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Alles nur psycho... logisch?

Teil 2: Short Cuts im Umkreis psychotherapeutischer Intervention

Short Cuts – gemeint sind kurze Überlegungen und Assoziationen, pointiert, essayistisch, provokativ. Zuweilen hilft es, über die Landschaft zu fliegen, den Blick umherschweifen zu lassen und zu entdecken, was zu Fuß verborgen bleibt. Das gilt auch für die eigene therapeutische Tätigkeit. Die Short Cuts laden Sie zu einem Flug im Helikopter ein und vielleicht werden Sie Interessantes entdecken, das Sie in Ihrem Denken und therapeutischen Handeln fruchtbar machen möchten. Psychologisierung und das Ich


Ein Paradoxon: Psychologie und Psychotherapie dienen nach eigenem Verständnis dem Menschen, konkret dem Klienten (immer m/w/d). Sie verhelfen diesem dazu, sich als Persönlichkeit besser zu verstehen und so zu fühlen, zu denken und zu handeln, dass es dem eigenen Wohlbefinden dient. Gleichzeitig folgen die meisten Ratgeber, Apps und Therapieangebote der Logik der Ich-Zentriertheit in der Spannbreite verschiedener Maßnahmen zur Selbstregulierung bis hin zu Selbstoptimierung. Diese Richtung allerdings gebiert ihrerseits Not, spätestens dann, wenn der Betroffene an eigene Grenzen von Selbstschau, Reframing und Verhaltenstrainings gelangt. Die Grenzerfahrung schreibt er typischerweise eigenem Versagen zu und therapeutisch erfährt er eine mehr oder weniger indirekte Bestätigung, indem andere Wege ausgeklügelt werden, wie der Klient durch eigene Leistung doch noch ans Ziel gelangen kann.

Anders formuliert: Psychotherapeutische Arbeit beginnt mit Menschen, die sich seelisch, insbesondere emotional beschwert fühlen und daher fachliche Hilfe suchen. In der Praxis konzentrieren sich therapeutische Interventionen in der Regel auf die Persönlichkeit. Sie individualisieren bzw. subjektivieren, personalisieren die Suche nach Ursachen sowie Lösungen. Objektive, von außen kommende, nicht dem Subjekt entspringende und/oder von ihm nicht maßgeblich gestaltbare Einflüsse werden in subjektive und psychologische Kategorien übersetzt („Was macht das mit dir?“), sodass sie therapierbar werden, oder sie werden als nebensächlich beiseitegelegt. Nicht nur die Phrase: „Was macht das mit dir?“, sondern auch die Selbstbefragung „Was macht das mit mir?“ ist alltagsdominant, eine Frucht psychologisierter Lebensbetrachtung. Ebenfalls populär sind Botschaften wie: „Erkenne deine Schatten und heile dich selbst“ und „Entdecke das innere Kind in dir“, um vermeintlich unterdrückte, nicht gelebte Bedürfnisse zu leben und sich dadurch selbst zu „heilen“. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Selbstverständlich können Betroffene auf zahlreiche Marktangebote zugreifen, um den inneren Wachstums- und/oder Heilungsprozess zu befördern. Körper-, Musik-, Kunst-, Mal-, Theater-, Wald-Therapien etc. beanspruchen genau dies.

Illustrativ etwa diese neuere Variante aus dem Repertoire „Seele heilen durch Natur“. Die Meldung: „Wie wird man im Garten glücklich? Harken, Jäten und Unkraut zupfen heilt die Seele. Das versuchen Gartentherapeuten zu belegen. Doch der Garten muss auch zu einem passen. Fühlen Sie sich niedergeschlagen? Gestresst? Ihnen fehlt der Sinn? …. Ihnen fehlt womöglich ein Garten. Beim Harken, Jäten und Umtopfen baumelt die Seele, man kommt innerlich zur Ruhe und findet Zufriedenheit. Darauf setzt die Gartentherapie. Gut, wenn die Tomaten trotz eisernem Gießregime nach Spülwasser schmecken, Raupen die Hecke auffressen und das Unkraut die Terrasse über Nacht zurückerobert – dann erlebt man auch andere Gefühle im Garten. Doch von Gartentherapeuten kann man lernen, auch daraus Positives zu ziehen. Die absolvieren hierzu sogar Lehrgänge, und es gibt gar eine internationale Gartentherapie-Vereinigung.“


