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Mit Musik das Nervensystem entlasten

Safe and Sound Protocol (SSP) heißt die von dem amerikanischen Neurowissenschaftler Stephen Porges entwickelte musikgestützte Methode, die bisher in Deutschland leider nur von sehr wenigen Therapeuten angewandt wird. Das SSP gründet auf der von Porges entwickelten Polyvagal-Theorie, die den Zusammenhang zwischen verschiedenen Zuständen des autonomen Nervensystems (ANS) und der Kommunikationsfähigkeit des Menschen sowie der Fähigkeit zu sozialer Interaktion und höheren Denkprozessen beschreibt.

Der Hauptnerv unseres parasympathischen Nervensystems ist der Vagusnerv. Der Name „Polyvagal-Theorie“ ergibt sich aus der Erkenntnis, dass der Vagusnerv aus zwei entwicklungsgeschichtlich verschieden alten Teilen besteht, die unterschiedliche Aufgaben übernehmen.

Der ältere Teil ist der dorsale (hintere) Vagus. Dieser entwickelte sich vor etwa 500 Mio. Jahren. Der neuere Teil – der ventrale (vordere) Vagus –, über den nur Säugetiere verfügen, ist vor etwa 80 Mio. Jahren entstanden.

Sicherheit ist die Therapie

In seiner Polyvagal-Theorie beschreibt Porges u. a., dass unser ANS. mittels Signalen aus der Umwelt und aus den inneren Organen die Umgebung rund um die Uhr daraufhin überprüft, ob sie sicher, gefährlich oder sogar lebensbedrohlich erscheint. Dieses Abscannen, Neurozeption genannt, geschieht unwillkürlich, d. h. ohne dass wir darauf einen willentlichen Einfluss hätten.

Je nachdem zu welcher Einschätzung unser Nervensystem gelangt, aktiviert es einen von drei grundsätzlichen „Betriebsarten“ als Defensiv-Strategien, um möglichst große Sicherheit zu gewährleisten.

1) Identifiziert unser ANS eine Situation als sicher, reagiert es mit einer Aktivierung des vorderen Vagusastes (ventraler Vagus). In diesem Zustand sind wir fähig zu sozialer Interaktion. Wir sind entspannt, können uns erholen und sind kreativ.

2) Erscheint die Umgebung in der Einschätzung des ANS als gefährlich, wird der mobilisierende Sympathikus aktiviert. Unser Körper bereitet sich auf Kampf oder Flucht vor. Die Aufmerksamkeit wird auf eine mögliche Gefahrenquelle fokussiert, Puls und Blutdruck steigen an, um auf schnelle Bewegungen vorbereitet zu sein, die Muskelspannung erhöht sich, Adrenalin und weitere Hormone werden ausgeschüttet und vieles mehr.

3) Interpretiert unser ANS eine Situation sogar als lebensbedrohlich und gleichzeitig Kampf oder Flucht als aussichtslos, bewirkt der hintere Vagusast (dorsaler Vagus) ein Erstarren bzw. Erschlaffen, den sog. Totstellreflex.

Für die Therapie ist es interessant zu wissen, dass therapeutische Interventionen viel besser greifen, wenn sich die Klienten (immer m/w/d) im ventral-vagalen State, also im Zustand der unterbewusst empfundenen Sicherheit befinden.

Das Gehör als Signalgeber für Sicherheit

Menschen sind von ihrer Entwicklung her Rudeltiere. Um uns wirklich sicher und geborgen zu fühlen, sind wir daher auf soziale Interaktionen angewiesen. Einen wichtigen Sinneskanal für das Gefühl der Geborgenheit stellt dabei unser Gehör dar. Die Frequenz der weiblichen Stimme (ca. 220 Hz) zeigt sich in Untersuchungen als besonders beruhigend. Demgegenüber sind tiefe Frequenzen entwicklungsbiologisch mit Raubtiergebrüll assoziiert. Diese wirken somit als Signale für Gefahr.

Unser Gehör ist in der Lage, sich auf bestimmte Frequenzen zu fokussieren. Dazu wird die Spannung des Trommelfells über den musculus stapedius erhöht. Das ist vergleichbar mit der Fähigkeit, unsere Sehschärfe auf verschiedene Entfernungen einzustellen. Somit ist es uns möglich, die menschliche Stimme aus lauteren Umgebungsgeräuschen herauszufiltern und wichtige Informationen auszutauschen.

Tragischerweise ist die Muskulatur, die wir benötigen, um unser Gehör auf genau diese Frequenz auszurichten, bei vielen Menschen, die ein Trauma erlitten haben, erstarrt und quasi auf den Empfang von tiefen Frequenzen „eingerastet“. Dadurch ist dieser wichtige Kanal für das Empfinden von Sicherheit blockiert. Darüber hinaus empfängt unser Nervensystem durch die Ausrichtung auf tiefe Frequenzen unangemessen viele Signale für Gefahr.

In über vierzigjähriger Forschungstätigkeit hatte Porges erkannt, dass über den Gehörsinn eine Möglichkeit zur Einflussnahme auf das autonome Nervensystem besteht. Was würde geschehen, so überlegte er, wenn es gelingen könnte, den musculus stapedius wieder zu entspannen? Der Theorie nach müsste dieses unmittelbare Auswirkungen auf den Zustand des Nervensystems haben. Also konzentrierte er seine Forschungen auf die Entwicklung einer Methode, die genau dieses bewirken kann. Das erfolgreiche Ergebnis dieser jahrelangen Bemühungen ist das Safe and Sound Protocol (SSP).

