„Ich war noch niemals in New York ...“
Wie ein Lied über mehr Freiheit Zwangserkrankten helfen kann
Als ich zum Jahreswechsel 2014/2015 auf der anderen Seite des Bodensees einen Rettungseinsatz sah, war mir noch nicht klar, dass in diesem Augenblick wohl einer der größten und bekanntesten Stars mit dem Tod gerungen hat. Noch einige Zeit davor hatte ich Udo Jürgens bei seinen nicht seltenen Einkäufen in der Konstanzer Innenstadt getroffen – und wie immer kam mir eine Liedzeile von ihm ins Gedächtnis. Zweifelsohne: Dieser Musiker hat eine Vielzahl Songs in die Welt gebracht, die sich kritisch, nachdenklich, intelligent und ermahnend an uns gerichtet haben. Doch für mich als Zwangserkranktem war es vor allem der Text seines einzigartigen Klassikers: „Ich war noch niemals in New York“. Denn kaum ein anderer Künstler pointierte – wohl unbewusst – einen so deutlichen Appell an unsere gesamte Gesellschaft, der aber für „Zwängler“ von ganz besonderer Bedeutung sein dürfte.
Ein Mann, der nur kurz nach draußen geht, um sich Zigaretten zu besorgen – und dabei diese Sehnsucht verspürt, nun endlich einmal aus dem so stereotypen Alltag ausbrechen zu können. Davon singt Udo Jürgens in seinem Song – und geht dabei noch viel weiter. Sein Protagonist spielt tatsächlich mit dem Gedanken, mit den wenigen wichtigen Dingen, die er bei sich trägt, noch den Flug am Abend zu nehmen und den „Aufbruch zu wagen“. Für immer raus aus diesem Hamsterrad, aus all dem Bekannten wie der „Spießigkeit“, dem neonfarbenen Licht oder dem „Bohnerwachs“ im Treppenhaus. Er hinterfragt, warum er nicht seinen Traum, ganz unkonventionell und abseits der Regeln „in zerrissenen Jeans“ durch die Straßen von San Francisco zu schlendern ohne langes Überlegen verwirklichen sollte. Und das alles im Wissen, dass die Ehefrau zu Hause sitzt, sich um die Kleinen kümmert und wie stets auf ihren Mann wartet, um die abendliche Fernsehsendung zu konsumieren. Man mag es fast als respektlos, unverantwortlich oder gar unverschämt einstufen, was ihm da durch den Kopf geht. Egoistisch den eigenen Träumen frönen, ohne Rücksicht auf die Verpflichtungen.
Diese Taktung, die tägliche Strukturierung und das sich beständige Wiederholen all des Verlässlichen in einer modernen Welt, die es kaum noch zulässt, außer Plan zu agieren, kennen wir alle. Doch was sagen die Worte aus dem Lied den Betroffenen einer Zwangsstörung: „Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals richtig frei. Einmal verrückt sein und aus allen Zwängen fliehn.“ Geht es uns nicht auch oft so, dass wir genau jenes Gefühl in uns tragen, „noch niemals richtig frei“ gewesen zu sein? „Verrückt“ dürfte Udo Jürgens hier ganz positiv gemeint haben: Einmal das tun, was wir uns sonst selbst verbieten. In den Ketten der Erkrankung gefangen, zeichnen wir uns auch durch das ständige Angepasstsein aus. Wir fühlen uns einerseits wohl, wenn alles so bleibt, wie es ist. Aber ist es vielleicht gerade dieser Widerspruch, der den Zwängen täglich neue Nahrung gibt?
Wir trauen uns nicht, Bewährtes loszulassen. Die Angst vor Veränderung ist ein guter Motor, um eine Zwangsstörung aufrechtzuerhalten. Niemand wird von uns verlangen, gleich in die Staaten auszuwandern und sich die Kleider vom Leib zu reißen. Aber für einen „Zwängler“ kann es wirklich schon „verrückt“ sein, sich selbst etwas zu gönnen und auf die Bedürfnisse zu hören, die oftmals ganz tief verborgen in ihm schlummern – zugedeckt von Geradlinigkeit und Idealismus.
Ich gebe zu: Auch ich habe mich lange Zeit äußerst ungern mit mir beschäftigt. Nicht selten half dabei auch das Argument, ich trüge doch auch Pflichten gegenüber meinem Umfeld. Man darf es getrost als narzisstische Überhöhung sehen – mein Verständnis von der Welt: Korrektheit war mein Leitbild – nicht ich habe mit meinen Ansprüchen übertrieben, sondern die anderen waren aus meiner Sicht stets diejenigen, deren Moral für mich als „verkommen“ galt. Und auch wenn sie schlendern, bleibe ich auf dem reaktionären Weg. Denn Zwänge sind verbunden mit einer Grundhaltung, oftmals gar mit einer Persönlichkeitsstruktur, die uns dauerhaft von Veränderung abhalten wird.
