Was haben frühkindliche Reflexe mit Lern- und Verhaltensauffälligkeiten zu tun?
Warum leiden immer mehr Kinder in Kindergärten und Grundschulen an motorischer Unruhe, Wahrnehmungsstörungen, Konzentrationsproblemen, Sprach-, Lern- und Verhaltensauffälligkeiten, obwohl ihre Intelligenz oftmals gut bis sehr gut ausgeprägt ist?
Als IPE-Kinder- und Jugendcoach löse ich bei meinen jungen Klienten Lernblockaden, unterstütze sie dabei, ein gesundes Selbstvertrauen aufzubauen, ihre Stärken zu erkennen und in die wahre Motivation zu kommen. Doch oft muss ich zunächst woanders ansetzen, nämlich bei den frühkindlichen Reflexen. Diese sind bei vielen Kindern noch aktiv und beeinträchtigen sie stark beim Lernen und in ihrem Verhalten, sodass ein normaler Familien- und Schulalltag oft nur schwer möglich ist. Häufig bekommen diese Kinder viel zu schnell den Stempel AD(H)S, Lernschwäche, Zappelphilipp usw. Das Resultat sind unglückliche Kinder, verzweifelte Eltern, gestresste Mitschüler und Lehrer.
Statt sie in ihrer Entwicklung zu fördern, werden diese Kinder heutzutage zusehends mit Medikamenten ruhiggestellt. Eine sehr erschreckende Tendenz!
Was sind frühkindliche Reflexe und wofür sind sie überhaupt gut?
Reflexe sind durch unser Stammhirn gesteuerte, biologisch festgelegte, unwillkürliche Bewegungsmuster. Das Wort „unwillkürlich“ drückt es schon aus – auf diese Bewegungsmuster kann der Mensch nicht willentlich Einfluss nehmen. Im Mutterleib und während des ersten Lebensjahres haben diese unwillkürlichen Bewegungsmuster, die frühkindlichen Reflexe, eine enorm wichtige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes.
Zum einen sorgen sie für den Aufbau von stabilen Verknüpfungen zwischen den einzelnen Gehirnarealen, die zum Zeitpunkt der Geburt noch kaum miteinander verknüpft sind. Erst wenn stabile Nervenverbindungen zwischen den einzelnen Gehirnbereichen entstanden sind, können wir unser Gehirn vollumfänglich nutzen, also unsere Bewegungen koordinieren, still sitzen, mit Gefühlen gut umgehen, uns konzentrieren, vorausschauend denken u.v.m.
Des Weiteren sorgen die frühkindlichen Reflexe für den Aufbau des nötigen Muskeltonus (Muskelspannung) im Körper, die wir benötigen, um mit der Schwerkraft umzugehen, eine gute Körperwahrnehmung und einen guten Gleichgewichtssinn zu entwickeln, damit wir zu aufrecht stehenden und gehenden Menschen heranwachsen.
Erst wenn beides, also die Verknüpfung der Gehirnareale und der Aufbau des Muskeltonus störungsfrei vonstattengegangen sind, hat ein Kind die neuromotorische Reife erlangt, die für einen erfolgreichen Schulbesuch erforderlich ist.
Jeder frühkindliche Reflex hat also eine oder mehrere wichtige Aufgaben in der Entwicklung des Kindes zu erfüllen. Sobald ein Reflex seine Aufgaben erfüllt hat, muss er sich zurückbilden, da das Kind in seiner Gehirnreife nun schon weiter fortgeschritten ist und zunehmend willentliche Bewegungen und Aktionen ausführen kann. Noch fortbestehende frühkindliche Reflexe haben dann negativen Einfluss auf die weitere Entwicklung des Kindes, da es unter anderem ständig gegen diese unwillkürlichen Bewegungsmuster ankämpfen muss. Je stärker die bleibende Reflexaktivität ist, desto mehr können Funktionsgebiete beeinträchtigt sein, die Grundlage für Lernen und Verhalten sind, wie z. B.:
- grob- und feinmotorische Koordination
- Wahrnehmung (visuell, auditiv, sensorisch)
- Impulskontrolle
- Still sitzen können
- Gefühlsverarbeitung
- Konzentration
- Kognition
- Ausdrucksvermögen
Aber warum sind bei so vielen Kindern noch frühkindliche Reflexe aktiv?
Gründe gibt es dafür viele. Neben schwierigen Schwangerschafts- und Geburtsverläufen, z. B. Kaiserschnitt, liegen viele Babys zu wenig auf dem Bauch, haben zu wenig Bewegung, überspringen wichtige Entwicklungsschritte wie das Krabbeln. Auch zu langes Liegen im Maxi-Cosi und Lauflernhilfen beeinträchtigen die natürliche Entwicklung.
Wie kann diese Entwicklungsverzögerung aufgeholt bzw. beseitigt werden?
Der Schlüssel liegt in der Reflexintegration, einer sehr effektiven Alternative zu Medikamenten, um den Kindern ein glückliches Aufwachsen und einen erfolgreichen Schulalltag zu ermöglichen.