In Untersuchungen fand Porges heraus, dass die Stimmmelodie (Prosodie) einer Mutter, die ihren Säugling beruhigt, epochen- und kulturübergreifend ähnlich klingt. Diese Sprachmelodie wirkt auf unser Nervensystem als Signal von Sicherheit. Also wählte er normale amerikanische Popsongs, in die mit einem aufwendigen Algorithmus genau diese Prosodie eingearbeitet ist. Zudem werden die Frequenzen, die mit Gefahren assoziiert sind, herausgefiltert. Durch diese und einige weitere Modifikationen gelingen zwei Dinge gleichzeitig: Der musculus stapedius wird wieder flexibler und gleichzeitig werden dem Nervensystem Sicherheitssignale vermittelt.

Ursprünglich wurde das SSP zur unterstützenden Behandlung von Menschen, die unter einer Autismus-Spektrum-Störung leiden, entwickelt. Seit der Verfügbarkeit im Jahr 2017 zeigte sich aber sehr schnell das Potenzial dieser Anwendung in vielen weiteren Bereichen, wo eine Dysregulation des ANS vorliegt, etwa bei Traumafolgen, Angsterkrankungen, AD(H)S und bei vielem mehr.

Die Dysregulation des Nervensystems kann sich in verschiedenen Symptomen zeigen, wie etwa

  • Geräuschempfindlichkeit
  • leichte Ablenkbarkeit durch Geräusche, Bewegungen oder Lichtreize
  • Schwierigkeiten, einem Gespräch in einer lauteren Umgebung zu folgen
  • Berührungsempfindlichkeit
  • Schreckhaftigkeit
  • Verdauungsproblemen
  • und vielem mehr.

Zur Überprüfung der Wirksamkeit des Safe and Sound Protocol habe ich unter meinen Klienten eine Umfrage durchgeführt.

Ergebnisse zur Umfrage der Wirkung des Safe and Sound Protocolls

Abstrakt: Es handelt sich um eine Fragebogenauswertung einer zugegebenermaßen kleinen Gruppe. Dennoch sind die Ergebnisse erhellend in Bezug auf die Wirksamkeit des SSP. Bemerkenswert sind vor allem die signifikante Verbesserung der HRV (Herzratenvariabilität) als auch die Steigerung der Abgrenzungsfähigkeit in emotional belastenden Situationen.

Fazit: Das SSP scheint eine positive Wirkung auf die Symptomatik der behandelten Klienten zu zeigen. Weitere Studien, vor allem mit mehr Teilnehmenden, wären wünschenswert.

Die Umfrage im Überblick

Bei der Umfrage wurden Klienten befragt, die in den vergangenen zwei Jahren bei mir das SSP durchlaufen haben. Das waren ausschließlich Erwachsene im Alter zwischen 18 und 63 Jahren. Von den angefragten 14 Klienten haben zehn den Fragebogen ausgefüllt und zurückgesandt. Das entspricht einem Rücklauf von 71,4 %.

Im Fragebogen abgefragt wurden verschiedene Symptombereiche nach den Kategorien „deutliche Verbesserung“, „leichte Verbesserung“, „unverändert“, „schlechter geworden“. Der dreiseitige Fragebogen umfasste zehn Fragen zu Ablauf der Behandlung, Symptomen während der Behandlung und Wirkungen im Verlauf und nach der Behandlung. Die bestehenden Symptome vor der Behandlung mit dem SSP wurden über einen „Fragebogen zur Selbstauskunft“ erhoben.

Bemerkenswert ist nach meiner Ansicht, dass nach Rückmeldung vor allem ein deutlicher Zuwachs der Fähigkeit, sich in schwierigen Situationen emotional abzugrenzen, wahrgenommen wurde.

Wie läuft die Behandlung ab?

Zur Durchführung des „Safe and Sound Protocols“ sind in der Regel sechs Sitzungen notwendig. Die erste Sitzung dient dem gegenseitigen Kennenlernen und der Abklärung, ob das Save and Sound Protocol für die gegebene Problematik geeignet erscheint. Ein speziell dafür entwickelter Anamnesefragebogen erleichtert die Einschätzung.

Für die eigentliche Behandlung sind dann fünf weitere Sitzungen à 90 Minuten (inklusive Vor- und Nachbesprechung) an fünf aufeinanderfolgenden Tagen erforderlich. In dieser Zeit hören die Klienten über Kopfhörer die speziell bearbeitete Musik. Dabei werden sie von einem Therapeuten aktiv begleitet. Die professionelle Begleitung ist erforderlich, da durch die – nach außen hin sehr unscheinbar erscheinende Methode – tief sitzende Emotionen angerührt werden können.

Um eine Überflutung der Teilnehmenden und damit eine mögliche Retraumatisierung zu verhindern, benötigt es erfahrene therapeutische Unterstützung. Deshalb kann es mitunter auch erforderlich sein, die ursprünglich geplante Dauer von sechs Sitzungen auszudehnen. Entscheidend sind hier das Wohlbefinden der Befragten und die individuelle Belastbarkeit des Nervensystems.

Nach Abschluss der Behandlung tritt oft eine spürbare Regulation des autonomen Nervensystems ein, die sich im Verlauf der folgenden drei Monate noch weiter festigt. Teilnehmer berichten u. a. von gesteigerter Konzentrationsfähigkeit, besserem Schlaf, geminderter Ablenkbarkeit und insgesamt einem stärkeren Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.

Das SSP ersetzt keine Therapie, kann aber dazu beitragen, dass eine anschließende Therapie schneller und effektiver verläuft.

Michael Krause
Heilpraktiker für Psychotherapie,
Dozent und Supervisor,
Praxis in Bergheim/Erft

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