsthaften Suizidversuch Arzneistoffe mit sedierender, hypnotischer und narkotischer Wirkung genommen hatte. Ihre NTE gestaltete sich als mystisches Erleben in einer Art stillstehender Zeit. Sie befand sich in einer „anderen Welt“ und meinte, mehr denn je sie selbst zu sein, und zwar tiefer, als sie sich bis dahin gekannt hatte: „Ich hatte das unbeschreibliche Gefühl, Teil eines größeren Ganzen zu werden.“ Diese neue Selbstfindung stärkte sie offenbar innerlich.

In Kenntnis der sehr oft negativen, ja Angst einflößenden Nahtod-Erfahrungen von Suizidenten fragte mich ein seit langer Zeit durch Selbstmordgedanken Angefochtener vor einigen Jahren, ob es denn in meinem reichlich gesammelten Forschungsmaterial nicht vielleicht doch Fälle gebe, in denen unter den oft freudig und liebevoll aus dem Jenseits zur „Begrüßung“ Kommenden auch Suizid-Täter aufgetaucht seien. Ich recherchierte daraufhin diese Fragestellung – und siehe da, einen einzigen solchen Fall fand ich tatsächlich in der Fachliteratur.


Der Arzt Michael Sabom zitiert in seinem Buch „Erinnerung an den Tod“ (1982) einen Reanimierten, der in einer NTE nach einem Herzstillstand berichtete: „Ich kam an irgendeinen Ort und dort waren alle meine Verwandten, meine Großmutter, mein Großvater, mein Vater und ein Onkel, der kurze Zeit vorher Selbstmord begangen hatte. Sie kamen alle auf mich zu und begrüßten mich. Sie sahen gesünder aus als beim letzten Mal, als ich sie gesehen hatte.“ Was auch vorkommt, sind Berichte der Art, dass eine negativ beginnende, womöglich höllenartige NTE sich verwandeln kann in eine doch noch sehr „schöne“, wie man sie ohnehin ganz überwiegend kennt. Von solchen „paradoxen“ NTE handeln insbesondere zwei Bücher des US-amerikanischen Arztes Maurice Rawlings, die übrigens auch ins Deutsche übersetzt wurden. Und offenbar gibt es dergleichen auch im Kontext versuchter Selbsttötungen.


So berichtet die britische Forscherin Margot Grey in ihrem Buch „Return from Death“ (1985) von einer Suizidentin, die sich wegen ihrer Tat von jenseitigen Gestalten zwar zunächst angeklagt sah und klar erkannte, dass es eine Todsünde sei, sich das Leben zu nehmen, die aber im Fortgang ihrer Nahtod-Erfahrung schließlich doch ihren Freispruch erlebte.

Ja, es gibt sogar Fälle, in denen Suizidale rein positive Nahtod-Erfahrungen machten, wie sie auf dem Gebiet der Sterbeforschung namentlich von Julius Bahle und Elisabeth Kübler-Ross schon in den 1960er-Jahren als gängig beschrieben worden sind. Kenneth Ring und Stephen Franklin berichteten in einer 1982 veröffentlichten Studie sogar von 17 Suizidalen, deren Nahtod-Visionen allesamt nach dem bekannten „schönen“ Muster verlaufen waren – also charakterisiert 

durch Gefühle von Frieden, Wohlbefinden und geradezu himmlischem Licht- und Musik-Erleben, wobei hier und da auch die „Begrüßung“ und Kommunikation mit geliebten Verstorbenen vorkam.

Wenn also zum Suizid neigende Personen von der Nahtod-Forschung nähere Auskünfte oder zumindest ein wenig Orientierung erhoffen, so sollten sie jedenfalls nicht einseitig informiert sein. Reduktionistische Beschränkungen auf ausschließlich negative, gar „höllische“ Berichte, also bedrohlich klingende Erfahrungen verbieten sich ebenso wie das Anführen rein positiver, angenehmer Visionserlebnisse auf der Todesschwelle. Denn wie dargelegt, gibt es beides, ja sogar die Kombination von beidem.

