Praxisbericht aus dem Burnout-Prophylaxe-Centrum
Der Termin des Klienten, der heute kommen sollte, wurde von seiner Sekretärin ausgemacht. Es erschien eine sportlich gekleidete, gut aussehende und freundliche Führungspersönlichkeit. Der Klient hatte sich sehr gut auf das Gespräch vorbereitet und berichtete über die Symptome, die ihn plagen bzw. ihm sein Leben derzeit teilweise „zur Hölle“ (wörtlich) machten. Er berichtete von einem kaum mehr zu bewältigenden Arbeitsaufkommen in der Firma. Er sei nur noch unterwegs – ständige Auslandsaufenthalte – mehr in Flugzeug und Bahn als zu Hause. Er habe keine Zeit mehr zur Befriedigung seiner persönlichen Bedürfnisse. Und seine Kinder sagten kürzlich zum Spaß (?) beim Essen zu seiner Ehefrau: „Wer ist der Mann?“ Zuerst lachte er, aber danach überrollten ihn viele negative Gedanken und die folgenden Tage machte sich eine völlige Erschöpfung auf psychischer und physischer Ebene breit. Er besuchte seinen Hausarzt, der Burnout diagnostizierte, ihn mit Psychopharmaka versorgte und ihn für einige Wochen krankschreiben wollte.
Da er sich das aus beruflichen Gründen nicht erlauben konnte, suchte er jetzt bei uns – im Burnout-Prophylaxe-Centrum in Freiburg – „rasche Hilfe.“ Bei dem längeren Analysegespräch fiel mir auf, dass er, wenn es darum ging, in die Tiefe zu gehen, immer geschickt auswich. Bei ihm sei familiär alles in bester Ordnung, er sei glücklich verheiratet (dann schmunzelnd, natürlich nebenher eine Freundin!?), die Kinder gingen ihren Weg zu seiner vollen Zufriedenheit. An Geld mangelt es nicht, der Ferrari und das Mercedes Cabrio stehen in der Garage und bereiten beide viel Freude. Ein großes Haus, eine Haushälterin und ein Gärtner runden seine Zufriedenheit ab. Somit sei alles Persönliche im Lot – wenn nur nicht der Megastress in seiner Firma wäre! Nachtschweiß, Schlafstörungen, Libidomangel, Gedächtnisschwäche, mangelndes Selbstwertgefühl (ein für ihn völlig neues Gefühl!) brachte er ausschließlich mit den Turbulenzen in der Firma in einen kausalen Zusammenhang.
Die folgende Labordiagnostik ergab erhöhte Leberwerte, ein Defizit bei Vitamin D, Q 10, Glutation, Selen, Zink und Magnesium. Der Nitrotyrosinwert war zu hoch als Zeichen für nitrosativen Stress, ein sehr schlechtes Laktat-Pyruvat-Verhältnis war erkennbar. Nahrungsunverträglichkeiten konnten durch einen LTT-Test bestätigt werden.
Der Klient entschied sich dann doch, einen längeren Aufenthalt in einer Burnout-Klinik anzutreten. Wir trafen uns nach fünf Wochen zu einem erneuten Gespräch. Es ginge ihm wieder sehr gut, seine Batterien seien wieder aufgeladen, die Auszeit kam genau zur rechten Zeit. Er sei wieder voller Schaffenskraft und freue sich auf seine Arbeit. Wir verabschiedeten uns mit der Maßgabe, dass er sich früh genug melden würde, wenn es wieder zu einer Verschlechterung kommen sollte.
Ein halbes Jahr später rief er selbst an und bat um einen raschen Termin. Vor mir saß wieder ein äußerlich gefestigter und in sich ruhender, erfolgreicher Geschäftsmann. Er erzählte, dass er in den ersten Wochen wieder voll „Kraft und Saft“ war, er dann aber das Gefühl hatte, dass sich seine Batterien immer rascher leerten und sich auch kaum mehr aufladen ließen.
Dieses Mal war er damit einverstanden, dass wir mit meiner „18-Säulen-Strategie“ (s. Abbildung) arbeiten. Das Lebensfundament ruht auf 18 Säulen:
- Gesundheit
- Beziehung
- Kinder
- Beruf
- Sexualität
- Freunde
- Lebenssinn
- Finanzen
- Glaube
- Ernährung
- Sport
- Urlaub
- Vereinsleben
- Nächstenliebe
- Hobby
- Umgang mit dem Tod
- Kultur-TV
- eigene Kindheit
Wenn mehrere dieser Säulen instabil werden bzw. brechen, kann ein Absturz in den Burnout-Sumpf die Folge sein.