Der gemeinsame Nenner, den solchartige Angebote verschieden einkleiden, liegt in der Grundüberlegung, die Person sei beides: verantwortlich und fähig, Abhilfe zu schaffen. Zugespitzt: Externale Faktoren, Rahmenbedingungen wie Wohn-, Arbeitssituation, politische Entwicklungen wirken nur deshalb psychisch belastend, weil die Person psychisch zu instabil, insouverän ist, um „sich gesund abzugrenzen“. Selbst kaum bis nicht Beeinflussbares wird zu Gutteilen individualpsychologisch übersetzt – mit der Folge, dass die Person therapiebedürftig ist, um persönliche Ressourcen zu finden und zu nutzen, sich selbst zu heilen.

Plakativ und in Anlehnung an den Leitgedanken bzw. das Ordnungsprinzip Diderots: „Der Mensch ist der einzigartige Begriff, von dem man ausgehen und auf den man alles zurückführen muss“, schreibt Diderot in der „Encyclopédie“.

Paraphrasiert: Leitgedanke und Ordnungsprinzip in weiten Teilen in Psychologie und Psychotherapie lautet: An Anfang und Ende steht die Person/das Subjekt/das Ich; von ihr bzw. ihm geht alles aus, und auf sie bzw. es führt alles zurück.

Nun kann man entgegnen: Klar ist das so; und was zurückkommt, sind unsere Erlebnisse, Erfahrungen. Jedoch kann Verinnerlichung von Äußerem sehr belasten bzw. die psychische Gesundheit schädigen, behindern, und insofern inkludiert Psychotherapie immer schon Außersubjektives.

Gewiss. Indes bleibt die Grundlogik des psychologisierenden Verstehens subjektiver Probleme. Denn das, was zurückkommt, ist gemäß dem beliebten konstruktivistischen Argument lediglich das, was der Einzelne qua Einzelheit wahrnimmt, selektiv aussucht (Bedürfnisse, Aufmerksamkeitsfokus 

etc.) und letztendlich erschafft. Jeder Einzelne konstruiert – und verbleibt somit in und bei sich selbst.

In der therapeutischen Arbeit äußert sich diese Denkweise paradigmatisch in der (nicht nur tiefenpsychologisch begründeten) detektivischen Suche in der Biografie mit besonderem Fokus auf Erlebnissen und Erfahrungen während des Heranwachsens, also im Blick zurück, und dies, obgleich inzwischen neurowissenschaftlich und empirisch eindeutig ist, dass Erinnerungen trügen können.

Wir dichten hinzu, fantasieren und fabulieren, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Jedes Erinnern ist ein Überschreiben, Lückenschließen, Hinzufügen, Erfinden – ausgehend von der je aktuellen Befindlichkeit, Bedürftigkeit, Zielrichtung, Situation des Erinnernden. Erinnern ist Konstruieren auf einer mehr oder weniger rudimentären Grundlage von tatsächlichen Erfahrungen – bis hin zum False-Memory-Effekt.

Ablesbar ist das Ausgehen von und Rückbeziehen auf das Ich zudem in der verbreiteten Annahme, der Klient trage alle Möglichkeiten, seine Situation zu verbessern, in sich, und der Therapeut fungiere nur als Geburtshelfer und Regisseur, der dazu verhilft, Verschüttetes, Verborgenes, Latentes aufzudecken. Folglich wird nach subjektiven Ressourcen gefahndet und mittels Reframing sowie Techniken der Denk-, Emotions- und Verhaltensregulierung dem Klienten auf die Sprünge geholfen. Das Idiom dazu: „Alle Ressourcen, die du brauchst, liegen in dir.“

Einer Patientin etwa, die seit über zehn Jahren schwer krank ist, wurde von einer Psychologin empfohlen, den Schmerz als Freund zu betrachten und damit positive Ressourcen zu aktivieren, dann werde es ihr viel besser ergehen. Der Patientin, die zahlreiche Aufenthalte in Schmerzkliniken hinter sich hat und ebenso zahlreiche psychologische Interventionen, erschien das inkompetent, zynisch und ideologisch – und war dennoch verunsichert: „Habe ich trotz allem versagt?“.