Wichtig bleibt aber auch die grundsätzliche Überlegung, dass solche Nahtod-Berichte keinesfalls – und erst recht nicht ihre Weitergabe durch Bücher oder Filme – in naiver Weise als „Offenbarungen“ aus dem Jenseits auf- oder hingenommen werden dürfen. Zu den klaren Befunden der Forschung zählt die Einsicht, dass das Erleben in unmittelbarer Todesnähe ungeachtet sich wiederholender Muster über verschiedene Kulturen hinweg doch oft auch gut erkennbar von individuellen und kulturellen Einflüssen geprägt ist. Und das verwundert nicht; denn allein der Umstand, dass die Betreffenden wieder ins Leben zurückgekehrt sind, illustriert zur Genüge, dass zumindest Teile des Gehirns und der Psyche noch im Diesseits verwurzelt waren. Im Übrigen lassen sich solche Sondererfahrungen ein Stück weit doch auch mit immanenten, rein diesseitigen Mitteln und Theorien erklären – etwa durch den Einfluss körpereigener Endorphine, also morphiumähnlicher Hormone, die ihre Wirkung in Bruchteilen von Sekunden entfalten und dies gerade in der Krisensituation des unmittelbar bevorstehenden Todes tun können, oder auch durch die jeweiligen psychologischen Umstände. Wiederum wird damit nicht alles erklärt, was in solch mystischen Momenten an merkwürdigen Beobachtungen und erstaunlichem Wissen auftreten kann. Insofern verbieten sich auch in dieser Hinsicht reduktionistische Deutungen.


Mit dem Tod und der Frage eines möglichen „Danach“ ist es nicht so einfach, wie manche Atheisten, Agnostiker und Esoteriker glauben. Unbestreitbar ist nur eines: Sollten die Leugner eines Jenseits richtig liegen, dann werden sie es nach ihrem Tod nie erfahren; sollten dagegen die Verfechter einer Unsterblichkeit der Seele oder Auferstehung im Recht sein, werden sie und auch alle anderen es erfahren.

Letztgültig orientierende Auskünfte gibt es insofern auch auf dem Gebiet der Nahtod-Forschung nicht. Doch immerhin zeichnet sich für fragende Suizidale ab: Menschen, die sich das Leben nehmen wollten und dabei eine NTE hatten, neigen kaum zur Wiederholung einer solchen Tat; Ausnahmen bestätigen die Regel. Vielmehr beflügelt sie meist ein neuer, ins Transzendente weisender und dabei doch wieder ans Diesseits verweisender Lebenssinn nachhaltig. Oft haben sich ihre Gottes- und Selbsterkenntnis vertieft.

Es scheint auch nicht so zu sein, dass wunderbar schöne NTE dazu verführen, womöglich gerade um ihretwillen sehnsuchtsvoll eine Selbsttötung anzustreben. Der spirituelle Widersinn von Suiziden erweist sich als zu offensichtlich; sie stünden der Liebe und Weisheit entgegen, die in vielen Visionen von himmlischer Seite her eindrucksvoll erlebt werden – und die von einem göttlich so Umgreifenden zeugt, dass sogar bei hoffnungslos verzweifelten oder erschöpften Suizid-Tätern das Wort aus dem Psalm 103 gelten dürfte:


„Barmherzig und gnädig ist der HERR, geduldig und von großer Güte; er wird nicht für immer hadern noch ewig zornig bleiben.“

Werner Thiede: Unsterblichkeit der Seele? Interdisziplinäre Annäherungen an eine Menschheitsfrage. LIT-Verlag

Dr. theol. habil. Werner Thiede Außerplanmäßiger Professor für Systematische Theologie, Pfarrer i. R., Publizist
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