Flüchtlinge: Es geht um mehr als Arbeit und Integration
Der fachliche Blick auf die seelischen Folgen der Flucht bleibt bislang meist auf der Strecke.
Die Bilder Zehntausender Menschen, die über schlammige Straßen und in überfüllten Zügen auf dem Weg nach Deutschland sind, lassen kaum jemanden kalt. Die Hilfsbereitschaft der Menschen in Deutschland ist groß. Doch die seelischen Wunden der Flüchtlinge stehen selten im Fokus. Besonders schwierig ist es, den Kindern zu helfen. Und gerade sie brauchen kompetente Unterstützung, um Langzeitfolgen zu vermeiden – wie ein Blick auf die deutsche Geschichte zeigt.
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und in den Monaten danach waren Millionen Deutsche aus den östlichen Landesteilen auf der Flucht nach Westen. Wer im Westen des Reichs lebte, dem blieben Flucht und Vertreibung erspart, doch viele der Menschen dort haben über Jahre fast jede Nacht in den Luftschutzkellern verbracht. Andere waren als Soldaten an der Front, als Rote-Kreuz-Schwestern, Flakhelfer oder BDM-Mädel dem Krieg ausgesetzt. Vergewaltigungen, Plünderungen, Misshandlungen, der Verlust von Angehörigen, Freunden, vierbeinigen Gefährten, Spielzeug, der Heimat, der Existenz – das gab es millionenfach. Und wer den Krieg hinter sich hatte, hatte kaum Zeit zu trauern. Angesichts der Dimension des persönlichen Leids waren viele Menschen mit ihrem Verlust überfordert. Niemand hat ihnen geholfen – konnte ihnen helfen –, mit ihrer Trauer umzugehen. Und das Ausleben seelischen Schmerzes passte auch nicht in das Weltbild, dass den Deutschen zwölf Jahre lang eingetrichtert worden war.
Der permanente Stress im und kurz nach dem Krieg und die Notwendigkeit zu funktionieren zwangen zum Weitermachen. Viele Menschen wirkten oberflächlich erstaunlich stabil. Doch die psychischen Wunden des Kriegs sind nicht immer geheilt, und wenn, dann haben sie oft hässliche Narben hinterlassen. Diese Narben schmerzen noch immer! Schon seit Jahren arbeiten Psychologinnen und Psychologen, Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker für Psychotherapie, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie Psychologische Beraterinnen und Berater daran, mit ihren Klientinnen und Klienten die Folgen eines Krieges aufzuarbeiten, der 70 Jahre zurückliegt.
Dazu braucht es keinen esoterischen Ansatz: das Unvermögen von Müttern oder Vätern, ihren Kindern liebevolle Sicherheit und Stabilität, ein klares Bekenntnis „Ich bin für dich da und ich hab dich lieb!“ zu vermitteln; überzogene, irreale Verlustängste; Angst vor der eigenen Courage – privat oder im Beruf –; das Unvermögen, sich „einzulassen“. In vielen Fällen, bei denen der Laie kaum einen Bezug zu einem Jahrzehnte zurückliegenden Krieg herstellen würde, zeigen sich Fachleuten in der Arbeit mit den Betroffenen und beim Blick auf deren Eltern und Großeltern Verhaltens- und Ausdrucksmuster, die sich bis ins Dritte Reich zurückverfolgen lassen. „Lernen am Modell“ in einer besonders gruseligen Ausformung.
Holocaust und Zweiter Weltkrieg stehen in der Geschichte einmalig da. Doch für die Menschen, die von Krieg, Flucht oder Vertreibung betroffen sind, spielt es keine Rolle, in welcher Dimension und in welchem historischen Kontext ihre individuellen Erfahrungen zu sehen sind.
Viele der Frauen, Kinder und Männer, die derzeit nach Deutschland kommen, haben Schreckliches gesehen und erlebt. Staatliche Stellen und ehrenamtliche Helfer versuchen, ihnen den Weg in ein neues Leben zu bahnen – mit Unterkunft, Kleidung, Sprach- und Integrationskursen.
Ein fachlicher Blick auf die seelische Verfassung der Flüchtlinge steht dabei kaum im Fokus und ist – mangels geschulten Personals – auch kaum möglich. Und mancher glaubt, dass insbesondere die Kinder traumatisierende Erfahrungen schnell vergessen, wenn sie ein sicheres Leben in Deutschland führen, zur Schule gehen und neue Freunde finden.
Dabei wissen Fachleute, dass die Langzeitfolgen solcher nicht ver- und aufgearbeiteter Erfahrungen gerade bei Kindern fatal sein können.
Die praktische Arbeit an der Integration von Millionen Flüchtlingen und ihrer in den nächsten Jahren nach Deutschland kommenden Familienangehörigen wird ganz überwiegend vor Ort, in den Städten und Dörfern, geleistet.
Das gibt den verantwortlichen Stellen, vor allem Politik und Verwaltung, die Gelegenheit, dezentral nach effizienten Wegen einer unterstützenden Zusammenarbeit auch mit Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern für Psychotherapie oder Psychologischen Beraterinnen und Beratern zu suchen.
Jens Heckmann
Selbstständig im Bereich Unternehmenskommunikation, Autor
Der VFP bietet Hilfe an
Bund, Länder und Kommunen stoßen bei der Betreuung der Flüchtlinge, der verwaltungsseitigen Sorge um Unterkünfte und der Koordinierung von Integrations- und Unterstützungsangeboten häufig an Kapazitätsgrenzen. Insbesondere Menschen aus Syrien haben im Krieg und zum Teil auch auf der Flucht traumatisierende Erfahrungen gemacht. Kulturschranken und die Sprachbarriere machen das Erkennen und Aufarbeiten solcher Traumata besonders schwierig; gerade Kinder laufen Gefahr, für den Rest ihres Lebens unter den Folgen von Krieg und Flucht zu leiden.
Angesichts der teils prekären personellen Situation vor Ort sind die Kommunen kaum oder gar nicht in der Lage, psychische und seelische Leiden zu erkennen, geschweige denn, darauf adäquat zu reagieren.
Vor diesem Hintergrund hat der VFP auf Ebene des Bundes und der Länder seine Unterstützung angeboten. Zielsetzung ist dabei vor allem, den Helferinnen und Helfern in den Städten und Gemeinden Handreichungen und konkrete fachliche Begleitung zu geben: Mit bundesweit über 9 400 Mitgliedern sind wir in der Lage, schnell, unkompliziert, bedarfsorientiert und vor Ort zu helfen.