Zweifellos: Es gibt psychologische Strömungen, die externale Attribution bevorzugen, indem sie allein, zumindest maßgeblich den Umständen die Verantwortung für individual-seelische Not zuschreiben. Das Ich als Opfer von „Verhältnissen“. Doch sie helfen nur auf den ersten Blick; denn es ist der Einzelne, der wieder gefragt ist. Über die Empfehlung, das Feld zu verlassen, also etwa Wohnort, Arbeitsplatz, Bekanntenkreise und dergleichen zu wechseln, kommen auch sie selten hinaus, zumal eingedenk des Umstandes, dass Externales bestenfalls begrenzt beeinflussbar ist. Daher wird gesagt: Es liegt an dir, etwas zu ändern. Das Problem hast du, und daher schau nach Ressourcen, die du zur Verbesserung, Linderung, Lösung mobilisieren kannst. Klienten folgen dem und mühen sich, und die rege Nutzung von (von immer mehr Krankenkassen gezahlten) Apps, Chatbots und neuen Variationen in der Anwendung maschineller Intelligenz (KI wie das bekannte ChatGPT) als Helfer bezeugt dies.


Zugespitzt: Die Last der Lösung trägt der Einzelne, indem ihm gesagt wird, er habe das Problem und trage die für seine Rettung notwendigen Ressourcen bereits in sich. Nach dieser Glaubenslogik kann es innerpsychische Grenzen zur Heilung programmatisch nicht geben. Es scheint, als kapitulierten Psychohelfer vor der objektiven Macht externaler Fakten und deuteten daher – als Geschäftsmodell – alle Widerfahrnisse als psycho-logische. Stößt der Hilfebedürftige an Grenzen, erscheint er als „Schuldiger“, Verantwortlicher – und sitzt wieder in der Falle, beschwert um Selbstvorwürfe und Selbstzweifel. So erging es der oben genannten Patientin.

Emotionsneubewertung

Psychologisierung geht einher mit einer seit Jahrzehnten währenden Neubewertung von Emotionalität.

Der Glaubensartikel lautet: Gefühle sind authentisch, insofern wahr, insofern nicht infrage zu stellen. Es gelte, „sie ernst zu nehmen“, damit der Klient „sich angenommen fühlen“ könne. Empathie als Schlüsselwort.

Gefühle werden mit Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Rechtmäßigkeit assoziiert. Eine kognitive Überprüfung (reflexive Emotionalität) wird verneint, zumindest nicht für geboten gehalten. Denn, so heißt es, Gefühle sprechen die Wahrheit; daher gilt weiter: „Ich fühle das so, und deshalb ist es auch so.“ Gefühle schaffen Fakten, über die nicht diskutiert werden kann, geschweige denn, der Nachweis von Unangemessenheit erbracht. In der praktischen therapeutischen Arbeit wird diese „Meinung“ so gut wie nicht infrage gestellt. Der Klient könnte „verletzt“, „irritiert“, „empfindsam getroffen“ reagieren – und sich einen anderen Therapeuten suchen. „Der Wert von Gefühlen wird ... überschätzt“.


Beobachten lässt sich ein allmähliches Verdrängen fachpsychologisch fundierter Hypothesen und Theorien als Referenzrahmen durch Anteil- und Parteinahme, durch eklektische Ansätze aus verschiedenen psychologischen Strömungen und Esoterik mit Schlüsselworten wie „das innere Kind“, „Schatten“, „Selbstheilung“, „Karma“. Exemplarisch für diese Auswüchse sei der „Safe Spaces“ genannte psychologisierte Raum angeführt: „Schutzräume“, die neuerdings nicht nur von studentischer Seite eingefordert werden und zunehmend in der Form von Triggerwarnungen in öffentlich-rechtlichen Medien und Literatur das Publikum vor möglicherweise „verstörenden“ Inhalten warnen, sondern auch von „Awareness-Teams“, vornehmlich bei großen Veranstaltungen, gewährt werden. Wenig Berücksichtigung findet bei alldem, dass Gefühle multifaktoriell erzeugt werden, verbale Kleider einer Komposition aus genetischer und epigenetischer Herkunft, aus Neurophysiologie, Transmittern, Hormonen, aus gelernten Normen, autobiografischen Erfahrungen und Empfindungen, aus Überzeugungen und Ethos, kurz: aus Biologie, Kognition, Sozialisation, Kulturisation und jeweils situativen Stimmungslagen und Bedürfnissen sind. Fühlen und Gefühle sind zudem leicht erzeug- und manipulierbar, wie die vielfach durch Befragungen erhobene Empfindung, maschinelle Begleitung sei freundlicher, objektiver als menschliche. Besonders heikel: Vielfach nachgewiesen sind Wirkungen suggestiver Gesprächsführung seitens Therapeuten. (Belegt etwa vor Gericht im Themenkreis sexuellen Missbrauchs und der Erzeugung falscher Erinnerungen.) Und Gefühle sind nicht bestreitbar; daher befindet sich jede Gefühlsbehauptung auf sicherem Terrain. Denn die kognitive 

