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Beziehungsproblem oder Rückenbeschwer den? Fallbeispiel aus der Praxis

Psychische und psychosomatische Erkrankungen sind Krankheiten mit steigender Behandlungsanzahl laut Statistischem Bundesamt. Auch in der Praxis sind sie mittlerweile häufiger anzutreffen. Dabei kann eine Wechselbeziehung zwischen psychischen Störungen und somatischen Erkrankungen beobachtet werden.

Haben Sie sich schon einmal gefragt, ob der Klient, der Patient (immer m/w/d) bei mir richtig ist?

Haben Sie schon einmal vermutet, dass sich hinter einem psychischen Leidensdruck somatische Ursachen verbergen könnten? Ist es heute noch möglich, genau zu trennen, wo bei einem multifaktoriellen Geschehen die Auslöser/Ursachen zu finden sind? Welchen Stellenwert nimmt die Anamnese in Ihrer Praxis ein?

Das Fallbeispiel zeigt, wie durch eine erweiterte Anamnese ein Behandlungsansatz gefunden werden konnte.

Eine Frau mittleren Alters betritt die Praxis. Wir nennen sie Frau Müller. Sie schildert, dass ihr Hausarzt angeraten hat, ihr könne eine psychologische Unterstützung guttun.

Nach der Begrüßung und einigen Formalitäten wird zu Beginn der Anamnese der psychopathologische Status erhoben, der ohne gravierende Auffälligkeiten war. In der folgenden somatischen und somatovegetativen Anamnese berichtet sie von mehreren körperlichen Erkrankungen, unter anderem auch von früheren stärkeren Rückenbeschwerden – damals verursacht durch einen Bandscheibenvorfall. In der weiteren Familien-, der Sozial- und Sexualanamnese wird deutlich, dass sie eine große Familie hat und ein sehr kontaktfreudiger und warmherziger Mensch ist.

Um näher einzugrenzen, weshalb der Hausarzt seine Empfehlung ausgesprochen hat, bitte ich die Klientin, einmal eine der Situationen genauer zu beschreiben, in der sie einen Leidensdruck empfindet.

Sie berichtet von einer Begebenheit in der Küche, beim Frühstücken mit ihrem Mann. Sie werde etwas ungeduldig bei ausgedehnten Gesprächen und fange an, die Spülmaschine einzuräumen. Ihr Mann würde sich gerne noch länger unterhalten und sei der Meinung, das sei Desinteresse bei ihr, wenn sie schon aufstehe, anstatt ihm gegenüber zu sitzen und zuzuhören. Auf die Frage, ob es noch weitere Situationen gibt, die ähnlich verlaufen – entweder mit ihrem Mann oder mit anderen aus der Familie, dem Freundes- oder Bekanntenkreis – erinnert sie sich an ein Erlebnis mit 

einer Freundin, das auch so verlaufen war, ebenfalls in ihrer Küche.

Dann bitte ich Frau Müller, mir andere, problemlos ablaufende Begegnungen mit Familie, Freunden und Bekannten zu schildern. Sie berichtet von mehreren Situationen beim Treffen in einem Café, beim Sport, beim Geburtstag. Sie erzählt fröhlich von diesen Begebenheiten, hat eine lebhafte Gestik und zeigt ein echtes Lächeln, bei dem die Augen mitlachen. Auf Nachfragen erzählt sie, dass z. B. beim Geburtstag auch ihr Mann dabei war und dass das eine schöne Feier war.

Die „schwierigen“ Situationen können durch weiteres Nachfragen – die Anamnese dauert bis in die zweite Sitzung hinein – eingegrenzt werden auf Situationen, die sich in der Küche ereigneten.

