Hochsensible Kinder fördern: feinfühlig – sensibel – hochsensibel
Mein Kind ist anders. Die sechsjährige Jenny liebt es, auf dem Spielplatz zu schaukeln. Mit den anderen Kindern gemeinsam im Sandkasten zu spielen, mag sie nicht so gerne. Wird sie dann von einem älteren Jungen forsch aufgefordert, die Schaukel zu räumen, bricht das zierliche Mädchen in Tränen aus und rennt schutzsuchend zu ihrer Mutter. Sie wirkt auf einmal hilflos und braucht gerade jetzt viel Zuwendung und Trost. Dabei ist Jenny kein schüchternes oder ängstliches Mädchen, nur manchmal ist sie etwas zurückhaltend.
Sie kann aber auch ganz schön laut, wild, voller überschäumender Energie sein. Wenn sie nicht gerade von Einhörnern und Zwergen träumt, wirkt sie wie ein energiegeladener Wirbelwind. Selbst die Mutter kann die Gefühlsvielfalt ihrer Tochter oftmals nicht richtig einordnen – so rasch wechselt sie vom Extrovertiert- ins Introvertiertsein, von laut und wild bis sich ins Schneckenhaus zurückziehen, von voller Lebensfreude in eine tiefe Traurigkeit – deshalb nennt sie ihre Tochter manchmal liebevoll „Mimose“ oder „Sensibelchen“.
Jenny soll bald eingeschult werden, aber die Mutter hat Sorge, dass ihre Tochter aufgrund ihrer Sensibilität Schwierigkeiten bekommen könnte. Sie wurde schon von der Erzieherin aus der Kita auf ihr überempfindliches Verhalten angesprochen. Einerseits ist sie sehr einfühlsam und hat einen großen Gerechtigkeitssinn, aber manchmal zeigt sie ein unerklärliches Verhalten. Sie kann zwar selbst sehr wild und laut sein, aber den Erzieherinnen sei aufgefallen, dass das Mädchen sich beim „Wilde-Tiere-Spielen“ sehr häufig die Ohren zuhält.
In der Kita wurde sogar schon der Hinweis auf eine mögliche ADHS-Untersuchung gegeben, eben weil sie manchmal sehr impulsiv sei. Doch die Mutter sieht ihre Tochter nicht als ein „auffälliges“ Kind, sondern, dass sie manchmal „anders“, aber normal anders sei. Eben sehr sensibel – hochsensibel.
Sensibilität hat ihren Ursprung im Lateinischen „sensibilis“ und bedeutet einfach „empfinden können“. Aus dieser neutralen Beschreibung ist in der heutigen leistungsorientierten Zeit leider ein negativ konnotierter Begriff geworden, der eine Überempfindlichkeit (Mimosenhaftigkeit) und geringe Belastbarkeit beschreibt.
Hochsensibilität verstehen
Man könnte sich nun die Frage stellen, ob denn kein Kind mehr „normal“ sei. Begriffe wie Hyperaktivität, ADS/ADHS, Hochbegabung, motorische Defizite, psychosomatische Auffälligkeiten und vor allen Dingen Frühförderung verunsichern die Eltern. Jetzt taucht auch noch in den Medien vermehrt der Begriff „Hochsensibilität/Hochsensitivität“ auf.
Hochsensibilität ist keine Modeerscheinung, aber ein relativ junger Begriff, jedoch in der Psychologie kein neues Thema. Der Begriff „High Sensitive Person“ (HSP) wurde erstmals 1997 von der amerikanischen Psychologin Elaine Aron genannt, die eine erhöhte Sensibilität wissenschaftlich beleuchtet hat. Die Bezeichnung mag neu sein, aber das Phänomen an sich nicht, da ich selbst seit Kindertagen hochsensibel bin, weiß ich, wie „fremd“ es sich anfühlen kann.
Hochsensibilität kann manchmal schon eine große Herausforderung sein, denn diese besondere angeborene Gabe hat Licht- und Schattenseiten. Dieser Charakterzug ist sehr individuell und kann sich in vielen verschiedenen Facetten zeigen. Einige Menschen reagieren sehr auf Gerüche, Geräusche, Berührungen, sensomotorische oder visuelle Reize oder Empfindungen. Es gibt unzählige Beispiele, wie spezifisch sich Hochsensibilität zeigen kann.