Überprüfung erscheint grundsätzlich nur zielführend, wenn eine Bereitschaft dazu besteht.

Der soziokulturelle Siegeszug des Fühlens ist im Alltag gegenwärtig und in Psychotherapie dominant: „Wie fühlst du dich? Was macht das mit dir? Was fühlst du dazu/ dabei?“ Und auch: „Ich fühle das soundso – du hast kein Recht, das infrage zu stellen“; „Ich bin der Meinung soundso, weil sich das richtig anfühlt.“ Und dergleichen mehr. Das Gefühl, so der Anspruch, repräsentiert unzweifelhaft Echtes und Wahres. Das Betroffensein im Innersten verweist Verstand, Vernunft, kognitive Reflexion auf hintere Plätze; im Zweifel gelten sie als „Rationalisierungen“, also psychologisch verdächtige Konstruktionen. Mit dieser Eskalation beraubt man sich der Möglichkeit, Fühlen/ Gefühle auf ihre Angemessenheit hin zu überprüfen und eine Kultur des reflektierten Gefühls zu pflegen.

Psychotherapiepraxis profitierte davon, mehr Aufmerksamkeit auf diese Kultur des Be-, Über-, Nach-, Vordenkens und des Prüfens auf Angemessenheit zu verwenden. Neben einer Haltung des „open minded“ und eines erweiterten Blicks können sich im kritischen Nachfragen Chancen eröffnen, die das Spektrum von Quellensuche und hilfreichen Optionen zugunsten des Klienten verbreitern.

Sofern von den Therapeuten „vorgelebt“, wächst die Chance, dass Klienten durch das mit dieser mentalen Bahnung verbundene verstärkte überprüfende Befragen ein Lernen am Modell probieren und erleben, wie der Fächer an Handlungsoptionen wächst. Therapeuten können dazu Methoden oder plakative Modelle nutzen, z. B. die Formel „So tun, als ob“, „Angenommen, dass ...“ bis hin zur „Wunderfrage“ aus dem NLP (Neurolinguistisches Programmieren).


Die Transaktionsanalyse als weiteres Beispiel kann modellhaft illustrieren, was die Ich-Bereiche konstituiert, was sie charakterisiert und welche Freiheitsgrade und Hilfestellung das „Erwachsenen-Ich“ hat, jene Ich-Instanz, die idealtypisch konzipiert ist als der nüchtern denkende, am wenigsten voreingenommene, idealiter rein sach-, themenbezogene Anteil der Persönlichkeit. Eine Kultur des offenen und im skizzierten Sinn nüchternen Geistes ermöglicht, gepaart mit Wissen, dass der Klient zu emotionaler Selbstdistanz befähigt wird und dadurch an Flexibilität gewinnt, gerade in jenen Fällen, in denen das Erkennen und die Option einer alternativen Handlungspraxis schneller sind als das (bis dato behindernde) Gefühl. Dieses zeitliche Hinterherhinken von Gefühlen gilt es, zu erläutern und dazu zu ermutigen, eine ungefähre Zeit lang die neue Handlungsabsicht zu probieren, um dem Fühlen die Gelegenheit zu geben, mit der Erkenntnis zusammenzuwachsen.

