Interview Dr. Stefan Weinmann: Ist das medizinische Hilfesystem in der Psychiatrie noch zu retten?
Uwe Britten im Gespräch mit dem Psychiater Dr. Stefan Weinmann
Dr. Stefan Weinmann ist Oberarzt im Vivantes Klinikum am Urban in Berlin. Von ihm erschienen die Bücher "Mythos Psychopharmaka" und "Die Vermessung der Psychiatrie" im Psychiatrie Verlag.
Herr Dr. Weinmann, Sie haben heftige Kritik geäußert am psychiatrisch-psychotherapeutischen Hilfesystem und sprechen von Selbsttäuschungen des Fachs. An welche denken Sie dabei?
Es gibt viele Stellen in diesem Hilfesystem, an denen es nicht gut läuft. Im psychiatrischen System haben wir uns schon verdammt viel vorgemacht in den letzten Jahrzehnten. Zudem war unsere Arbeit sehr vorurteilsbeladen. Nicht zuletzt aufgrund von Forschungsergebnissen aus anderen Fachgebieten müssen wir uns sehr genau ansehen, mit welchen unserer Annahmen wir uns getäuscht haben. Allem voran müssen wir uns eingestehen, dass wir keine für jeden Einzelfall zutreffende „Wahrheit„ über psychische Störungen haben. Stattdessen müssen wir uns fragen, was wir eigentlich für all die Menschen erreichen, die bei uns Hilfe suchen.
Außerdem haben wir in der Psychiatrie noch viel zu sehr einen institutionszentrierten Blick. Die Art und Weise, wie wir in Deutschland Psychiatrie betreiben, beruht vielfach auf veralteten Paradigmen. Dennoch: Auch hier sind die Bemühungen bereits vorangekommen, wenn man beispielsweise die Entwicklung der Psychosenpsychotherapie sieht. Bei diesen Personen gelingt Psychotherapie fast immer besser, wenn wir ihr Umfeld einbeziehen, deshalb müssen Psychotherapeuten auch mal raus aus ihren Therapiezimmern, egal ob sie im stationären oder niedergelassenen Setting arbeiten.
Ja, Sie kritisieren auch die vorherrschende Psychotherapie.
Oh, ich bin ein starker Befürworter der Psychotherapie, sogar besonders bei schweren psychischen Erkrankungen. Allerdings halte ich eine rigide Orientierung an den jeweiligen Konzepten der einzelnen Schulen für wenig zielführend, denn viel wichtiger als die vorausgesetzten „spezifischen“ Wirkungen ist die therapeutische Beziehung. Wir wissen doch aus der Therapieforschung längst, welche Bedeutung die Beziehungsgestaltung hat. In der Psychotherapie muss es darum gehen, gemeinsam mit dem Patienten eine biografische Erzählung, ein Narrativ oder eine Bewertung mit entsprechender emotionaler Komponente zu entwickeln, die ihn selbst in seinem Leben wieder stärkt. Dafür ist die Beziehungsgestaltung sehr viel bedeutsamer als alle vermeintlich spezifischen Faktoren.
Darüber hinaus ist die strenge dyadische Form nicht für alle schwer erkrankten Menschen sinnvoll, hier ist unbedingt eine Ausweitung in die breitere psychosoziale Arbeit nötig. Diese Personen brauchen ihr soziales Umfeld wie die Familie oder andere Bezugspersonen stärker als andere Menschen, obwohl sie es selbst auch besonders strapazieren. Soziale Einflüsse haben parallel zur therapeutischen Zweierbeziehung eine enorme Bedeutung, aber wir arbeiten zu wenig aktiv damit.
Was kann denn die stationäre Psychotherapie mit ihrer zeitlichen Begrenztheit überhaupt im Sinne einer nachhaltigen psychischen Umstrukturierung leisten?
Das ist natürlich eingeschränkt, da braucht man doch gar nicht drum herumzureden. Wir können während eines Klinikaufenthalts aber immerhin die Themen schon ansprechen, die später weitergeführt werden müssen. Zum Beispiel können wir Modelle von Wahrnehmung und Bewertung reflektieren und die Bedeutung von Symptomen ansprechen. Wir können Perspektivwechsel einüben. Nehmen wir schwere Zwangsund Angsterkrankungen, posttraumatische Belastungsstörungen oder Depressionen – da kann Psychotherapie in einer geeigneten Klinikumgebung einiges leisten. Bei Psychosen, bei Persönlichkeits- und bei bipolaren Störungen hingegen können wir stationär vor allem Anstöße geben und Erfahrungsräume öffnen. Der eigentliche therapeutische Prozess sollte im sozialen Umfeld der Patienten und somit mit niedergelassenen oder anderweitig ambulant tätigen Kolleginnen und Kollegen stattfinden.
Was können die niedergelassenen Therapeuten tun, damit beide Systeme besser aufeinander abgestimmt sind?
