Zum Hauptinhalt springen

Wie viel trauen wir unseren Klienten wirklich zu?

© bofotoluxSeit vielen Jahren bin ich Heilpraktikerin für Psychotherapie und arbeite überwiegend in Einzelsettings. Weiterhin bin ich Nachsorge-Gruppentherapeutin für ehemalige Patienten aus psychosomatischen und psychotherapeutischen Kliniken. Die Diagnose, die überwiegend in den Abschlussberichten der Klinikpatienten steht, lautet Depression – in unterschiedlichen Ausprägungen von leichter bis schwerer Depression.

Depression kommt aus dem Lateinischen und bedeutet Niederdrücken. Patient, ebenfalls aus dem Lateinischen, bedeutet aushalten, ertragen, leiden, erdulden.

Das heißt, ein Mensch, der sich seelisch/psychisch niedergedrückt fühlt, leidet, erduldet, erträgt und hält diesen Zustand aus. Aus dieser Situation heraus will er Hilfe in Kliniken finden und/oder bei Ärzten und Therapeuten.

Die Patienten, mit denen ich zu Beginn herausarbeite, was deren Ziele sind, antworten unterschiedlich. Zusammenfassend kann ich jedoch sagen, sie möchten die Freude am Leben wieder spüren. Dazu gehört, sich wieder etwas zuzutrauen, aktiver zu werden, sich stabiler zu fühlen, ein gutes Selbstwertgefühl wahrzunehmen, Klarheit zu bekommen, besser im Kontakt mit anderen Personen zu sein etc.

Für mich als Therapeutin heißt das letztendlich, das Ziel wie einen roten Faden im Blick zu behalten. Dazu möchte ich Ihnen eine Metapher aufzeigen. Stellen Sie sich vor, der Gipfel eines Berges ist das Ziel „Lebensfreude“ (im Übrigen kann man Lebensfreude auch wirklich auf einem Gipfel spüren). Der Weg zum Gipfel kann mühsam sein: steinig und unwegsam, steil und anstrengend. Doch zwischendurch werden Pausen eingelegt. Man kann ins Tal schauen und erkennen, wie viel des Weges bereits zurückgelegt ist. So erhält man Motivation, um wieder weiterzugehen. Dieses Bild steht bei mir für Therapie.

Als Therapeutin ist es meine Aufgabe, immer wieder „zu schauen“, wie weit der Klient bereits gegangen ist und ob er wirklich gegangen ist. Denn natürlich gibt es auch Klienten, die schon nach kurzer Zeit Pausen einlegen – zu lange Pausen – und dadurch nicht mehr den Antrieb haben, aufzustehen und weiterzugehen. Damit will ich sagen, sie bleiben – bewusst oder unbewusst – im Widerstand. Ein Voranschreiten Richtung Lebensfreude ist dann schwer erkennbar und erfühlbar.

Doch heute möchte ich von den Klienten sprechen, die willens sind, den „Patienten“ in sich loszulassen. Sprich, sich vom Aushalten, Leiden, Erdulden und Ertragen der belastenden Seelenthemen zu lösen.

Manchmal gelingt es den Klienten, sich von ihren belastenden Themen, die sie mit in die Praxis bringen, zu befreien, und manchmal ist es schon ausreichend, eine neue Perspektive, eine neue Sichtweise zu gewinnen. Denn oft hat es gar nichts mit echter Befreiung zu tun, sondern vielmehr ist es die Erkenntnis und das Wiederfühlen-Können, das Platz macht für ein befreites Gefühl.

Und ich möchte heute von diesen Klienten sprechen, die in ihrer ganz eigenen Zeit und doch mehr und mehr ihr Selbstvertrauen entdecken und in einzelnen Schritten ihrem Gipfel entgegengehen.