Fragt man sich, ob sie eine „Funktionalität“ besitzen, kann uns eventuell auch der Jürgens-Text weiterhelfen. Trotz aller Übertreibung macht die Erkrankung vielleicht dann Sinn, wenn wir sie als Hilferuf erkennen. Der Appell unserer Seele, dass unser Leben nicht wie bisher weitergehen kann. Das Stoppschild und die rote Ampel, die uns in das Gewissen reden, uns von den uns selbst auferlegten Konventionen freizumachen. Denn wahrscheinlich haben die meisten Zwangserkrankten davon ohnehin mehr als genug: übertriebene Wertvorstellungen, Perfektionismus ohne jeden Kompromiss, nicht erreichbare und stetig regelhaft an unsere eigene Adresse formulierte Erwartungen. Zwänge sind Ausdruck von einem zerrütteten Anspruchsverhalten an unsere Persönlichkeit einerseits, Konsequenz aus der daraus resultierenden Überforderung andererseits. Jeder von uns hat seine eigenen Erklärungen und Gründe, die persönliche Geschichte, weshalb wir mit uns so streng umgehen und uns nahezu die Luft zum psychischen Durchatmen nehmen.
Was heute nahezu trendig unter dem Begriff der „Achtsamkeit“ gesammelt wird, ist möglicherweise das, was auch Jürgens ausdrückte. Nein, sicherlich waren es nicht seine Liedzeilen, die mir halfen, meine Zwänge um die Hälfte zu reduzieren. Es war neben Medikation und psychotherapeutischer Hilfestellung die nur äußerst langsam wachsende Erkenntnis, an meiner Lebensführung und an meinen Normen etwas ändern zu müssen. Nachsicht und Gelassenheit, Fairness und Verständnis für und gegenüber sich selbst lernt man nicht von heute auf morgen.
Wer ständig auf Reglements achtet, steht unter einer dauernden Anspannung. Nicht umsonst führen die Diagnoserichtlinien die Zwänge in derselben Kategorie wie die Belastungsstörungen. Stress ist unbestritten der „erfolgversprechendste“ Katalysator für so manches seelische Leiden. Es muss nicht das zeitliche Hinterherjagen sein, das uns dabei überfordert. Es reicht bereits die Rückmeldung an die Psyche und den Körper, dass wir im Blick auf unsere von Unfehlbarkeit geprägten Maßstäbe stets auf Stand-by sind.
Passt dazu nicht auch die so häufig bei Zwangserkrankten beobachtete Fürsorglichkeit, die uns verbietet, dem eigenen Verlangen, uns auch um uns selbst zu kümmern, nachzugeben? Und die ein Neinsagen gegenüber den Bitten der Mitmenschen fast sträflich erscheinen lässt? Es ist leichter, dem Nächsten zu helfen, als die persönlichen Probleme anzugehen. Ich wundere mich mittlerweile kaum noch, weshalb ich über Jahre die „Selbsthilfe“ wohl recht unbewusst völlig falsch verstanden habe. Sollte sie doch auch dazu dienen, Selbstliebe zu lernen, war mein Fokus aus tiefster Überzeugung auf die Gleichgesinnten gelenkt.
Diese generell als positiv zu beurteilende „soziale Ader“ will ich mir auch nicht streitig machen lassen. Mein Lebenssinn bleibt, Solidarität zu üben. Dabei gelingt es mir glücklicherweise mittlerweile, zuzuhören – nicht nur den anderen, sondern vor allem mir selbst und auf meine eigenen Interessen zu achten. Eine bedingungslose Hingabe und Annahme habe auch ich verdient, wenngleich auch heute noch die den „Zwänglern“ doch so wohlbekannte Keule – der Zweifel – über mir kreist. Aber Schuldgefühle gehören wohl einfach bei uns dazu – jedoch werden sie erst vernünftig, wenn wir an sie wohlwollende Maßstäbe anlegen, die nicht zwischen dem Umgang mit uns und unserem Umfeld unterscheiden. Dabei gehört das Zugestehen von eigenen Grenzen nicht zu den Gründen, weshalb wir uns Vorwürfe machen dürfen. Es ist eine gesunde Selbstverständlichkeit, sich zu erlauben, die Fähigkeit zur Gnade gegenüber der eigenen Person zu erwerben.
Zweifelsohne ist es nicht leicht, Mauern und Zäune eines Käfigs, den man sich zum Verteidigen der individuellen, nicht selten gar auch utopischen Ansprüche sowie zum vermeintlich emotionalen Schutz errichtet hat, wieder einzureißen. Zwänge lenken uns von unseren Problemen, von unseren innerlich tobenden und stetig angefeuerten Konfl ikten, aber auch von uns selbst ab. Aufmerksam auf unsere Wünsche und Sehnsüchte zu werden, die meist abseits dessen liegen, was die Zwänge für uns an Ideologie verkörpern, braucht Anstrengung und viel Zeit. Auch zu begreifen, dass die eigene Meinung, Wahrnehmung und Unvollkommenheit wertvoll sind und offenbart werden dürfen, ist mehr als eine Reflexion – vielmehr stellt ein derartiges Eingeständnis das Umwerfen behüteter Überzeugungen dar.
Für mich war dieser Prozess eine Angelegenheit von nahezu einem Jahrzehnt. Und nicht selten habe ich der mir vorgegaukelten Sicherheit der Zwänge auch nachgetrauert. Bis heute wollen sie mir dauernd weismachen, dass der im Lied angesprochene Mut zur Freiheit nicht zu mir passt. Mittlerweile habe ich aber das Ruder meines Lebens wieder selbst übernommen, wage manch „Verrücktes“ und fröne auch einmal meinen Gelüsten.
In New York war ich allerdings noch immer nicht …
Dennis Riehle
Psychologischer Berater (VfP), Selbsthilfegruppenleiter Zwangsstörungen Landkreis Konstanz