Erläuterung und „Wachsenlassen“ sind essenziell. Gefühle verhalten sich zu Veränderungsanforderungen hartnäckig. Dies zumal, weil sie häufig mit „Meinung“ oder Überzeugung verflochten sind und ohnehin einen hohen identifikatorischen (Stellen-)Wert haben. Gefühle, die unmittelbar erfahren werden, sind stärker verwoben mit Selbstkonzept und Selbsterleben, als es Gedanken sind.


Gedanken als Produkte rationaler Denkbewegung erscheinen Ich-ferner, können rasch ausgetauscht werden und benötigen (siehe Neuropsychologie) wesentlich höheren Aufwand, um als identifikatorisch bedeutsam zu gelten. Dort, wo Fühlen und Denken, Gefühle und Gedanken harmonieren, fühlen(!) sich Menschen in der Regel „bei sich“, „kongruent“, „gut“ – und erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Ziele, die sie sich vornehmen, so lange verfolgt werden, wie kein Spalt in das Tandem von Fühlen und Denken getrieben wird.

Sobald das Paar auseinanderdriftet, Inkongruenzen entstehen, verstärkt sich die Neigung, dem Fühlen nachzugeben, weil dies der kürzeste und am wenigsten anstrengende Weg scheint, Komplexität und Ambiguität zu reduzieren (emotionale, kognitive Dissonanz auflösen). Verflochten mit dem Glauben, Gefühltes sei das Wahrhaftige (jedenfalls „wahrer“ und „echter“ als Gedachtes), wird Veränderung schwieriger. Auf der Seite der Psychoprofis ist zudem zu beachten, dass mit dem Fokus auf Emotion Gefahr lauert und, im Rahmen von Empathie, seit einigen Jahren gar von „Schattenseiten“ gesprochen wird. Letztere erleben Klienten insbesondere dann, wenn therapeutische Aufforderungen sie in emotionale Zwickmühlen drängen, etwa Loyalitätskonflikte; und auch im außertherapeutischen Raum mündet die Befolgung des Aufrufs zu „Empathie“ (verstanden als emotionale Anteilnahme bzw. Sich-Hineinfühlen) in Überforderung bis Erschöpfung – und in das Kippen ins Gegenteil (emotionale Kälte, Abwendung bis Verachtung). 

Zu bedenken ist ein weiteres therapierelevantes Phänomen. Gemeint ist die Auffassung, das eigene Fühlen, emotionale Erleben sei so einzigartig, dass einem anderen das Verständnis notwendig verschlossen bleibt. Diese strukturelle Differenz wird allerdings weniger als fundamentale Hypothese eingebracht, sondern fallweise, je nachdem, wie „angenommen“ und „verstanden“ sich der Klient fühlt.

Diese Facette von Egozentrik manifestiert sich in Fällen, in denen Klienten sich „nicht gesehen“ fühlen, in zwei Klagen. Erstens in jene, die den Therapeuten beschuldigt, er messe Reaktionen nur an eigenen Werten und Normen und könne daher nicht beurteilen, wie es „mir wirklich geht“; eine Erweiterung trägt den Tenor: „... deshalb und solange Sie das beibehalten, können Sie mir nicht helfen“.

Die zweite Klage bezichtigt den Therapeuten, er diskriminiere, bevormunde, instrumentalisiere den Klienten für seine Glaubenssätze. Diese Klage nimmt die vorige auf, prinzipialisiert sie und verweist auf eine Zwickmühle, an deren Erbauung Psychologie beteiligt ist. Gleichgültig, was Therapeuten tun, der Klient kann stets die Beschwerde vorbringen, die eine fundamentale Andersheit einführt nach dem Muster: „Der Therapeut ist nur bei sich“. Etwa: „Sie können meine emotionale Lage nicht nachvollziehen“, respektive identitätspolitisch/grundsätzlich Andersartigkeit betonend: „Auch Sie können nicht aus Ihrer Haut heraus und sich selbst ganz leer machen, um sich vollkommen auf mich einzulassen“. Und daher „bleiben Sie immer bei sich selbst und können nicht wissen, was für mich gut ist, und können mir keinesfalls vorschreiben, was ich tun sollte/ was für mich das Beste ist; Ihre Empfehlungen sind wertlos für mich“. (Diese Logik erschwert Verständigung in Kontexten, in denen Therapeuten Klienten betreuen, die in ihm fremden kulturellen Milieus sozialisiert/kulturisiert sind.) Therapeutischer Bias


