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Vereinigte Gegensätze: Carl Gustav Jung

„Wenn man bis dahin der Meinung war, dass der menschliche Schatten die Quelle allen Übels sei, so kann man nunmehr bei genauerer Untersuchung entdecken, dass der unbewusste Mensch, eben der Schatten, nicht nur aus moralisch verwerflichen Tendenzen besteht, sondern auch eine Reihe guter Qualitäten aufweist, nämlich normale Instinkte, zweckmäßige Reaktionen, wirklichkeitsgetreue Wahrnehmungen, schöpferische Impulse und andere mehr”, so Carl Gustav Jung, Begründer der analytischen Psychologie, Schüler Sigmund Freuds, Psychiater und Forscher des kollektiven Unbewussten.

FP 0519 alles App Page49 Image1Jung sah im „Schatten“ das „Gold im Dunkeln“, da sich in ihm unsere unterdrückten und unbefriedigten Bedürfnisse manifestieren, die erst durch ihre Sichtbarmachung verarbeitet werden können. Die sich daraus ergebenden inneren Konflikte werden nach Jung nur durch Integration eben dieses „Schattens“ in unserer Persönlichkeit überwunden. Auch zwischenmenschliche Konflikte können durch nicht integrierte Schatten entstehen. Beispielsweise, wenn Schattenanteile des eigenen Selbst auf das Gegenüber projiziert werden und dieses dann unsachlich kritisiert wird. Getreu seinem Motto: „Lieber ganz, als gut.“, ist die Auseinandersetzung mit dem „Schatten“ als ganzheitliche Arbeit am Selbst zu verstehen. Das Selbst war für Jung nämlich „der Gesamtumfang aller psychischen Phänomene im Menschen“. Diese ganzheitliche Arbeit am Selbst nannte Jung „Individuation“.

Ganzheitlich sind auch indische und tibetische Mandalas, die dem Betrachter das unauftrennbare Ganze des Kosmos – und somit auch des Menschen – näherbringen sollen, weshalb Jung eine starke Vorliebe für sie hegte. Jung zeichnete unter anderem auch selbst Mandalas, um „Emotionen in Bilder zu übersetzen“. Einige seiner Zeichnungen finden sich in seinem „Roten Buch“, an dem er von 1914 bis 1930 privat arbeitete – ein sieben Kilogramm schwerer, in rotes Leder gebundener Foliant, der das Ausmaß von Jungs weitreichender Wissbegierde erahnen lässt. Diesen Prozess des Durcharbeitens vergleicht Jung mit der Nekyia, Odysseus` Abstieg in den Hades, ein Motiv, das sich in vielen Mythologien wiederfindet und auch heute noch in aktuellen Filmen, Büchern und Videospielen vertreten ist: Der Held muss in die Unterwelt hinabsteigen, um sich dort seinen inneren und äußeren Dämonen zu stellen. Dass dieses Motiv auch in der Gegenwart noch oft Verwendung findet und die Menschen berührt, spricht für die aktuelle Relevanz dieses Individuationsprozesses.

Jung stellte generell fest, dass viele Motive aus verschiedensten Mythologien starke Parallelen aufweisen, teilweise seit Jahrtausenden. Für Jung war dieser Parallelismus der Mythen der Beweis dafür, dass uns Menschen ein Zugang zu einer Art „Kollektivgedächtnis“ gegeben ist. Für Jung lag dieser Zugang in einem Teil unseres Unbewussten, der sich nicht durch persönliche, sondern kollektive Erfahrungen speist. Deshalb spricht Jung hier vom „Kollektiven Unbewussten“. Dort finden sich alle Mythen der Menschheit. Diese Mythen begegnen den Menschen in Form von Symbolen, die Jung „Archetypen“ nannte.

Jung war der Meinung, dass Archetypen Abbilder sich stets wiederholender Erfahrungen der Menschheit seien. Und somit bringen sie bei ihrem Erscheinen – egal ob im Traum, in der Fantasie oder im Leben – immer eine den Menschen zum Handeln antreibende Kraft mit sich.

Jung war das Symbol wichtiger als das Geschriebene, da sich uns unser Unbewusstes in Bildern mitteilt, die wir als Fantasien bezeichnen. Diese Fantasien sind wegweisend, schließlich war ein Großteil unserer Umwelt zuerst Fantasie. Der Text, den Sie gerade lesen, war zuerst Fantasie, bevor er zum geschriebenen Wort wurde. Jung dazu: „Immerhin weiß man, dass noch jede gute Idee und jede Schöpfertat aus der Imagination hervorgegangen ist und den Anfang in dem nahm, was man als infantile Phantasie zu bezeichnen gewohnt ist“.

Die bewusst gelenkte Arbeit mit der Fantasie nennt Jung „Aktive Imagination“. Sie ist ein Werkzeug, das dem Menschen hilft, Inhalte des Unbewussten zu bearbeiten. Der Traum geschieht dem Menschen, die „Aktive Imagination“ muss vom Menschen bewusst bewirkt werden. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit, mit eigenen Fantasien zu arbeiten und die Kraft dieser zu nutzen. Es geht darum, wieder stärker in Kontakt mit dem eigenen Selbst zu treten und auf die inneren Ressourcen zu vertrauen. Es soll eine Einheit von Bewusstsein und Unbewusstem dabei entstehen, ohne die es nach Jung überhaupt keine Individualität gäbe.

