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Das Blubbern der Freiheit

Über den großen Raum der Möglichkeiten, wenn wir unser Potenzial entdecken und entwickeln

Über sich hinauswachsen – Kinder

finden das ganz normal. Auf dem Baum noch ein bisschen höher zu klettern: Das wird doch zu schaffen sein? Was für eine Freude! Der Raum unserer Möglichkeiten ist viel größer, als wir oft meinen. Das Gehirn hört mit der Entwicklung nie auf. Und wer mit der Idee der Potenzialentwicklung durch die Welt läuft, schaut auf sie, auf sich selbst und andere mit einem neuen Blick. Der Fokus wechselt von den Unzulänglichkeiten zu den Möglichkeiten. Diese Idee ist ansteckend und verbindend. Die ganze Gesellschaft gewinnt, wenn wir den Blick auf Potenziale erweitern und schärfen, wenn wir mehr Platz schaffen für neue Wege.


Wir können ja alle schon so viel. Haben schon so viel gelernt. Was das Leben so braucht, haben wir mehr oder weniger drauf, Lesen, Schreiben, Grundrechenarten, einen Beruf oder etwas Vergleichbares, wir wissen, wie man wohnt, wie man ausreichend kommuniziert, wie oder vielleicht lieber, dass man sich fit halten sollte, und so weiter. Wenn wir in diesen Bereichen Neues unternehmen, dann in der Regel, weil es nötig ist. Im Übrigen ist alles soweit ganz in Ordnung. Oder gibt es da noch mehr? Was ist mit Wünschen und Träumen, was mit schlummernden Talenten, mit unserem Potenzial? Was schlicht mit der Lust, etwas Neues auszuprobieren? Einfach so, jenseits aller Notwendigkeit? Oder auch, wie aufregend, innerhalb der Notwendigkeiten, aber eben trotzdem neu, gewagt, noch nie gemacht, verrückt?


Und plötzlich fängt eine Idee im Innern an zu blubbern, irgendwo, wo sonst Ruhe war – oder vielleicht auch Langeweile –, und das fühlt sich fast unanständig lebendig an. „Hoffnung schöpft sich aus dem weiten Feld der Möglichkeiten“, schreibt die Philosophin Natalie Knapp. Und ganz egal, ob sich eine Hoffnung erfülle: Sie selbst sei es allemal wert. Einfach nur da zu sein. Hoffnung als Gegenwartsprinzip.

Als Kinder sind wir auf Bäume geklettert oder auf Schuppendächer, Eckschränke, Hofmauern. Was für ein Abenteuer! Und der Stolz, wenn’s geklappt hat! Viel Lust, viel Kraft, ein bisschen 

Dank unseres zeitlebens lernfähigen Gehirns sind wir Menschen in der Lage, unser Leben nach eigenen Vor- stellungen zu gestalten.

Gerald Hüther und Christoph Quarch

Leiden ist der Anstoß zum Erkennen falscher Grenzen.

Ken Wilber

Grusel, und dann dieses Hochgefühl, das pralle Leben. Und heute? Mein letzter Baum ist schon eine Weile her und die Lust auf Abenteuer hauptsächlich vergangen. Ich bin erwachsen, auch schon eine Weile, und das kann ja erschreckend viel mit Funktionieren und Erfolg (oder eben nicht) zu tun haben. Und wie leicht ist es da, Hoffnung mit der „Erwartung auf Rendite“ – so nennt es Natalie Knapp – zu verwechseln. Wichtige Unterscheidung!

Ohne das Blubbern, die Hoffnung, die Träume und Wünsche kann das Leben vor lauter Bewältigtwerden grau anlaufen. Wir werden müde, traurig, leer und einsam, auch wenn äußerlich betrachtet vielleicht alles stimmt. Wir sehnen uns nach Sinn, Erfüllung, dem Gefühl von intensivem Leben. Wenn es immer so weitergeht, heißen die Krankheitsbilder dann Depression, Erschöpfungssyndrom und dergleichen. Aber so muss es nicht weitergehen. „Leiden ist der Anstoß zum Erkennen falscher Grenzen“, sagt der Evolutionstheoretiker Ken Wilber. Gegen Grau hilft bunt. Als Nächstes die Selbsterforschung. Was war denn schon bunt in meinem Leben? Also außer dem Bäumeklettern damals. Ja, der Rucksacktrip allein durch Neuseeland, da war ich immerhin Mitte zwanzig. Und dann dieses Survival-Camp in Tirol, nicht ganz so lange her. Aha, da ging das also noch, nicht schlecht. Wo schlummert denn der Rest davon? Und wonach stünde mir überhaupt der Sinn? Capoeira lernen, Bungee-Jumping, Straßenmusik? Vorm Rathaus eine Rede für den Frieden halten? Oder einfach zu Fuß quer durch den Wald? Chorsingen? Wem sagen, dass ich ihn lieb habe? Herzklopfen.

Wünschen kostet Mut, vor allem, wenn es darum geht, sich den Wunsch zu erfüllen. Vielleicht sogar gegen Widerstand, von innen oder außen. Einen Wunsch muss man sich leisten können, da muss man sich schon wertschätzen, also zum Beispiel ein Gerät funktioniert im Idealfall und hat keine Wünsche. Ach und ja, dann die Widerstände, Hindernisse, Sorgen. Was ist, wenn es nicht klappt? Ich stehe vor dem Rathaus mit meiner Friedensrede und bringe kein Wort heraus? Dann habe ich es wenigstens versucht. Scheitern fühlt sich vielleicht nicht schön an, aber kolossal lebendig. Und für weitere Anläufe, mich lebendig auszuprobieren, habe ich es geübt. Scheitern mit Würde will gelernt sein.