Gerade hatte ich wieder die Nachsorgegruppe in der Praxis. Die meisten Teilnehmer (m/w) sind ca. ein Jahr dabei. Alle 14 Tage kommen sie zu einem festen Gruppentermin. Am Anfang hat jeder Teilnehmer den zeitlichen Raum, mitzuteilen, was ausgesprochen werden sollte. So teilte eine Teilnehmerin mit, dass sie sich über ihre Einzeltherapeutin (sie hatte diese bereits vor der Gruppentherapie) sehr ärgere. Sie würde sie kleinhalten und sich nicht mit ihr freuen. Dazu muss erwähnt sein, dass die Klientin große Fortschritte gemacht hatte.

© Dudarey MikhailVorher war sie in einer Bank tätig und es ging immer nur um Finanzen und darum, wie viele Verträge sie abgeschlossen hatte etc. Es war ihr nicht menschlich genug. Es sei nicht um sie gegangen, sondern lediglich um Abschlüsse. Das hat sie über Jahre hinweg in eine Depression gebracht. Sie hat ihr berufliches Dasein erduldet, ausgehalten, ertragen und dabei gelitten. Sie wurde zur Patientin.

Genau diese Klientin hat inzwischen eine Ausbildung zur Mediatorin gemacht, weil es dabei um Menschen geht und nicht um Verträge, wie sie selbst meinte. Voller Freude und Stolz hatte sie vor einiger Zeit von ihrem erfolgreichen Abschluss ihrer Ausbildung berichtet. Gestern erwähnte sie, dass sie bereits als Mediatorin die ersten Klienten gehabt hätte. Und auch wenn sie noch unsicher sei, was als Anfängerin ja verständlich sei, sei sie dennoch motiviert und voller Freude. Doch ihre Einzeltherapeutin meinte, dass das alles zu schnell ginge. Und sie das nicht unterstützen würde, dass sie bereits aktiv arbeite. Nachher wäre es zu viel – und dann?

Eine andere Klientin, mit der Diagnose Depression, begleite ich in Einzelsettings seit zwei Jahren. Sie war Direktorin einer Schule. Das Arbeiten mit den Kindern habe ihr immer viel Freude bereitet, doch die Verwaltungsarbeit habe sie massiv überfordert und ihren eigentlichen Beruf als Lehrerin immer mehr ins Abseits gedrängt. Da sie sehr naturverbunden ist, brannte in ihr schon lange eine innere Flamme für das Arbeiten mit Kräutern und Pflanzen, und das vielleicht als Workshop mit Kindern. So würden diese hautnah an alles herangeführt werden. Bei ihren Schilderungen, wie sie sich alles vorstellt und wozu sie Lust hat leuchtete mein Praxisraum regelrecht. Denn ihre Begeisterung strahlte in den Raum. Und so begann sie, sich ernst zu nehmen mit ihrem Wunsch, und startete. Beginnend mit der Erweiterung ihres Gartens.

Dann, bei ihrem vorletzten Termin, sagte sie zu mir: „Sie waren die Einzige, die mich bestärkt hat, meinen Wunsch umzusetzen. Sie haben nie gesagt, dass wird Ihnen zu viel. Lassen Sie es oder machen Sie weniger oder seien Sie vorsichtig.“

Doch ihre Ärzte und andere Therapeuten meinten, das sei möglicherweise überfordernd, die viele Arbeit im Garten, und sie solle lieber weniger machen.

Ein weiterer Klient, der chronifizierte Zwänge hat und dadurch seit fünf Jahren nicht mehr arbeitet, kam durch das Nichtstun noch tiefer in die Depression. Dieser Klient hatte seinen Verhaltenstherapeuten, zu dem er regelmäßig ging. Vor zwei Jahren war er dann mal bei mir in der Praxis und kam in zeitlichen Abständen immer wieder zu Einzelsettings. Dabei erwähnte er, dass er so gerne als ehrenamtlicher Mitarbeiter in einem Eine-Welt-Laden tätig sein möchte. Er sei auch schon da gewesen und würde gerne zweimal in der Woche für jeweils drei Stunden dort arbeiten. Für mich selbstverständlich, motivierte ich ihn und unterstützte diesen Gedanken. Auch er erzählte mir beim nächsten Termin, dass sein Verhaltenstherapeut davon eher abriet. Auch mit der Begründung, dass das wohl möglich zu viel für ihn sei.