Kinder mit dieser besonderen Empfindlichkeit sind emotional leicht verletzbar, eben sehr empfindsam: Sie nehmen sich alles sehr zu Herzen und das verletzende Wort, der abwertende Blick oder eine abschätzende Geste können bei ihnen lange nachklingen (nachhallen). Sie können es nicht so einfach abschütteln, wie es die anderen Kinder und Erwachsenen tun. Deshalb bewegen sich die Kinder immer auf einem schmalen Grad des Sichwohlfühlens und Sich-emotional-verletzt-Fühlens.
Das Zusammenleben mit den Sensibelchen ist nicht immer einfach, insbesondere für die Eltern oftmals eine sehr(!) große Herausforderung.
Mir sind in all den vielen Jahren meiner Kinderyogalehrertätigkeit zahlreiche hochsensible Kinder begegnet, die aus Unwissenheit in zweifelhafte SymptomSchubladen gesteckt wurden. Die Reiz- überflutung gilt als Auslöser, der sich als eine scheinbar mangelnde Impulskontrolle oder Gefühlsverwirrungen zeigen kann: eben noch himmelhoch jauchzend und dann von einer Sekunde auf die andere total betrübt, weinerlich oder bockig.
Einige Eltern berichteten mir, dass sogar Empfehlungen für ein bestimmtes Medikament ausgesprochen wurden, damit das Kind im Schulalltag wieder „funktionieren“ sollte. Dabei geht es doch darum, die Hochsensibilität in ihrer Facettenvielfalt zu erkennen und dadurch die Kinder besser zu verstehen oder sich in die zarte Kinderseele einzufühlen. Alle Kinder kommen als gefühlvolle Wesen auf die Welt, nur sind einige eben noch etwas mehr sensibel.
Die Bezeichnung Hochsensibilität (und damit meine ich auch Hochsensitivität) soll keiner Wertigkeit unterliegen, sondern eine neutrale Bezeichnung für einen Wesenszug sein. Kinder mit dieser angeborenen Feinfühligkeit sind weder besser noch schlechter als Normalfühlende. Hochsensibilität soll auch keine Bezeichnung für eine besondere Schutzbedürftigkeit sein – die Kinder wollen nicht in Watte gepackt werden – aber man muss wissen, dass Hochsensible verstanden werden wollen.
Kinder wie Jenny, die manchmal in ihrem Verhalten so anders erscheinen, haben kein Krankheitssymptom! Sie sind auch keine Problemkinder, sondern sie sind einfach nur von Geburt an hochsensibel und haben ein größeres Wahrnehmungsspektrum und empfinden intensiver.
Hochsensibilität ist eine besondere Gabe mit vielen Vor- und Nachteilen und lässt sich nicht „wegtherapieren“, wegdrücken oder aberziehen. Diese Feinfühligkeit ist einfach da und möchte wertgeschätzt und angenommen werden.
Hochsensible Kinder wollen sich verstanden fühlen
Diese Kinder sind sehr empfindsam und können sich oftmals sehr gut in andere hineinfühlen. Dabei fühlen sie sich selbst häufig unverstanden und „anders“.
Das kann dazu führen, dass sie ein Rückzugsverhalten oder eine gewisse Schüchternheit entwickeln. Manchmal meiden sie regelrecht soziale Kontakte, besonders in Gruppen fühlen sie sich schnell unwohl, was aber nicht mit Autismus zu verwechseln ist.
Kinder wie Jenny haben diese besondere Gabe der Hochsensibilität, die sie besonders macht, aber auch viele Nachteile mit sich bringt. Hochsensibilität kann sich sehr individuell und in vielen verschiedenen Facetten zeigen.
