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Er ist ein Narzisst. Sie ist eine Narzisstin. Aber ist das wahr?

Über (voreilige) Ferndiagnosen in Coaching, Therapie und in den Medien.

© fanzom_rd„Es sind immer die anderen, die böse, dreckig und gemein sein sollen. Es sind immer die anderen, die narzisstisch, egoistisch oder gar selbstverliebt sein sollen. Wenn das jetzt jeder sagen würde, wäre ja jeder böse, dreckig und gemein – oder? Wie einfach es doch ist, immer nur im Gegenüber den Miesepeter zu sehen. Fällt Selbstverantwortung so schwer?“
Leonard Anders

Wenn Sie sich im Internet umschauen, werden Sie ganz viele verschiedene Beschreibungen oder auch Zuschreibungen finden, oftmals nicht einmal abgegrenzt von der Borderlinestörung, der paranoiden Persönlichkeitsstörung oder der dissozialen Persönlichkeitsstörung. Es gibt Foren, da wird regelrecht vermischt und alle bösen, manipulativen, teils sadistischen und impulsiven Anteile werden dem Narzissten zugeordnet. Sollten Sie dann doch genauer nachforschen, welche Beschreibungen es gibt und wer diese verfasst hat, finden Sie diverse Psychiater oder Psychoanalytiker, die verschiedene Thesen aufgestellt haben, jedoch keine, die der anderen gleicht.

Zuerst einmal gab es diese Mythos-Erzählung von Ovid über Narzissos, dem Namensgeber der Narzisse, die an der Stelle wuchs, wo er beim Versuch, sich selbst zu umarmen, ertrank. Dann den Begriff der autoerotischen Störung von Havelock Ellis. Dann kam der frühe Sigmund Freud, der es eine normale Entwicklungsstufe nennt, während der späte Freud das revidiert und den Narzissmus als Problem des Erwachsenenalters bezeichnet. Heinz Kohut sagt, man rutscht da zurück auf eine kindliche Entwicklungsstufe (man könnte es auch Regression nennen). Otto F. Kernberg spricht von kalten, indifferenten oder aggressiven Eltern. Millon hingegen argumentiert lerntheoretisch, dass die Kinder, die ein kleines Knetmännchen gemacht haben, von ihren Eltern als hochbegabt bestätigt werden und später mit der Realität konfrontiert sind, wenn nicht mehr alle sagen, wie toll sie sind.

Neuere Modelle, wie das Schemamodell von Jeffrey Young oder die Anliegensmethode von Prof. Franz Ruppert, gehen von frühen (oder auch vorgeburtlichen) Prägungen bzw. Traumatisierungen aus, die in Glaubenssätzen bzw. idealisierten Selbstbildern münden, die entweder bestätigt oder abgewehrt werden müssen. Man spricht von Modi oder Traumaüberlebensstrategien.

Für uns, die Heilpraktiker und angehenden Heilpraktiker, genauso wie für die Psychiatrie und Psychologenszene gilt die ICD-10, während in Amerika das DSM-V herangezogen wird. In der ICD-10 ist die narzisstische Persönlichkeitsstörung unter F.60.80 geführt, den nicht näher erörterten spezifischen Persönlichkeitsstörungen. Demnach müssen fünf von neun Merkmalen erfüllt sein, um von einer gesicherten Diagnose auszugehen.

Wenn Sie jedoch die Medien verfolgen, sei es das Internet oder diverse Printmedien, lesen Sie, dass unsere Gesellschaft immer narzisstischer, ichbezogener oder selbstverliebter sei. Dr. Hans-Joachim Maaz ging sogar so weit, dass er unserer Bundeskanzlerin im Jahre 2014 eine narzisstische Persönlichkeitsstörung bescheinigte, was ich leider erst erfuhr, nachdem mein Buch gedruckt wurde, für das er einen Beitrag schrieb.

Auch können Sie lesen, dass Narzissten selbstverliebt seien und immer die anderen es sind: Politiker, Reiche, Stars und Sternchen, Ehepartner, Chefs – aber niemals sie selbst. Dabei ist es bewiesen, dass jeder Mensch narzisstische Züge aufweist und die Übergänge von „gesund“ zu „krank“ fließend sind. Diese Tatsache wird jedoch gern ausgeblendet. Niemand möchte schließlich zu denen gehören, die man selbst verurteilt, obwohl sie womöglich nur ein Spiegel der eigenen ungeheilten Anteile sind.

