EMDR – eine Zeitenwende in der Psychotherapie
Dass Psychotherapie keine abgeschlossene Wissenschaft ist, sondern ein fortdauernder Entwicklungsprozess, wird insbesondere an der Geschichte des EMDR deutlich.
Die Entwicklerin, Francine Shapiro (1948-2019) beschritt Ende der 1980er-Jahre einen völlig neuen, sehr innovativen Weg, der zunächst von verschiedenen traditionell arbeitenden Therapeuten kritisch betrachtet oder sogar belächelt wurde. Es gab zu jener Zeit keinen Therapieansatz, der sich als Vorform dieser Methode verstehen ließe – keine andere bereits existierende Therapiemethode, von der das EMDR in irgendeiner Form abgeleitet werden konnte. Durch die Art und Weise des therapeutischen Vorgehens und das zentrale Element von EMDR – der wechselseitigen Stimulation der Gehirnhälften – wurde gewissermaßen eine Zeitenwende psychotherapeutischer Interventionen eingeläutet. Eine zukunftsweisende Intervention, die, professionell und mit Genauigkeit ausgeführt, die Handlungskompetenz und das Behandlungsspektrum eines Therapeuten entscheidend erweitern kann.
EMDR steht für Eye Movement Desensitization and Reprocessing, was so viel heißt wie: Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegungen. Die traditionell durch Augenbewegungen provozierte bilaterale Hemisphären-Stimulation kann gleichermaßen durch auditive oder taktile Stimulationen – sog. Tapping angeregt werden, was typischerweise zu ebenso guten Resultaten führt.
Die zahlreichen kontrollierten klinischen Studien, die regelmäßig das große Problembewältigungspotenzial der EMDR-Methode bestätigten, fokussierten überwiegend auf die Wirksamkeit bei der Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Was bei schweren Traumatisierungen und den entsprechenden Folgestörungen gut funktioniert, ist verständlicherweise gleichermaßen wirkungsvoll bei weniger schwerwiegenden Traumatisierungen und zahlreichen sich daraus entwickelnden Psychopathologien.
Indikationsspektrum
Vor dem Hintergrund, dass leidvolle Erfahrungen und die Erinnerung daran nicht selten kompensiert werden und bei Betroffenen sekundär zu den unterschiedlichsten psychischen und psychosomatischen Erkrankungen führen können, sind die Einsatzmöglichkeiten von EMDR breit gefächert. Zum Indikationsspektrum gehören neben der Bearbeitung von Traumafolgestörungen u. a. auch die Behandlung von Anpassungsstörungen, Phobien (z. B. Zahnarztangst), depressiven Störungen, Angststörungen, Phantomschmerzen, Schmerzstörungen allgemein, Allergien, psychosomatischen Störungen, Zwangserkrankungen, Tinnitus und jede Form von belastenden pathogenen Erinnerungen, also auch die ganze Bandbreite nicht hinreichend verarbeiteter Kindheitserlebnisse.
Unser seelisch-geistiges Selbstheilungssystem
Der EMDR-Theorie gemäß verfügt jeder Mensch über ein angeborenes, autonom arbeitendes seelisches Informationsverarbeitungssystem. Zu einschränkenden und pathologischen Entwicklungen kommt es offenbar mit Vorzug dann, wenn das ansonsten autonom arbeitende Informationsverarbeitungssystem – unser seelischgeistiges Selbstheilungssystem – durch ein für die jeweilige Person zu großes Erregungsniveau gestört wird. Bei Traumatisierungen à la couleur leiden die Betroffenen darunter, dass sich extrem emotionale Ereignisse besonders tief in ihr Gedächtnis eingegraben haben. Bildlich gesprochen ist ein Trauma gleich einer Verdauungsstörung im Gehirn.
Durch die bilaterale Stimulation der beiden Gehirnhälften im Rahmen eines EMDR-Prozesses werden die nicht richtig einsortierten Erfahrungen zumeist wie eine normale Erinnerung in das Gedächtnis des Betreffenden integriert. Mit anderen Worten: Das nicht gut verdaute pathogene Material, das sich bisher wie ein Parasit in der traumatisierten Person ausgebreitet hat, wird verdaut und zu einer in den Erinnerungsspeicher integrierten Erfahrung. Das ansonsten autonom funktionierende Selbstheilungssystem wird angeregt, die zum Trauma gehörenden destabilisierenden Komponenten, wie Empfindungen, Emotionen, Kognitionen und Körperwahrnehmungen, zu verarbeiten und zu integrieren, sodass die belastenden Faktoren nach einer Behandlung mit EMDR weniger destabilisierend sind oder sich sogar in eine sich positiv auswirkende Wachstums- und Entwicklungsstufe wandeln.
Christoph Mahr Heilpraktiker für Psychotherapie, Dozent, Autor des Werkes „Praxishandbuch Integrative Psychotherapie“