Corona: Persönlichkeitsstrukturen in der Krise
83 Millionen Bundesbürger sind seit Monaten im Ausnahmezustand: Ein noch zu Jahresbeginn weitgehend unbekanntes, unberechenbares und allem Anschein nach aggressives Virus sorgt einerseits für reale Furcht vor Ansteckung, Krankheit mit evtl. bleibenden Schäden und Tod in weiten Teilen der Bevölkerung. Andererseits aber auch für reale wie auch „frei flottierende“ Ängste bezüglich wirtschaftlicher Existenzen, aber auch zunehmende Wut bezüglich persönlicher Einschränkungen von Freiheitsrechten und sozialen Kontakten, die durch den gesellschaftlichen Shutdown und Lockdown ausgelöst werden.
Und tatsächlich traf dieses Virus auf eine Gesellschaft, die auf eine solche Pandemie in keiner Weise vorbereitet war und von der, wenn auch in ganz unterschiedlicher Art und Weise, jeder, vom Säugling bis zum Sterbenden, direkt oder indirekt betroffen ist.
Viele Menschen mussten in einer ersten Phase zu Hause bleiben – denen, die in beengten Mietwohnungsverhältnissen ohne Garten und Balkon leben, fiel schon nach wenigen Tagen die „Decke auf den Kopf“. Sorge um den Arbeitsplatz oder gar um die gesamte Existenz wie bei vielen Selbstständigen machen seither Stress, unbeschäftigte Kinder nervten während des ersten Lockdowns und schon lange schwelende Konflikte in der Familie drohten in häusliche Gewalt einzumünden.
Viele, v. a. ältere Menschen und Singles, wurden noch einsamer als sie schon bis dato waren. Kranke hatten Angst vor Ansteckung beim Arzt und gefährdeten ihr Leben durch Aufschub wichtiger Untersuchungen oder Therapien. Wieder andere in den sog. systemrelevanten Berufen mussten und müssen sich noch immer einem täglich erhöhten Infektionsrisiko aussetzen und arbeiten sich Tag für Tag ihrem Burnout entgegen.
Für viele andere aber auch war endlich einmal Zeit, zur Ruhe zu kommen, lange Liegengelassenes zu Hause aufzuarbeiten, das Leben als Familie und ggf. mit den eigenen Kindern neu zu entdecken und die allgemeine Entschleunigung zu genießen. Sich selbst in kontemplativen Übungen zu finden, auf einsamen Spaziergängen in der Natur zu erholen, und ja, auch wieder über den eigenen Lebenssinn nachzudenken, vielleicht sogar Weichen neu zu stellen im Vertrauen auf Kräfte, die in der Menschheitsgeschichte immer schon aus allen Ängsten und aller Not geholfen haben …
Wie auch immer: Das gewohnte Leben machte zuerst einmal Pause und hat auch in den nachfolgenden Monaten der vorübergehenden „Lockerungen“ nicht wirklich wieder zu seinen gewohnten Bahnen zurückgefunden. Alle sicherheitsgebenden Strukturen im privaten wie im Arbeitsleben verändern sich tiefgreifend.
Während nun in der öffentlichen Diskussion eine anfängliche Phase des allgemeinen Herunterfahrens zunächst einer Lockerungsphase und jetzt erneut einem sich abzeichnenden beginnenden Lockdown gegenübergestellt wird, müssen psychologische und soziologische Perspektiven sehr viel differenzierter und deshalb mehrere Phasen unterscheiden.