Er spricht dabei von einer heilenden Vereinigung von Gegensätzen. Diese kann erlangt werden, wenn wir akzeptieren, dass das Unbewusste auch imstande wäre, dem Bewusstsein ebenbürtig, eine lösungsorientierte Führung zu übernehmen – eine Annahme, die viel Gelassenheit voraussetzt. Dementsprechend hätte dann auch der Traum den Wert einer positiv leitenden Idee oder einer Zielvorstellung, die in manchen Fällen dem momentanen Bewusstseinsinhalt an Bedeutung ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen wäre. Träume werden häufig als reine Verarbeitungsprozesse oder als gänzlich überflüssiges Neuronengewitter angesehen. Jung formulierte dazu zwei Fragen: „Wozu dient der Traum? Was soll er bewirken?“ Seine Antwort war, dass der Traum die psychologische Balance herstellen soll und somit Brücken zwischen Bewusstem und Unbewusstem schlagen kann. Denn nur wenn wir akzeptieren, dass sowohl Bewusstes wie Unbewusstes ineinandergreifen, dringen wir näher zu dem zuvor genannten „Selbst“, zu dem „Menschen“ vor.

Jung war es wichtig, einen ganzheitlichen Zugang zum Menschen zu finden. Den Menschen nicht als eindimensionales Gegenüber zu sehen, sondern als Teil des kollektiven Unbewussten. Diese Herangehensweise an den Menschen ist nicht nur eine sehr respektvolle, sondern eröffnet uns ferner viele produktive Möglichkeiten, von der Selbstreflexion über Beratung bis hin zur Therapie. Sie birgt allerdings auch Verantwortung: „Wir sind in ein Muster geboren; wir sind ein Muster.“

Aufgrund dieser von Jung postulierten Interdependenz war es ihm enorm wichtig zu betonen, wie sehr wir sowohl für uns selbst als auch füreinander verantwortlich sind. Setzen wir uns nicht mit unserem eigenen Schatten auseinander, suchen wir ihn im Gegenüber. Setzt sich eine Gruppe nicht mit dem eigenen Schatten auseinander, wird sie ihn in einer anderen Gruppe finden und diese bekriegen. Deshalb halte ich es auch heute – fast 60 Jahre nach Jungs Tod – nach wie vor für wichtig, zwischenmenschliche Konflikte und Ereignisse anhand von Jungs Auffassungen zu analysieren.

Eine große Inspiration für Jungs Arbeit war die Natur. Er verbrachte viel Zeit in einem selbst errichten Haus in Bolligen am Zürichsee, seinem „Turm“, wie er es nannte – allein, ohne Strom und fließend Wasser. In seinem Buch „Erinnerungen, Träume, Gedanken“ schildert er den Ort als „mütterliche Stätte“, mit der er das „Gefühl der Ruhe und Erneuerung“ verband.

Ursprünglich schwebte ihm als Domizil eine archaische Hütte vor, wie sie Naturvölker bewohnen, um deren mittiger Feuerstelle sich das Familienleben abspielt und die für Jung die Idee der Ganzheit verwirklichte. Er wollte mit seinem Turm eine Wohnstätte errichten, „die den Urgefühlen des Menschen entspricht“.

Als ich letztes Jahr selbst am Ufer des Zürichsees nur einige Meter entfernt von Jungs Turm stand, erschlossen sich mir seine Ansichten umso mehr. Zum ersten Mal hörte ich bewusst von Jungs Ansichten von einer US-amerikanischen Psychologin, die vor mehreren Jahren eine Vortragsreihe über Symbole und Mythologien hielt. Während ihrer Vorträge bezog sie sich immer wieder auf Jungs Werk und weckte somit meine Neugier. Das erste Buch, das ich von Jung las, war „Erinnerungen, Träume, Gedanken“.

Jungs treibender Wissensdrang, welcher sich darin widerspiegelt, faszinierte mich. Er erlernte viele Sprachen – unter anderem Sanskrit – bereiste abgelegene Länder, befasste sich intensiv mit Philosophie und war stets bemüht, zu dem Wesen der Dinge vorzudringen – das Oberflächliche genügte ihm nicht. Von sich selbst sagte Jung, dass er immer an allem zweifle. Dieser Skeptizismus machte ihn zu einem scharfsinnigen Analytiker und Selbstkritiker. Mit seinem eigenen Schatten versuchte er sich stets auseinanderzusetzen, was ihm gewiss nicht immer gelang. Oft genug hatte er mit starken Krisen und Gewissenskonflikten zu kämpfen, die ihn phasenweise nahezu lähmten. Dies möchte ich an dieser Stelle erwähnen, da es mir fern liegt, Jung zu glorifizieren. Es würde allerdings den Rahmen dieses Artikels sprengen, ausführlicher auf Jungs Schattenseiten einzugehen. Er war schließlich „Lieber ganz, als gut.“. Erfreulicherweise wusste er um seinen Schatten und wünschte sich deshalb, dass niemand „Jungianer“ wird. Daher hält meine Faszination an. Vor einigen Jahren hielt ich meinen ersten Vortrag über Jung und arbeite seitdem weiter an verschiedenen Konzepten, um Aspekte von Jungs Werk erfahrbar zu machen.

Schließen möchte ich mit einem Zitat aus Jungs „Rotem Buch“, das mich während der Arbeit an diesem Text begleitet hat und den Kern des Themas zusammenfasst: „Wehe denen, die nach Beispielen leben! Das Leben ist nicht mit ihnen. Wenn ihr nach einem Beispiele lebt, so lebt ihr das Leben des Beispieles, aber wer soll euer Leben leben, wenn ihr nicht selber?

Also lebt euch selber.“

Corvin Cornelius KloppenburgCorvin Cornelius Kloppenburg
Heilpraktiker für Psychotherapie, Studium der Philosophie,
Autor, Dozent an der Paracelsus Schule

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