Als Begründerin der Reflexintegration gilt Sally Goddard Blythe, die schon vor 40 Jahren in Chester, England, erfolgreich mit Bewegungsprogrammen die neuromotorische Reife bei Kindern förderte bzw. nachholte.
Der schwedische Arzt Dr. Harald Blomberg hat das Bewegungstraining RMT (Rhythmic Movement Training) entwickelt. Seit 25 Jahren behandelt er damit erfolgreich geistig und körperlich behinderte Kinder sowie die Symptome von AD(H)S und Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten.
Das Sieber & Paasch Institut, München, hat mit der RIT®-Reflexintegration das Reflexintegrationstraining um Komponenten erweitert, um die neuronale Reifung noch effektiver zu unterstützen. Dadurch werden der Aufbau stabiler Nervenbahnen zwischen den Funktionsbereichen des Gehirns beschleunigt und die noch aktiven frühkindlichen Reflexe zurückgebildet.
Wie sieht so ein RIT®-Reflexintegrationstraining nun aus?
Das RIT®-Einzeltraining erstreckt sich in der Regel über einen Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten. Nach einer ausführlichen neuromotorischen Untersuchung und Feststellung der noch aktiven frühkindlichen Reflexe, kommen die Klienten einmal im Monat in meine Praxis. Hier löse ich die entsprechenden Reflexmuster durch isometrischen Druck aus, begleitet von einer beidseitigen Gehirnhälftenstimulation. Um stabile neuronale Verknüpfungen aufzubauen, ist es dann von großer Bedeutung, dass das Kind täglich ein etwa zehnminütiges Bewegungstraining zu Hause durchführt.
Um möglichst viele Kinder zu erreichen, wurde vom Sieber & Paasch Institut ein Gruppentraining für Kindergärten und Grundschulen entwickelt, das sich über acht Monate erstreckt und sich mit einem geringen täglichen Aufwand von 15 Minuten gut in den Kindergarten- bzw. Schulalltag integrieren lässt.
Warum mir das Thema so am Herzen liegt
Immer wieder darf ich in glückliche und erleichterte Gesichter meiner kleinen Klienten und ihrer Eltern schauen, die endlich mit Freude und Zuversicht ihre Schullaufbahn wie alle anderen durchlaufen können und denen nun Stigmatisierung, Selbstzweifel und eine stressige Schulzeit erspart bleiben. Häufig kann die Medikamentengabe reduziert oder ganz abgesetzt werden.
Leider ist die Reflexintegration in Deutschland noch nicht so bekannt, obwohl es zahlreiche internationale wissenschaftliche Studien gibt, die auf die Zusammenhänge von frühkindlichen Reflexen und Lern- und Verhaltensauffälligkeiten hinweisen. So haben Kinder mit AD(H)S-Symptomatiken zu 94 % den „Spinalen Galant“ und den „Spinalen Perez“ noch aktiv.
Quellen: Untersuchungen von Svedlana Masgutova und dem Sieber & Paasch Institut: Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwä- che haben zu 75 % den „symmetrischen tonischen Nackenreflex“ (STNR) noch aktiv
Das Thema muss einfach in die Öffentlichkeit und gerade Erziehern (immer m/w) und Lehrern zugänglich gemacht werden, da es deutliche, auch für Laien sichtbare Anzeichen für noch aktive frühkindliche Reflexe gibt. Das sind unter anderem:
- Tollpatschigkeit (häufiges Umwerfen von Gegenständen)
- schlechte Körperhaltung
- das Kind stützt den Kopf ständig ab
- es kann keinen Purzelbaum machen
- Verknoten der Beine um die Stuhlbeine
- das Heft wird zum Schreiben schräg gelegt, sodass eher von unten nach oben statt von links nach rechts geschrieben wird
- das Kind fängt in der Mitte des Blattes an zu schreiben
- schlechte Stifthaltung, zu viel Druck auf dem Stift
- der Mund wird beim Schreiben mitbewegt
Ich hoffe, dass ich mit meinem Beitrag das Interesse für die Reflexintegration wecken konnte und etwas mehr Öffentlichkeit geschaffen habe.
Wer sich weiter informieren möchte, findet im Internet mit den Schlagwörtern „frühkindliche“ oder auch „persistierende“ Reflexe zahlreiche Publikationen und Studien.
Literatur
- Blomberg, Dr. Harald: Bewegungen, die heilen. VAK Verlag, ISBN 978-3-86731-101-4
- Goddard-Blythe, Sally/Hansen-Lauff, Thake: Greifen und begreifen. VAK Verlag, ISBN 978-3-93576-727-9
- Beigel, Dorothea: Flügel und Wurzeln. verlag modernes lernen, ISBN 978-3-80800-535-4
- Expertendatenbank Sieber & Paasch Institut http://www.rit-reflexintegration.de/274/rit-experten
Birgit Lubos
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Praxis für Potenzialentwicklung in Mönchengladbach, Expertin für Reflexintegration, IPE-Kinder- und Jugendcoach professional, IPE-Lerncoach, IPE-Schulpotenzialtrainerin
Fotos: fotolia©Oksana Kuzmina, ©Birgit Lubos