Dabei könnte ich mich sehr vereinfachend einem Vergleich anschließen, den Frau Prof. Margot Käßmann, frühere EKD-Ratsvorsitzende, in einer Sendung von Markus Lanz am 31. März 2020 angeboten hat: „Manchmal habe ich den Eindruck, wir leben in einer karnevalistischen Gesellschaft – wenn Dinge keinen Spaß machen, dann tun wir sie auch nicht!“
Wenn ich dieses Bild weiterführe, sehe ich vor dem inneren Auge an langen, brechend voll mit Essen und Trinken beladenen Tischen jene wogende Menge untergehakt schunkelnd singender Menschen, die einzig der Wunsch nach oberflächlicher Unterhaltung eint: „So ein Tag, so wunderschön wie heute … der dürfte nie vergehen!“ Und wenn sich in diese Orgie von Gefüttertwerden hier und da mal ein Text mischt, der des Nachdenkens wert, tiefgründig, vielleicht sogar aufrüttelnd und mahnend daherkommt, wird er meist huldvoll hingenommen, quasi als Bestätigung eigenen intellektuellen Anspruchs, solange er nicht wirklich zur „Spaßbremse“ wird – dann wenden sich die Menschen ab, dem Nachbarn oder dem Alkohol zu, und wenn alles zu schwer wird, beginnt der Chor der Buhrufe – das werden wir später erfahren.
Unwillkürlich erinnert mich das auch an das Lukasevangelium (17/27): Sie aßen, sie tranken, sie freiten, sie ließen freien bis auf den Tag, da Noah in die Arche ging und die Sintflut kam und brachte sie alle um ...
Wobei ich mich sicher nicht einreihen möchte bei denen, die in alttestamentarischer Manier schon wieder glauben, dass die Corona-Pandemie eine weitere Strafe Gottes sei – vielleicht aber – je nach Gottesbild – ein zur Umkehr aufweckender Ruf innerer hilfreicher Stimmen „schöpferischer Kräfte“?
Führt man die „soziologischen“ Gedanken weiter und bezieht sie auf das Verhalten einzelner Menschen, so machen inzwischen viele durchaus den Eindruck, als hätte ihr „inneres Kind“ den Kindergarten nie verlassen und fände sich jetzt emotional in jener Situation wieder, in der die Erzieherin irgendwann den Kindern die Spielsachen wieder wegräumen muss: von unverständigem Staunen über trauriges Weinen bis hin zu wütendem Protest, Aufstand, ja auch Handgreiflichkeiten werden da je nach Charakter geboten!
Man könnte es auch das Pippi-Langstrumpf-Syndrom nennen: „… Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt!“ Schon nach wenigen Wochen präsentieren sich in einer schon seit längerer Zeit zunehmend infantilisierten Gesellschaft die großen Kinder mit ihrem auffallend kurzen Spannungsbogen zwischen Wunsch/Erwartung und Erfüllung.
Charakterunterschiede dabei, heute nennen wir das Persönlichkeitsstruktur, das möchte ich jetzt etwas genauer anschauen, indem ich versuche, eine Parallele aufzuzeigen zwischen dem Verlauf der Corona-Pandemie und dem Verlauf der von Sigmund Freud vor mehr als 100 Jahren entsprechend seiner Libido-Theorie als „psychosexuell“ bezeichneten Entwicklung der Persönlichkeit, weil diese Perspektive sehr anschaulich die seelische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nach der Geburt darstellt.
Absichtlich gehe ich also dabei einen Schritt hinter die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse der Neurobiologie zurück, die deutlich machen, dass wesentliche Teile unserer Persönlichkeit bereits epigenetisch und durch hormonelle Einflüsse durch die Mutter und deren seelische Konstitution während der Schwangerschaft geprägt werden. Und dabei sei auch gleich gesagt: Selten gibt es Persönlichkeitsstrukturen in reiner Form, so wie sie sich entlang der seelischen Entwicklung als phasentypisch darstellen.
Meist mischen sich die Erscheinungsformen – nicht ohne Grund werden in der Literatur wesentlich mehr Persönlichkeitsstörungen beschrieben als es Entwicklungsstufen gibt – sie sind unterschiedlich stark ausgeprägt, und immer bringt jede Prägung nicht nur ihre negativen, sondern auch ihre positiven Seiten zum Ausdruck. Immer aber, wenn Menschen regressiv auf ihre prägenden Muster zurückgreifen, gilt:
Am Anfang war der Schock!