Dort betrifft dies meistens ihren Mann, bis auf das eine Mal, wo sie von einer Freundin zum Sport abgeholt wurde und das Gespräch während des vorangehenden Kaffeetrinkens nicht so gelöst war wie sonst. Da sich auf Nachfragen keine schwerwiegenden inhaltlichen Konfliktthemen intraoder interpsychisch herauskristallisieren ließen, bitte ich Frau Müller, die Situation mit ihrem Mann in der Küche nochmals zu schildern. Diesmal wird das zirkuläre Fragen angewendet. Das zirkuläre Fragen

Das zirkuläre Fragen, auch triadisches Fragen genannt, ist eine Fragetechnik aus der systemischen Therapie. Menschen werden gebeten, die Position eines Beobachters einzunehmen und wahrzunehmen, was aus dieser Perspektive auf den verschiedenen Sinneskanälen vorrangig zu sehen bzw. zu hören ist. Diese Fragetechnik ermöglicht, neue bzw. genauere Informationen wahrzunehmen, die schon da waren, jedoch aus der bisherigen Perspektive nicht zugänglich waren. An das zirkuläre Fragen kann sich auch ein reflexiver Prozess anschließen. Ein klassisches Beispiel bei einem Kind wäre die Frage, was ein Lieblingsspielzeug, oft ist es der Teddy, gesehen oder gehört hat. Ich bat Frau Müller, sich die Situation in der Küche wieder vorzustellen und dann imaginär einen Platz in der Küche auszusuchen, von dem aus sie sich selbst und ihrem Mann zusehen und zuhören kann und zwar aus der beobachtenden Perspektive. Ergänzende Fragen waren z. B.: „Beschreiben Sie bitte, was Sie sehen.“ „Beschreiben Sie bitte, was Sie hören.“ „Können Sie sonst noch weiter etwas wahrnehmen?“ Bei einzelnen Schilderungen habe ich auch noch genauer nachgefragt.

Frau Müller beschreibt zunächst, was sie sieht, die Einrichtung der Küche, die Sitzposition an der Theke, den Abstand zueinander. Dann, was sie hört: Das Radio ist an, die Unterhaltung, die sie führt. Danach kommt sie zu dem Moment, an dem sie aufsteht. Und auch hier frage ich genauer nach und sie sagt, dass sie beobachten kann, dass sich ihr Gesicht schmerzhaft verändert, bevor sie aufsteht und sich an den Rücken fasst und reibt.

Damit beende ich das zirkuläre Fragen und gebe Frau Müller Gelegenheit, ihre Gedanken auszusprechen. Dann frage ich sie zu der Beobachtung, wie sie in der Situation ihren Rücken wahrgenommen hat, und sie erwähnt, dass sie aufgrund ihres Bandscheibenvorfalls regelmäßig zum Sport geht. Da ich über eine Ausbildung im sportlichen Bereich verfüge, bitte ich die Klientin, einmal eine Übung zur Stärkung des Rückens angedeutet vorzuführen. Die Klientin willigt überrascht ein. Dabei fällt mir eine fehlende Grundspannung auf, die jedoch vor dem Beginn einer Übung zur Stabilisierung der tiefen Rückenmuskulatur und auch des Beckenbodens aufgebaut werden sollte. Frau Müller schildert, dass sie zwar immer noch vereinzelt Rückenschmerzen habe, sich jedoch bei Bewegung die Situation verbessere. Und nun fällt ihr auf, dass das genau die Momente sind, in denen sie in der Küche aufsteht und anfängt, Sachen aufzuräumen.

Im weiteren Gespräch ergibt sich, dass die Küchenstühle für Frau Müller unbequem sind. Sie will diese austauschen.

Meine Empfehlung ist, Rücksprache mit dem Hausarzt zu halten, ggf. eine Vorstellung beim Orthopäden anzuregen und über Physiotherapie gezielt die Grundspannung einzuüben und dann wieder vermehrt das Gerätetraining (mit integrierter Grundspannung) aufzunehmen, zumal sie das auch sehr gerne macht und dort bereits schon viele soziale Kontakte aufgebaut hat.
Literatur
Niels Birbaumer, Robert F. Schmidt (2018): Biologische Psychologie, 7. Auflage, Springer Verlag

Natalie Au Heilpraktikerin für Psychotherapie, EMDR-Therapeutin (VDH/DGMT), NLP-Master-Business (DVNLP/INLPTA), Traumatherapie Somatic Experiencing nach Dr. Peter Levine
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