Nur beeinträchtigt oder schon krank?
Der Standpunkt spielt eine große Rolle!
Professor Dr. Dr. Wolfgang Schneiders Kritik stärkt die Position der Heilpraktiker für Psychotherapie (immer m/w/d). Seit Jahren berichten die Krankenkassen von der großen und tendenziell zunehmenden Zahl psychischer und psychosomatischer Erkrankungen. Die Coronapandemie hat die Situation weiter verschärft – das belegen etliche Studien. Noch nicht belegt, aber zu vermuten ist, dass sich die hohe Inflation und die Energiekrise im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg mit ihren immens steigenden Kosten zusätzlich negativ auf die psychische Stabilität vieler Menschen auswirken.
Dr. Dr. Wolfgang Schneider, 1995 bis 2018 Professor für Psychosomatik und Psychotherapie an der Uni Rostock, hat sich mit den Hintergründen dieser Entwicklung befasst („Eine Gesellschaft zwischen Narzissmus, Hysterie und Abhängigkeit“, Hogrefe Verlagsgruppe, ISBN 978-3-45686-217-0).
Er kommt zu provokanten Ergebnissen und zieht kritische Schlüsse: Wer krank ist und wer nicht, sei nicht zuletzt eine Frage der individuellen wie der gesamtgesellschaftlichen Sichtweise. Die Verantwortung für eine zunehmend „hysterischer“ werdende Gesellschaft liege zu einem großen Teil bei den Medien und der Politik. Psychische Beeinträchtigungen hätten ihre Ursache oftmals nicht im Lebens- oder Arbeitsumfeld, sondern in Schwächen der Persönlichkeitsstruktur.
Professor Schneider kritisiert unter anderem auch die zunehmende Biologisierung der Medizin, vor allem im Bereich der Psychotherapie. Mit dieser Kritik steht er nicht allein: Immer wieder wird die schon fast mechanisch anmutende „Wenn-dann“- Kausalkette in der Psychotherapie auch von anderen Fachleuten bemängelt. Wolfgang Schneider fordert demgegenüber, schon in der Ausbildung gerade auch von Allgemeinmedizinern den Menschen insgesamt stärker in den Blick zu nehmen.
Damit spricht er – sicher nicht beabsichtigt – vielen Heilpraktikern für Psychotherapie aus dem Herzen. Kaum einem von ihnen käme es in den Sinn, eine psychische Beeinträchtigung oder gar psychosomatische Beschwerden isoliert zu betrachten.
Und noch in einem weiteren Punkt stärkt der Autor indirekt die Position der Heilpraktiker und Heilpraktiker für Psychotherapie. Die strikte Klassifizierung des ICD macht es schwierig, mit Grauzonen zu arbeiten: Entweder, jemand ist krank, oder er ist es nicht. Hier sieht Professor Schneider aber ein großes Problem, und zwar sowohl in der Klassifizierung „was/wer ist krank“ als auch in der Entwicklung hin zur Krankheit. Seiner Ansicht nach werden bestimmte psychische Beeinträchtigungen durch die Medien geradezu gepusht – Stichwort Burnout. Demgegenüber werde zu selten der Versuch unternommen, stabile Persönlichkeiten aufzubauen, die besser mit der – unzweifelhaft vorhandenen – dynamischen Entwicklung von Gesellschaft und Arbeitswelt zurechtkommen. Stattdessen würden „Krankheiten“ behandelt, die oftmals eher Symptom sind, aber nicht das eigentliche Problem.
In diesem Zusammenhang kritisiert Wolfgang Schneider auch die Kommerzialisierung der medizinischen Betreuung in Deutschland, die zu oft zulasten der Patienten gehe und ärztliche Entscheidungen unter das Primat der Ökonomie stelle.
Folgt man dieser Argumentation, dann zeigt sich, wie zielführend der inhaltliche Ansatz vieler Heilpraktiker für Psychotherapie ist. Die meisten ziehen in der praktischen Arbeit keine klare Trennlinie zwischen einer Therapie und unterstützenden/ begleitenden Maßnahmen. Stattdessen nutzen sie Instrumente therapeutischer Methoden auch im Coaching und sind so in der Lage, kritische Entwicklungen bei ihren Klienten umzulenken, ehe aus einer Beeinträchtigung eine wirkliche Krankheit wird.
Gefordert ist dabei immer auch die Eigenverantwortung der Patienten: Sie müssen sich ihrer Schwierigkeiten bewusst sein und eine Verbesserung der individuellen Situation selbst wollen. Hilfreich ist dabei auch der multimodale Ansatz der meisten Heilpraktiker, wohingegen in der Schulmedizin viel stärker auf Medikamente gesetzt wird.
Die Schulmedizin werde, so Professor Schneider, von vielen Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen eher als eine Art „Reparaturwerkstatt“ angesehen, die psychische Beschwerden möglichst ohne eigenes Zutun „wegmachen“ oder die Menschen – quasi als Wiedergutmachung für erlittenes Leid – krankschreiben soll.
Nach der Lektüre von „Eine Gesellschaft zwischen Narzissmus, Hysterie und Abhängigkeit“ können sich Heilpraktiker für Psychotherapie in ihrem Ansatz, den Menschen als Ganzes zu sehen und nicht jede psychische Beeinträchtigung als Krankheit zu therapieren, bestärkt sehen.
Dr. Werner Weishaupt
Heilpraktiker für Psychotherapie,
Dozent, Präsident des VFP
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