Zuerst waren da die Nachrichten und Bilder aus China: leer gefegte Straßen, vermummte Helfer, die sich um Massen von Erkrankten bemühten und Tote transportierten wie nach einer Naturkatastrophe. Das war weit genug entfernt, um nicht schon Panik auslösen zu müssen. Dann erste Meldungen aus Europa, Bilder von Leichentransporten in Bergamo, irgendwann auch die ersten Nachrichten aus Deutschland. Die „Einschläge“ kamen immer näher und lösten gleich mehrere berechtigte Reaktionen der Realangst aus:
1. Das Tier – die unbewussten Zentren in unserem Gehirn: Während Käfer sich tot stellen, selbst Raubtiere in die Horizontale zu fliehen versuchen, solange sie können, um einem Kampf mit ungewissem Ausgang ausweichen zu können, sind es die evolutionären Spuren unserer Vorfahren, die zum rettenden Sprung in die Vertikale, auf einen Baum ansetzten, die auch uns Menschen zumindest innerlich in einer ersten Phase zusammenzucken, in die Knie gehen, Schwung holen lassen, um dann in einer zweiten innerlichen Phase als …
2. Das Kind in uns in den rettenden Arm der Mutter, ersatzweise des Vaters springen zu lassen. Es ist dieser regressive Impuls, den jede Bedrohung, aber auch jeder anhaltende Stress in uns auslöst, der die verschiedenen „Ego-States“, die oft ganz unterschiedlichen KindheitsICHs wachruft, sie nacheinander, manchmal sogar gleichzeitig reaktiviert in all ihren verborgenen Ängsten und Nöten, ihren Wünschen, Antrieben und Behinderungen. Und dann wird es entscheidend sein, was wir als Kind in der Beziehung zu unseren ersten Bezugspersonen erlebt haben, wie wir emotional solche gefahrvollen Situationen meistern. Erst dann kann …
3. Der Erwachsene in uns, unser Groß- hirn in Aktion treten und auf der kognitiven Ebene nach Lösungen suchen. Dafür ist es zunächst hilfreich, dass unser Großhirn ein Problem-Lösungs-Organ ist, also besonders gut und schnell arbeitet, wenn es weder durch permanente Routinen noch durch Überflutung von Stresshormonen lahmgelegt ist.
Nachteilig wird dieser Problem-Such-Modus erst dann, wenn zu wenig Raum für Achtsamkeit auf jene Dinge bleibt, die uns auch beruhigen und Zufriedenheit vermitteln können.
Aus der Neurobiologie wissen wir heute auch, dass der reflexhaft schnelle Weg aus jenen Gehirnzentren, die alle unsere Emotionen und entsprechenden Bewertungen „primär-prozesshaft“ gespeichert haben, zu unserem Großhirn und damit zur bewussten Verarbeitung und Reaktion wie eine vierspurige Autobahn gesehen werden kann. Der umgekehrte Weg aber, der uns befähigen könnte, dass bewusst „sekundär-prozesshaft“ Gedachte und logisch Bewertete ordnend und beruhigend über die emotionalen Zentren zu legen, verglichen werden kann mit einem mühsam und langsam zu beschreitenden schmalen Bergpfad.
Konzentrieren wir uns aber auf Punkt 2: die analytisch-tiefenpsychologischen Aspekte. Und um im Bild zu bleiben: Das Kind in uns springt in den rettenden Arm der Mutter oder noch genauer: Der Säugling in uns sucht Geborgenheit in der Nähe der Mutter – akute Gefahr, Stress und Krisen lassen den Erwachsenen in uns oft zurücktreten, wir regredieren, wandern quasi seelisch zurück in unterschiedliche Kindheitsmodi, in denen uns dann gespeicherte Emotionen und Bewertungen spontan und stärker steuern als alle logische Vernunft.
Was aber ist, wenn der Säugling diese Geborgenheit bei der Mutter nicht findet, wenn sein Schreien nicht gehört wird, zumindest kein Verlass darauf ist, dass da eine Mutter ist, die sich den Bedürfnissen des Säuglings zuwendet, sobald der Säugling diese Zuwendung benötigt? Noch ohne dies kognitiv verarbeiten zu können, lernt der Säugling, dass er selbst der nahestehendsten Person nicht vertrauen kann, dass seine Bedürfnisse nicht ernst genommen werden, dass seine Existenz grundlegend gefährdet ist und alle Zuwendung, derer er bedarf, nicht von ihm gesteuert werden kann, sondern dem Zufall und den Launen eines anderen oder dem Schicksal überlassen bleibt. Was ist dann später mit einem Erwachsenen, der in einer Gefahrensituation innerlich emotional zurückgeworfen wird auf diese frühen Kindheitserfahrungen?