Mit den skizzierten Trends schwappt die Welle des Ideologisierens auch in therapeutische Settings. Aufgrund ihrer Auswirkungen empfiehlt sich eine Metabetrachtung, die therapeutische Praxis kritisch befragt. Beobachten lässt sich, dass therapeutische Interventionen zunehmend mit persönlichen Glaubensfarben eingefärbt werden, intendiert oder nicht, bewusst oder nicht, mehr oder minder subtil. Professionelles Helfen wird mit Normativem, mit wertender Stellungnahme, einem Dafür- oder Dagegenhalten konnotiert. Persönliche Ansichten über das Sollen und Dürfen fließen damit ein in Empfehlungen an Klienten. Pointiert gesprochen steht hier nicht der Klient im Mittelpunkt, von dem alles ausgeht und auf den alles zurückgeführt wird (frei nach Diderot), sondern Haltungen und Wahrheiten der Fachhelfer. Solange der Klient mit dem Angebot harmoniert, fallen diese Implikationen und Konnotationen nicht auf. Klienten loben dann häufig, mit dem Therapeuten „auf Augenhöhe“ oder „auf einer Wellenlänge“ zu funktionieren. Erst im Konfliktfall sind beide herausgefordert. Gewiss: Psychotherapeutisch Tätige wähnen sich in der Regel der Unvoreingenommenheit im Namen der Klientenzentrierung. Abgesehen davon, dass dies bestenfalls ein Vorsatz sein kann (denn auch sie sind vorgeprägt), kann er immerhin als regulative Idee dienen.

Wer den Gedanken der regulativen Funktion übernimmt, wird nicht der Verführung erliegen, zu meinen, der Vorsatz sei identisch mit bereits vollendeter Neutralität. Der Weg ist das Ziel, kann man sagen, insofern das Bewusstsein eigener Voreinstellung stets mitläuft. Diese Aufmerksamkeit sorgt dafür, dass man sich selbst beobachtet, während man beobachtet, nämlich den Klienten und das Gespräch mit ihm. Die distanzierte Selbstbefragung kann Werte und Normen, persönliche Vorlieben, moralische Tendenzen und Urteilsschablonen bloßlegen und veranlassen, nach Optionen zu suchen, Voreingenommenheit zu verringern und insofern offeneren Geistes und gleichmütigerer Seele verschiedene Perspektiven einzunehmen, insbesondere Sichtweisen, die zu den eigenen konträr liegen. Die selbstkritische Betrachtung erweitert den Horizont von Verstehen und ermöglicht, wirksame Hilfeoptionen anzubieten, unabhängig von eigenem Dafürhalten.


Die Frage ist nicht, ob Voreingenommenheit gut oder böse ist; vermeidbar sind mentale Voreinstellungen ohnehin nicht, ebenso wenig ihr Wirken. Exakt deshalb sind sie bestmöglich aus der Latenz heraus zu befördern und ihr Einfluss zumindest ins Bewusstsein zu heben, mit dem Ziel, ihn zu verringern oder offenzulegen. Dabei helfen Fragen, nach Erscheinungsformen und Spuren zu fahnden, z. B. in der Nutzung von Sprache, der Funktion eigener Haltung und Meinung in der Aufmerksamkeitslenkung, im therapeutischen Prozess, in der Passung mit dem, was Klienten mental mitbringen. Es geht darum, zu entdecken, in welchen Weisen sich der persönliche Bias in der psychotherapeutischen Intervention niederschlägt und wie er wirkt, um auf diesem breiten Fundament weitere Entscheidungen für die Praxis zu treffen.

Kurz: Die Varianten der eigenen Gebahntheit zu manifestieren, steht im Einklang mit einem therapeutischen Ethos, insofern Überzeugungen und Präferenzen direktive Wirkung entfalten. Das kognitive Offenlegen (Selbsteingeständnis) dient dem Klienten, da die Wahrscheinlichkeit wächst, dass therapeutische Interventionen weniger subtil dirigierend und suggestiv, sondern möglichst nah am Klienten entlanglaufen und diesem füllbare Freiräume öffnen.

Dr. rer. soc. M. A. phil. Regina Mahlmann Beratung, Coaching, Autorin Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.