Also gut, ich probiere es. Habe mich gegen die Friedensrede und für die Straßenmusik entschieden. Geplant, geprobt, gebibbert. Mich hingestellt, mit einer Freundin (Beistand!), bei Nieselregen. Lieder gesungen. Kopfschütteln, Handyvideos, tanzende Kinder und Mütter geerntet. Gemerkt, dass mein Knieschlottern weniger wird, dass auch beim fünften Mal der Text noch nicht sitzt, dass die Laune in mir und um mich herum sonnig wird, dass wieder ein Textpatzer kommt, dass ich das überlebe und die Sonne noch mehr rauskommt. Und mich sehr, sehr, SEHR lebendig gefühlt. Das macht Lust auf mehr! Und es macht noch was. Es verändert mein Selbstbild. Ich habe das nicht nur gemacht, ich bin jetzt die,

die das gemacht hat. Und wenn ich es wieder mache, nicht unbedingt auf der Straße singen, aber etwas anderes Neues, dann gehört das zu mir. Und wer weiß, vielleicht wage ich dann etwas Größeres, was mich noch mehr bewegt. Ich erlebe mich in meiner Freiheit. Sie ist es, die in mir blubbert. Vielleicht fängt es mit einem kleinen Wagnis an. Vielleicht führt es zu großer Entwicklung und sinnerfülltem Leben. Daran kann man sich gewöhnen. Wirklich. Das menschliche Gehirn ist nämlich zu keiner Zeit fertig abgeschlossen, ausgebildet und dann nur noch dem Verfall preisgegeben. „Dank unseres zeitlebens lernfähigen Gehirns sind wir Menschen in der Lage, unser Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten“, schreiben der Hirnforscher Gerald Hüther und der Philosoph Christoph Quarch. Und unter dem Stichwort Neuroplastizität findet sich im Deutschen Ärzteblatt das Resümee einer Studie von 2008. Bei den Probanden fortgeschrittenen Alters – sie lernten Jonglieren! – wurde nach der Testphase, so das Ärzteblatt, eine „Vergrößerung der grauen Substanz und des Hippocampus gemessen, der Hirnregion, die für das Lernen wichtig ist, sowie Vergrößerungen im Nucleus accumbens, der zum hirneigenen Belohnungssystem gehört.“

Und beim Jonglieren ist da absolut nicht Schluss! Italienisch lernen geht auch, unter anderem. Und Freude und Abenteuer erst recht – siehe Belohnungssystem. Wir können also nicht nur unser Potenzial entwickeln. Wir können dafür sorgen, dass das eine unserer wirklich guten Gewohnheiten wird.


Was braucht es dafür, außer klugen Einsichten? Begeisterung. „Begeisterung für das Mögliche“ nennt es Stephan Ludwig, Unternehmensberater, Therapeut und Mitbegründer der Integralis-Akademie Hamburg. Begeisterung mache uns bereit, unsere Komfortzone zu verlassen, Sicherheiten aufzugeben. Dann braucht es Vertrauen in die eigene Kraft und in die Welt. Es braucht den Mut, Fehler zu machen. Und es braucht andere Menschen, die uns ermutigen, die uns sagen, was sie von diesem oder jenem Schritt halten, die uns helfen, den Raum der Möglichkeiten zu sehen und an uns zu glauben.

Was also mit Liedern auf der Straße angefangen hat, ist keine Kleinigkeit und mündet ganz bestimmt nicht einfach in ein neues Hobby. Aber auch nicht in die schon längst nicht mehr überall gepriesene Selbstoptimierung. Hier geht es um einen Perspektivwechsel, der es in sich hat. Um die ideellen und praktischen Folgen eines erfrischenden Blicks auf uns selbst. Und die können beträchtlich sein.

„Jemanden zu lieben bedeutet, ihn so zu sehen, wie Gott ihn gemeint hat”, sagt Dostojewski. An dieser Stelle wird Entwicklung und Entfaltung von individuellem Potenzial zu einer Sache des Miteinanders und der Verbundenheit. Wenn ich mein Gegenüber nicht als die Summe seiner Verdienste, seiner erträglichen Eigenschaften und unerträglichen Marotten betrachte, sondern mit dem liebevollen Blick auf all das, was dieser Mensch werden kann, schwindet die Trennung, die durch Bewertung und Kosten-Nutzen-Rechnungen so herrlich zementiert wird. Wir sind verbunden. Und nicht nur das Potenzial des einzelnen Menschen kann sich entfalten, sondern unser gemeinsames.

Unser Potenzial ist ein hauptsächlich vergrabener Schatz, von dem wahrscheinlich schon ein paar Goldmünzen in der Sonne glänzen. Je mehr davon ans Licht kommt, desto wirklicher ist unser Reichtum. Und desto wirksamer sind wir in der Welt.

Jemanden zu lieben bedeutet, ihn so zu sehen, wie Gott ihn gemeint hat.

Dostojewski

Julia Wahren Psychologische Beraterin mit Praxis in München Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.