Schon bei dem ersten Thema (Beziehung/Sexualität) stellten sich massive Probleme heraus. Das am Anfang noch mit einem Schmunzeln versehene Thema „Parallelbeziehung“ kristallisierte sich als eine Tatsache heraus. Die Lügen und Vertuschungsversuche würden ihn psychisch stark belasten. Er liebe seine Frau, aber diverse für ihn wichtige sexuelle Wünsche würden nicht befriedigt. Er habe auch keinen richtigen Kontakt mit seinen Eltern mehr (außer Geburtstagstreffen und Weihnachten). Das Verhältnis zu seinem Bruder sei wegen eines Missverständnisses derzeit vollkommen gestört. Hobbys habe er keine (Zeitprobleme), er würde sich auch immer häufiger fragen: „War es das?“
Den Glauben an eine übergeordnete Macht (Gott) habe er nach dem tragischen Tod seiner ersten Freundin verloren. Er fürchte sich vor seinem Tod, vor einem eventuellen Siechtum und stelle sich oft die Frage, wie wohl seine Frau/Kinder damit umgehen würden. Die Ernährung sei gezwungenermaßen sehr einseitig/ungesund (Kantinenessen und Fastfood). Er habe eine nicht ganz unkomplizierte Kindheit erlebt. Die Eltern waren zwar immer für ihn da, aber Emotionen haben sie ihm gegenüber fast nie zeigen können. Außer TV-Konsum gibt es nie ein „Kulturprogramm“, wann er mit seiner Frau zum letzten Mal im Theater/Kino war, entzieht sich seiner Kenntnis.
Nach für ihn sehr anstrengenden 90 Minuten konnten wir das Resümee ziehen, dass 10 seiner 18 Säulen entweder instabil waren oder bereits zusammengebrochen sind. Dies wurde ihm auch anhand des ihm vorgelegten Schaubilds visuell verdeutlicht. Er erkannte selbst, dass wohl die Addition all dieser Defizite zu seinem „Ausbrennen“ geführt haben.
Für mich immer wieder kaum verständlich, folgte auch bei ihm dann die Frage: „Was kann/soll ich jetzt denn tun?“ Ein erfolgreicher, gebildeter, führungserfahrener und redegewandter Mann mit hoher Personalverantwortung fühlt sich nicht imstande, z. B. das Thema Sexualität mit seiner Frau zu erörtern!
Da ihm die Beziehung zu seiner Frau sehr wichtig war, erarbeiteten wir ein Strategiegespräch zum Thema Sexualität. Auf meine Frage, ob er denn schon einmal seine Wünsche gegenüber seiner Frau geäußert habe, folgte ein entschiedenes „natürlich nicht!“. Er wolle sie ja damit nicht bedrängen und keinen Streit heraufbeschwören. Ebenso kann er sich nicht vorstellen, dass sie Freude dabei haben könnte.
Wir führten mehrere Probegespräche durch und ich bat ihn, bei einer passenden Gelegenheit doch dieses für ihn äußerst brisante und belastende Thema direkt anzusprechen. Wir vereinbarten einen neuen Termin in 4 Wochen. Er erschien pünktlich und sichtlich entspannt mit einer Flasche Champagner in der Hand. Es sprudelte geradezu aus ihm heraus. Er sei sprach- und fassungslos, das Gespräch, vor dem er sich seit Jahren gedrückt hatte, entwickelte sich zu einem tollen Rundumgespräch.
Viele Themen, die bisher „unter den Teppich gekehrt“ wurden, kamen schonungslos (seine Worte), aber liebevoll auf den Tisch. Dinge, die ihn schon immer bedrückten, wurden besprochen und klare Regelungen getroffen. Am Ende des Gesprächs erwähnte er noch schmunzelnd, dass das Thema Parallelbeziehung auch erledigt sei. Auf mein Nachfragen, was zu dieser Entscheidung geführt hatte, kam er leicht ins Stottern und meinte, er hätte sich nie im Leben vorstellen können, dass seine Frau an seinen sexuellen Wünschen auch Spaß haben könnte! Ob er seiner Frau das Fremdgehen offenbaren will, wisse er noch nicht, derzeit sei alles so friedlich und harmonisch und er befürchte, dass diese Information sie sehr treffen würde. Auf meine Frage, ob das eigentlich nicht klar sein müsste, bekam ich keine Antwort.
Es wurden Folgetermine vereinbart, um Zug um Zug eine Säule nach der anderen wieder zu stabilisieren.
Jürgen Koch-Draheim
Burnout-Prophylaxe-Centrum in Freiburg, psychologischer Berater, zertifizierter Burnout-Coach, Buchautor