Es wird geschrieben, dass Narzissten einen Mangel an Empathie besitzen, was sogar dazu veranlasst, aus diesem Grunde den Betroffenen gegenüber ebenfalls kein Mitgefühl zu zeigen. Vergeltung, Rache, Aufrufe zum Shitstorm „Wie du mir, so ich dir“ zeichnen ein mittlerweile hässliches Bild vom inflationären Gebrauch des Terminus „Narzissmus“ als Krankheitsbegriff. Wut mag manchmal guttun, aber die Wunde bleibt. Und wenn aus Ohnmacht dann auch noch Macht wird, also der Ohnmächtige sich ermächtigt, andere aus der Ferne zu diagnostizieren, dann ist das Chaos perfekt. Nicht wenige Experten warnen vor einer möglichen Psychiatriesierung der Gesellschaft, in der auf einmal jedem Andersoder von der Norm abweichenden Denker eine psychische Krankheit attestiert wird.

© New AfricaIn der ICD-10 wird allerdings nie behauptet, dass ein Narzisst selbstverliebt sei, was als erstgenanntes Hauptmerkmal gilt.

Prominentes Beispiel ist Donald Trump, um dessen psychische Gesundheit nach seiner Wahl eine lebhafte Diskussion entbrannte. Selbst gegen die Goldwater-Regel wurde verstoßen*.

Und auch in Deutschland ist eine gesicherte Diagnose erst nach mehreren Gesprächen oder fundierten Diagnoseinterviews (Fragebögen) möglich. Psychotests im Internet sind damit nicht gemeint.

Ich lese immer wieder, dass sog. Mindset Coaches, spirituelle Berater und manchmal auch Heilpraktiker, bei denen so manch verzweifelte Frau in Behandlung ist, gern vorschnell über den Grund (in dem Falle den Konflikt mit dem Partner) spekulieren und dem Partner ohne vorherige Begutachtung eine narzisstische Persönlichkeitsstörung attestieren. Für die betroffene Frau gilt das oftmals gleichzeitig als Alibi, nicht näher bei sich zu schauen, weil sie so eine Erklärung hat, warum sie Opfer in der Beziehung ist. Der narzisstische Partner habe einen dazu bewusst ausgewählt, also intentional erst mit Komplimenten und Geschenken überhäuft (Lovebombing), um dann, wenn das Opfer sich in Sicherheit wähnt, dieses gnadenlos abzuwerten oder mit Schweigen und Nichtbeachtung zu bestrafen (Ghosting).

Ich möchte gern darauf hinweisen, dass die Symptome der narzisstischen Persönlichkeitsstörung, insbesondere des vulnerablen oder verdeckten Narzissmus, auch auf zahlreiche andere Krankheitsbilder hinweisen können: wie die posttraumatische Belastungsstörung, die bipolare Störung, eine rezidivierende depressive Episode oder eine Abhängigkeitserkrankung. Die Diagnose „NPS“ wird meines Erachtens viel zu früh, viel zu oft und leider auch unbedacht gestellt. Und selbst wenn eine narzisstische Persönlichkeitsstörung vorliegt, gilt zu beachten, dass der Betroffene auch traumatisiert ist. Nicht umsonst werden Persönlichkeitsstörungen auch als Traumafolgestörungen bezeichnet.

Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber macht, was so eine Ferndiagnose bei den Betroffenen auslösen kann? Wissen Sie, was es für die Menschen im Umfeld bedeutet, wenn diese von einer vorschnellen Ferndiagnose erfahren?

Zum einen schenken sie den Aussagen des Therapeuten oder Coaches (die im Übrigen nicht diagnostizieren dürfen) oftmals übermäßigen Glauben, andererseits fühlt sich das Umfeld genötigt, es überall herauszuposaunen, getreu dem Motto: Narzissten sind gefährlich, man müsse die anderen vor ihnen warnen. Rufmord ist schon lange kein Kavaliersdelikt mehr. Auch bei Rufmord geht es um Macht bzw. Ermächtigung. Von Jobverlust als Konsequenz für den Ferndiagnostizierten bis Selbstmord als Folge dessen ist alles möglich.

Auf einmal soll der Narzisst ein Psychopath sein oder der, der einer Traumatherapie bedarf, auf einmal ist er ein Monster, vor dem alle Welt geschützt werden muss – und das nur aufgrund einer vorschnellen Ferndiagnose, um dem eigenen Patienten oder Klienten eine Erklärung anzubieten, warum es in der Beziehung kriselt.