Die Niedergelassenen müssen stärker Teil der gemeindepsychiatrischen Versorgung werden – und dafür auch bezahlt werden. Von der klinischen Seite aus wünschen wir uns schon lange eine höhere Bereitschaft, auch schwer psychisch Erkrankte ambulant zu behandeln. Es gibt immer noch viele Psychotherapeuten, die sich ihre Patienten danach aussuchen, wo sie sich einen therapeutischen Erfolg versprechen. Das ist subjektiv nachvollziehbar, denn natürlich haben wir alle lieber Erfolge als Misserfolge, doch gerade diese Menschen bräuchten die Unterstützung wirklich. Hier ist der Bedarf an Psychotherapie besonders hoch, aber eine solche auch besonders anspruchsvoll und nicht immer nach gängigen Kriterien erfolgreich. Insgesamt wäre ein stärkerer Austausch beider Systeme im kommunalen Raum sehr wichtig, wobei man natürlich hinzufügen muss, dass dafür auch das Finanzierungssystem verändert werden müsste.
Psychische Erkrankungen vor allem medizinisch zu erklären, sei gescheitert, sagen Sie. Sie fordern einen stärkeren psychosozialen Blick auf die betroffenen Menschen.
Die ausschließlich biologischen Erklärungsversuche psychischer Störungen haben uns therapeutisch nicht weitergebracht, und zwar obwohl wir inzwischen unglaublich viele neurobiologische Mechanismen beschreiben können, die bei bestimmten Veranlagungen und bei der Verstärkung und Aufrechterhaltung von Störungen eine Rolle spielen. Daraus leitet sich jedoch nicht ab, es läge ein Defizit im Gehirn vor, das nur chemisch oder anderweitig biologisch ausgeglichen werden müsste, und die Erkrankung sei behoben, „ausgeglichen“ oder gebessert.
Das schließt aber die Nutzung von Medikamenten nicht aus. Medikamente können sehr hilfreich sein in bestimmten Akutsituationen und bei bestimmten Patienten. Aber wir sollten nicht der Illusion aufsitzen, ein Medikament habe allgemein eine spezifische Wirkung bei einer konkreten psychischen Erkrankung. Psychopharmaka wirken unspezifisch und rufen Wirkungen hervor, die bei einer zu langen Gabe ihrerseits zum Problem werden. Es ist und bleibt ein chemischer Eingriff ins Gehirn. Übrigens ist auch die Wirkung von Medikamenten stark abhängig von einer guten Beziehungsgestaltung.
Den Einsatz von Medikamenten müssen wir abwägen. Wenn ein Erkrankter bei einer Medikamentengabe bleiben möchte, obwohl er gründlich über die möglichen Spätfolgen informiert wurde, dann müssen wir das akzeptieren. Trotzdem sollte begleitend eine Psychotherapie stattfinden, denn Medikamente lösen ja die mit der psychischen Beeinträchtigung verbundenen Lebensprobleme nicht.
Wirkungsbeschreibungen von Medikamenten stammen aus jener Forschung, die die Pharmaindustrie selbst betreibt. Wie stehen Sie dazu?
Natürlich sind da dringend Veränderungen nötig, denn wir müssen weg von der Symptomorientierung und viel stärker hin zu den breiteren psychischen und psychosozialen Auswirkungen des Medikamenteneinsatzes. Ganz besonders psychiatrischen Diagnosen haftet etwas Willkürliches an – sie sind nicht objektiv. Dass daran dann Pharmastudien ausgerichtet werden, die schließlich behaupten, sie könnten eine diagnosespezifische Wirkung nachweisen, ist hoch problematisch. Das Bestreben der Industrie, die Wirksamkeit ihrer Pharmaka zu zeigen, die natürlich eine teure Entwicklungszeit hinter sich haben, ist immer interessegeleitet. Viele Negativergebnisse werden deshalb gar nicht, verspätet oder nur teilweise oder versteckt veröffentlicht.
Wir brauchen eine industrieunabhängige Forschung mit sozialen Parametern wie Lebensqualität, Erwerbstätigkeit, soziokulturelle Teilhabe und soziale Beziehungen. Dafür müssen wir viel stärker die Betroffenen selbst in die Forschungskontexte einbeziehen, denn die sind es, die uns sagen, was für sie hilfreich ist und was ihnen nichts gebracht hat. Es ist eine stärkere Individualisierung von Therapie nötig.
Von der pharmakologischen Behandlung mit Antidepressiva sind Millionen von Menschen betroffen – was bringen denen die Medikamente?