Zum Schluss ein Beispiel von zwei Klientinnen, die in meiner Nachsorgegruppe waren. Beide erwähnten unabhängig voneinander, dass ihre Einzeltherapeutin es nicht so gerne sähe, dass sie zusätzlich in die Nachsorgegruppe gingen. Das sei zu viel und kontraproduktiv für die Therapie. Beide Klientinnen hatten jedoch das Gefühl, dass ihnen beides guttut. Die Einzelund die Gruppentherapie.

All diese Aussagen haben mich so ernüchtert und aufgerüttelt, um diesen Artikel zu schreiben.

Wir alle, dazu müssen wir nicht den „Titel“ Patient, Klient oder Teilnehmer tragen, sind Menschen und haben in unserer Kindheit erfahren, dass unsere Eltern uns gesagt haben, was wir dürfen und was wir nicht dürfen. Mal berechtigt, mal unverständlich. Daraus entwickeln sich oftmals persönliche Muster, die „Genehmigung“ von außen benötigen, um weitere Schritte auf dem eigenen Lebensweg zu gehen. Sonst entstehen Angst, Unsicherheit und Unvermögen. Die Klienten machen sich abhängig.

Als Therapeutin habe ich die Aufgabe, die Klienten ernst zu nehmen und sie in ihrem aufkommenden und gesunden Antrieb zu unterstützen, statt sie zu blockieren und/oder zu ängstigen.

Wenn Eltern schon gesagt haben, „Lass das. Das kannst du nicht. Das wird zu viel für dich.“, wer bin dann ich als Therapeutin, damit weiterzumachen? Wie soll der Klient seine eigenen Grenzen kennenlernen, wenn wir ihm sagen, wo diese sind? Das ist Anmaßung und therapeutische Überheblichkeit. Und wenn es das nicht ist, ist es falsch verstandene Vorsicht von Therapeuten.

Denn ich spreche von mündigen Menschen, die als Klienten unsere Praxen aufsuchen. Wir Therapeuten und Berater sind geradezu aufgefordert, ihre Ressourcen und Fähigkeiten für sie selbst wieder sichtbar zu machen.

Natürlich muss ich vorher die Wunden anschauen und heilen lassen. Denn mit einem gebrochenen Bein kann ich nicht auf den Berggipfel namens „Lebensfreude“ marschieren. Doch ist das Bein geheilt, ist es meine Pflicht als Therapeutin, dem Klienten die Wegbeschreibung zum Gipfel zu geben.

Denn sobald sich ein Klient etwas zutraut, soll er motiviert damit beginnen. Die eigenen Grenzen lernt er nur im Tun, also im Erleben, kennen. Dann kann der Mensch wahrnehmen, ob er einen Schritt weitergehen kann, einen zurückgehen sollte oder eine Pause einlegen muss. Nur so machen wir Erfahrungen und können dabei erkennen, wie es sich anfühlt: im Moment, in der Gegenwart, in der Zukunft.

Und ein Mensch, der aus seinem Leid ein schönes Lied machen will, den gilt es zu stärken. In der Liebe heißt es: Wer dich kleinmacht und dich nicht unterstützt, der liebt dich nicht.

Und ähnlich kann man es auch auf uns Therapeuten und Berater anwenden. Wer den Klienten kleinhält und nicht in seinem gesunden Brennen für etwas unterstützt, ist ein schlechter Begleiter.

Wie heißt es doch so schön? Was Paul über Peter sagt, sagt mehr aus über Paul als über Peter. Anders formuliert: Was der Therapeut über den Klienten sagt, sagt mehr aus über den Therapeuten als über den Klienten.

Stellen wir uns also niemals über unsere Klienten! Schon morgen können wir selbst als Therapeut Unterstützung suchen.

Und auch du willst bestärkt werden, wenn dein Herz für etwas brennt.

Christiane HintzenChristiane Hintzen
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Praxis für ganzheitliche Psychotherapie,
Schwerpunkte Angststörungen, Traumata, Burnout und psychosomatische Störungen
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.