Der Therapeut, der diese Fern-Verdachts-Diagnose gestellt hat, nimmt in diesem Falle die Rolle des Retters im Dramadreieck ein. Und dass der Retter damit die Opferschaft nur vergrößert, ist hinlänglich bekannt. Der Retter spricht dem Opfer die Selbstverantwortung ab, indem er dem Opfer attestiert, keinerlei Verantwortung dafür zu haben, geschweige denn diese im Nachhinein übernehmen zu müssen, selbst wenn das eigene Verhalten dazu beigetragen hat. Das Opfer wollte doch bloß geliebt werden oder aber den scheinbaren Narzissten gesund lieben. Und dieser wusste das nur nicht zu schätzen. Jetzt sei er schuld daran, dass es dem Opfer so schlecht geht.

Dass es womöglich mit einem selbst zu tun hat, also mit den eigenen Bedürftigkeiten oder Glaubensmustern, wird dann gern unbeachtet gelassen. Schließlich ist der andere schuld daran, dass man selbst sich jetzt in der misslichen Lage befindet. Warum sich die Frau ausgerechnet einen Narzissten wählte, wird nicht erörtert.

Und warum das alles? Ich könnte jetzt vermuten, dass die eigene Selbstwerterhöhung, aber auch Hilflosigkeit bzw. Überforderung mit der Thematik eine Rolle spielt, weil man mit so einer vorschnellen Diagnose auch Expertenwissen vorgaukeln und gleichzeitig von eigenen Anteilen ablenken kann. Man muss sich dafür nur bei Amazon die Neuerscheinungen zum Thema anschauen, in denen Berater, Heiler oder Heilpraktiker Bücher zu diesem Thema veröffentlichen, was oft viel Geld und Anerkennung bringt. Auch werden Blogs verfasst oder Videos erstellt, die sich einer großen Followerschaft erfreuen. Rund drei viertel dieser sog. Berater berichten dabei von eigenen Erfahrungen, in denen sie sich selbst als Opfer wahrgenommen haben. Insbesondere die „selbsternannten Hochsensiblen“ erheben sich über den Narzissten, werten ihn ab, stempeln ihn ab, während sie sich selbst als vollkommen unschuldig, weil eben hochsensibel, dafür aber als bessere Menschen bezeichnen.

Natürlich ist es wichtig, den Klienten in seiner Wahrnehmung zu stärken oder gar sein Leid oder seine selbst empfundene Opferrolle erst einmal anzunehmen, was jedoch nicht heißt, dass man diese nicht hinterfragen darf. The Work nach Byron Katie zielt sogar darauf ab, die Konflikte innerhalb der Partnerschaft zu durchleuchten, während in der klientenzentrierten Gesprächstherapie der Klient mit seinen Aussagen gespiegelt bzw. empathisch konfrontiert wird.

Fazit: Die narzisstische Persönlichkeitsstörung ist in Deutschland nicht ausreichend erforscht, und das DSM-V gilt in Deutschland nicht, darf also meines Erachtens auch nicht herangezogen werden. So bleibt für mich noch eine Frage offen: Was machen die voreiligen Diagnoseverteiler ab Mitte 2022, wenn die neue ICD-11 in Kraft tritt, in der die narzisstische Persönlichkeitsstörung als Krankheitsbild nicht mehr vorgesehen ist?

*Anmerkung: 1964 erschien im inzwischen eingestellten US-Magazin „Fact“ eine psychologische Vorverurteilung eines Prä- sidentschaftskandidaten. In der Folge und nach gerichtlichen Auseinandersetzungen verabschiedete die American Psychiatric Association, die Standesorganisation der US-amerikanischen Psychiater, 1973 die sog. Goldwater-Regel. Danach gilt es für Psychiater als unethisch, den Gesundheitszustand einer öffentlichen Person zu beurteilen, sofern sie keine Untersuchung durchgeführt und die erforderliche Erlaubnis für eine derartige Aussage erhalten haben. Die Goldwater-Regel galt mehr als 50 Jahre lang. Doch offenbar hat Donald Trump es geschafft, bei den Psychologen – bildlich gesprochen – die Sicherungen durchschmoren zu lassen. Das sagt am Ende vielleicht sogar mehr über den Berufsstand aus als über den Präsidenten.

FP 0519 alles App Page55 Image3Aus meinem Buch:
Ein Narzisst packt aus –
Ehrlichkeit gegenüber dem inneren Kind
und gesellschaftliche Anerkennung,
Tectum Verlag Baden-Baden

Leonard Anders
NLP, Emotional Unlinking und The Work Coach,
in Ausbildung zum Heilpraktiker für Psychotherapie, Blogger, Autor

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