Jeder Mensch wird im Alltag von unzähligen Reizen überflutet. Es sind Geräusche, Bilder und Eindrücke, Gerüche, Empfindungen und Berührungen. Das menschliche Gehirn besitzt eine Art Filtersystem, welches einen großen Teil der Sinneswahrnehmung gar nicht erst bis in das Bewusstsein vordringen lässt, quasi als Schutz vor einer Datenüberflutung. Dieses Filtersystem ist bei den hochsensiblen Kindern und Erwachsenen durchlässiger. Sie erfahren eine permanente Überstimulierung. Sie sind ständig mit dem Einordnen und Verarbeiten der vielen Eindrücke beschäftigt. Außerdem sind sie sehr empfänglich für die unausgesprochenen Botschaften, denn die hochsensiblen Kinder nehmen sehr viel mehr wahr. Sie spüren die Stimmungen und Spannungen ihrer Mitmenschen und können die Mimik und Körpersprache sehr viel feiner wahrnehmen als weniger Sensible.
So kann ihr Alltag oftmals eine regelrechte Belastungsprobe werden, die Informationsflut kann rasch zu einer Überstimulation führen und die Kinder sind schnell erschöpft, können sich nicht mehr konzentrieren oder reagieren plötzlich für Außenstehende ziemlich unverständlich.
Ebenso neigen hochsensible Kinder oftmals zu Perfektionismus und stellen sehr hohe Ansprüche an sich selbst. Diese können sie häufig nicht erfüllen und das erzeugt einen inneren Druck. Sie sind durch die innere Anspannung und Nervosität sehr viel mehr Stress ausgesetzt als andere Kinder.
In Balance kommen
Für die Hochsensiblen scheint das Leben manchmal wie aus den Fugen geraten zu sein – so, als würde man an manchen Tagen den Boden unter den Füßen verlieren. Diese Kinder brauchen sehr viel Geborgenheit und das Gefühl, geliebt zu werden, so wie sie sind, ohne dass sie dabei überbehütet werden. Die liebevolle und wertschätzende Zuwendung schenkt ihnen Sicherheit und Stabilität für den Alltag. Wichtig ist auch, dass die reizüberfluteten Kinder täglich Zeit und Ruhe für Rückzug und Entspannung finden, um innere Spannungen abzubauen. Dies ist beinah lebenswichtig, denn Hochsensibilität/Hochsensitivität ist mit dem besonderen Risiko verbunden, an Dauerstresserkrankungen zu leiden. Deshalb ist Entspannung in jeglicher Form, wie z. B. Kinderyoga oder Fantasiereisen, Bewegung in der Natur, musizieren, malen oder Kontakt zu Tieren, eine wertvolle Unterstützung für das Wohlbefinden. Ebenso eine liebevolle Zuwendung durch die Eltern, denn das Gefühl mit seinen besonderen Eigenschaften angenommen zu werden, vermittelt Sicherheit und fördert innere Stärke.
Hochsensible Kinder sind wie wundervolle Geschenke für unsere Erde, sie bringen sehr viel Feingefühl und Empathie mit. Wichtig ist, dass sie sich hier auch heimisch fühlen und nicht fremd und wie auf einem anderen Planeten, weil niemand sie versteht. Hochsensible Kinder wollen verstanden werden. Aus diesem Grund habe ich meinen Hund Amigo (er ist übrigens ebenfalls hochsensibel) in meinem neuen Buch für Kinder und Eltern zu Wort kommen lassen.
Amigo möchte in diesem Buch den Kindern zeigen, wie sie ...
... kleine Lebenslektionen meistern können
... sich besser fühlen und sich nicht fremd und verloren vorkommen
... Achtsamkeit für ihre Gefühle und Bedürfnisse entwickeln
... lernen, gut für sich zu sorgen
... die eigenen inneren Schätze entdecken
... sich verstanden und total normal fühlen
... Selbstannahme und Selbstbewusstsein entfalten können
... Strategien lernen, bei Reizüberflutung oder hohem Stresslevel wieder zur Ruhe und Entspannung zu kommen
... mehr Gelassenheit und Entspannung in ihrem Leben erfahren
... insgesamt müheloser mit ihrer Gabe Hochsensibilität leben können
Literatur
- Pilguj, Sabina: Ich bin wie ich bin – genial und total normal. Ein Mutmachbuch für (hoch-)sensible Kinderseelen. ViaNaturale, ISBN 978-3-98179-781-7
Sabina Pilguj
Heilpraktikerin für Psychotherapie, sie ist selbst hochsensibel/hochsensitiv, zu diesem Thema hält sie Vorträge und berät Kinder und Erwachsene