Hochsensibilität und Yoga
Warum ausgerechnet Yoga den Alltag hochsensibler Menschen bereichern und sie in ihrer Konstitution optimal unterstützen kann?
Reizoffenheit, ausgeprägte Empathie und spirituelle Ausrichtung sind einige der wesentlichen Aspekte, die hochsensible Menschen teilen. Über die vielfältigen Eigenschaften der Hochsensibilität ist in den vergangenen Ausgaben sehr ausführlich berichtet worden. In diesem Beitrag möchte ich den Mehrwert der Yogapraxis hervorheben, die insbesondere den Bedürfnissen nach Rückzug, Selbstfürsorge und Sinnerfüllung gerecht wird.
Unsere Außenwelt ist laut, komplex, hektisch. Wer sie durch seine Reizoffenheit noch lauter, komplexer, hektischer erlebt als der Durchschnitt, hat oft mit ihr zu kämpfen. Yoga entschleunigt und schafft einen Raum, in dem wir so sein dürfen, wie wir sind. Wir können der Reizüberflutung der Außenwelt entfliehen und zur Ruhe kommen. In der Achtsamkeit des Moments werden uns unsere Gefühle und unsere Gedanken bewusst und wir beginnen, uns mit dem, was uns bewegt, auseinanderzusetzen.
Für hochsensible Menschen (in der Fachliteratur auch „Highly Sensitive Person“ (HSP) genannt, ist Yoga ein wunderbarer Übungsweg, der ihnen noch mehr als den Normalsensiblen erlaubt, ihre Batterien wieder aufzuladen. HSPs brauchen Möglichkeiten des Rückzugs und Auszeiten deutlich mehr als andere und Yoga eignet sich dafür sehr gut – sowohl für Erwachsene als auch für Kinder.
Während des Übens können sie bei sich sein und brauchen sich nicht mit anderen zu vergleichen. Sie dürfen Kraft aus der eigenen Yogapraxis schöpfen und sich Zeit nehmen, die zahlreichen Reize, die sie im Außen erlebt haben, einzusortieren und zu verarbeiten. Welche Yogarichtung sich dazu am besten eignet, bleibt jedem selbst überlassen, denn die eigenen Potenziale und Bedürfnisse sind auch bei HSPs sehr unterschiedlich. Ich empfehle, verschiedene Yogastile auszuprobieren, um so den eigenen Weg zu finden.
Da HSPs aufgrund ihrer Feinfühligkeit ein ausgeprägtes Innenleben haben, sehr kreativ sind und Ungerechtigkeiten und Verantwortungslosigkeit verabscheuen, ist ihnen die Intuition ein zuverlässiger Partner. Gerade im Yoga kommen wir in Berührung mit unserer Innenwelt und damit auch unserer Intuition. Die Verbindung zwischen Verstand und Bauch herzustellen, ist für alle Menschen vorteilhaft, den hochsensiblen Zeitgenossen kommt diese ihrer Wesenszüge nach besonders entgegen. Denn während der Verstand begrenzt ist, macht das Bauchgefühl, durch seinen Zugang zum Unterbewusstsein, auch Lösungen zu komplexen Fragestellungen möglich.
Mit der Intuition haben wir gleich zwei Instanzen, die es uns erlauben, eine stimmige Entscheidung zu treffen und uns bei Bedarf bewusst abzugrenzen. Auf diese Weise kann sie HSPs dabei unterstützen, die Komplexität des Alltags, die von ihnen oftmals als extrem herausfordernd und belastend empfunden wird, runterzufahren. Sich regelmäßig darin zu üben, mehr auf seine Intuition zu vertrauen, ist daher eine wichtige Kraftquelle.
Mit sich im guten Kontakt zu sein und die eigene Sensibilität als Stärke, statt als Schwäche zu begreifen, ist für HSPs ein wichtiger Schlüssel zum Glück. Yoga kann dabei helfen.
Auch das Selbstmitgefühl ist eine wichtige Ressource, statt sich zu bemitleiden oder immer nur von den Sorgen und Nöten anderer Menschen erfüllt zu sein. Letzteres ist übrigens eine typische Eigenschaft hochsensibler Menschen, weswegen sie schnell als empathische Zuhörer identifiziert und gerne von anderen zum Abladen emotionalen Ballasts missbraucht werden. Eine selbstempathische Grundhaltung einzuüben, hilft, sich vor solchen „Übergriffen“ zu schützen, den eigenen Selbstwert zu stärken, und erlaubt, über die Yogapraxis hinaus gut für sich zu sorgen.
Die Sinnsuche und somit die Zuwendung zu spirituellen Themen ist eine weitere charakteristische Besonderheit der HSPs. Sie streben nach Erfüllung und können Tätigkeiten, die sie nicht zufriedenstellen, nichts Sinnvolles abgewinnen. Auch materieller Reichtum und Macht füllen sie in der Regel nicht aus. Um Halt im Leben zu finden, sind sie auf der Suche nach Lebenstiefe.
Viele Praktizierende fühlen sich in ihrem Bestreben durch Yoga unterstützt, weil Yoga – durch die achtsame Haltung, die dabei eingenommen wird – es ihnen erlaubt, die eigenen Werte und Ziele zu überprüfen und herauszufinden, was sie antreibt und für sie im Leben wirklich zählt.
Es wird Sie sicher nicht überraschen, dass meiner Erfahrung nach mehr als die statistisch besagten 15-20 % der Yogalehrenden und Yogapraktizierenden zur Hochsensibilität tendieren – die meisten ohne sich der Tatsache bewusst zu sein. Sie wählen diesen Weg, weil er ihnen weitaus mehr bietet als andere Übungsformen. Das erlebe ich in meinen Aus- und Fortbildungen immer wieder und freue mich, diese Teilnehmer ein Stück weit zu begleiten.
Vielleicht haben Sie sich in der Beschreibung wiedererkannt, vielleicht sogar den Weg des Yoga schon längst für sich entdeckt und sehen den Artikel als Bestätigung. Vielleicht haben Sie eine andere Person vor Augen, auf die diese Beschreibung passt, und finden eine Möglichkeit, sie auf Yoga aufmerksam zu machen oder sie in ihrem inneren Wachstum yogatherapeutisch zu unterstützen.
Denn wer genau hinschaut, dem bietet sich die Chance auf eine „Kronleuchter-Erfahrung“ – alle Lampen gehen auf einmal an und viele Puzzleteile des Lebens fügen sich plötzlich zusammen.
Monika A. Pohl
Gründerin der Physioyoga Akademie, Expertin für Selbstfürsorge, Autorin zahlreicher Ratgeber zum Thema Persönlichkeit und Lebenshilfe