Zunächst muss man sagen, dass die rein biologische Wirkung den geringsten Teil ausmacht. Es ist völlig vermessen, von Antidepressiva zu sprechen. Wir wissen ja nach wie vor gar nicht, was eine Depression ist und was die dahinterliegenden pathologischen Mechanismen sind. Außerdem wissen wir nicht, wie sogenannte Antidepressiva überhaupt wirken, denn die Wirkmechanismen sind im Wesentlichen unspezifisch. Es wird kein Defekt eines Überträgerstoffes ausgeglichen, das ist Unsinn. Mindestens drei viertel der Wirkung sind unspezifisch, also gar nicht mit einem direkten chemischen Einfluss im Gehirn zu erklären.
Wir kennen das vom Placeboeffekt: Etwas wirkt immer auch deshalb, weil wir an die Wirkung glauben. Solche Einflussfaktoren haben gar nichts mit einer biologischen Wirkung von Antidepressiva zu tun, sondern mit einem sehr komplexen System von psychosozialen Einflüssen und Erwartungen. Die psychiatrische Hilfe auf die Wirkung einer Chemikalie zurückzuführen, ist völlig unangemessen.
Manchen Menschen helfen die Medikamente in akuten Situationen, manche fühlen sich beim Absetzen schlecht und vielleicht auch wieder depressiv, viel mehr aber lässt sich gar nicht sagen.
Wissenschaftlich hoch dekorierte Vertreter der „Deutschen Depressionshilfe“ haben im Rahmen der eigenen Öffentlichkeitsarbeit die Position verbreitet, die Depression sei eine Erkrankung wie ein Diabetes oder Parkinson auch.
Das ist natürlich vollständiger Unsinn. Dahinter steckt die medizinische Haltung, das Gehirn sei ein Organ wie jedes andere auch – ist es aber nicht. Mediziner glauben gerne daran, man werde irgendwann im Gehirn die neuronalen und physiologischen Abweichungen finden, die dann diese oder jene psychische Erkrankung hervorrufen. Man müsse dann nur diese Störungen biologisch korrigieren und alles sei in Ordnung. Diese Vorstellung ist längst als falsch entlarvt worden.
Diese Haltung übrigens entlastet auch nicht wirklich die betroffenen Menschen, wie gerne behauptet wird, im Gegenteil, die Stigmatisierung ist sogar noch größer. Sie führt in eine Haltung zu sich und seinem Leben, die davon geprägt ist, man sei ein Mensch, der einem kranken Gehirn ausgeliefert ist.
Es ist schon überraschend, dass auf fachlicher Seite solche Bilder überhaupt noch verwendet werden, denn es gibt inzwischen so viele Veröffentlichungen, die zeigen, wie biografische Faktoren, wie die Persönlichkeit eines Menschen, wie soziale Einflüsse und vieles andere mitspielen. Ein so einfaches Bild verbietet sich da eigentlich.
Aber dass sich psychische Prozesse im Gehirn abspielen, lässt sich nur schwer leugnen.
Natürlich nicht. Unser Erleben und Verhalten haben selbstverständlich immer auch neurobiologische Grundlagen und ein biologisches Korrelat, aber das Erleben, Verhalten und die ganzen sozialen Einflüsse verändern auch die neuronalen Funktionen. Viele neurobiologische Forschungsprojekte produzieren hoch spannende Ergebnisse, das Problem besteht dann oft in den damit verbundenen Ansprüchen.
Gilt das auch für all jene, die gegenwärtig behaupten, das Gehirn sei stark abhängig von dem, was im Darm passiert; dort müsse man also nach Ursachen suchen?
Etwas so Komplexes wie beispielsweise eine Depression ist nur über die Ernährung und das Darmmilieu nicht zu erklären und auch nicht zu behandeln. Den Magen-DarmTrakt einzubeziehen, halte ich dennoch für eine Erweiterung unseres fachlichen Blickes. Warnen würde ich vor jeder Verengung, egal, ob das nun den Darm, das Immunsystem oder das Zentralnervensystem betrifft. Alles das ist immer nur ein Bestandteil.
Was empfehlen Sie denn nun Therapeuten für die eigene Arbeit?
Uns allen ist zu raten, dass wir viel stärker Wissen auch aus uns fremden Fachgebieten berücksichtigen sollten. Die Entstehung psychischer Erkrankungen resultiert ganz stark aus Prägungen (vor und nach Geburt) und anderen sozialen Faktoren. Dazu gehören auch die soziokulturellen und sozioökonomischen Bedingungen einer Gesellschaft. Menschen werden dort krank, wo ihre sozialen Bezüge sind, wo sie leben, arbeiten etc. Wir können in einem psychiatrischen Hilfesystem all diese Bedingungen nicht einfach ausklammern. Ungleichheit in einer Gesellschaft macht die Ausgeschlossenen krank. Mangelnde soziale Teilhabe und Arbeitslosigkeit machen krank. Mittels epidemiologischer Daten müssen wir uns so etwas anschauen und dann auch angemessen in unserem therapeutischen Intervenieren berücksichtigen.