Variante A: Der Erwachsene hat als Kind eine schizoide Prägung (Freud) erfahren, nimmt eine Position ein, die (nach Melanie Klein und Otto Kernberg) als „schizoid-paranoid“ bezeichnet werden kann. Grundlage dafür ist, dass der Säugling sich zunächst eben nicht als Individuum erfährt, sondern sich mit der Mutter verschmolzen als ein omnipotentes Ganzes (s. spätere narzisstische Persönlichkeitsstörung!) erlebt, solange alle seine Bedürfnisse erfüllt werden.
Zwangsläufig ermöglicht dies dem Säugling aber auch, im Falle von Versagung, alle resultierenden eigenen negativen Impulse wie z. B. Aggression und zerstörerische Absichten projektiv der Mutter zuzuordnen und als einen bedrohlichen Teil vom ICH abzuspalten. Das mütterliche (Teil-) Objekt (des eigenen SELBST) wird also entweder idealisierend als nur gut oder in archaischer Wut als nur böse angesehen (s. spätere Borderline-Störung). Dies hat zur Folge, dass alle eigenen negativen Impulse so erlebt werden, als gingen sie von der Mutter aus und als würde der Säugling von ihr verfolgt. Kann nun dieser Entwicklungsschritt nicht befriedigend bearbeitet und überwunden werden, kommt es zu einer seelischen Fixierung in dieser Position.
Im günstigsten Fall finden wir hier später den etwas scheuen, distanzierten und kühlen Analysten, den Wissenschaftler, der Emotionen vermeidet, sein Leben an Zahlen und Fakten orientiert und dessen Lieblingsbeziehung zu seinem Computer besteht, weil er diesen sicher im Griff hat und der ihm selten Kotrollverlust zumutet.
Im ungünstigeren Fall resultiert dann ein Erleben der Umwelt ganz allgemein und insbesondere die Interpretation einer real (also keinesfalls wahnhaft eingebildeten!) gefährlichen Situation wie jetzt in der Corona-Pandemie als existenziell bedrohlich – und eben nicht relativ, wie dies z. B. aus Infektionszahlen, Verdoppelungszahlen, Reproduktionszahlen und der Todesrate objektiv zu entnehmen wäre, sondern absolut. Dabei fühlt er sich in den Möglichkeiten, reagieren zu können, ebenso hilflos wie auf sich allein gestellt und glaubt, nicht nur niemandem trauen zu können (mangelndes Urvertrauen), sondern vielmehr von allen belogen und betrogen zu werden.
Und natürlich resultiert diese innere Haltung nicht allein aus Fixierungen auf dieser Stufe der seelischen Entwicklung. 2 % der Bevölkerung tragen in sich eine genetische Anlage zur Schizophrenie, deren Ausbruch oft nur eine Frage der Zeit oder eines destabilisierenden Anlasses ist und sich im Alltag beispielsweise in der Neigung zu magischem Denken, Okkultismus, Esoterik zeigt. Und auch Menschen, die in ihrem Leben oft Zurücksetzungen, Bedrohungen oder Getäuschtwerden erfahren mussten, tatsächlich also Opfer sind, finden sich ebenso in dieser Position wie jene, die eigenes Versagen in ihrer Biografie jetzt zu ihrer Entlastung projektiv auf andere verschieben müssen.
Und es ist auch dann nur allzu verlockend, aus dem Gefühl des nicht ausreichend Gewürdigtwerdens, dem unbefriedigten Geltungsbedürfnis dadurch auszuweichen, dass man die Idee eines Spezialwissens entwickelt, einer (Verschwörungs-)Theorie, ein Wissen dessen, wie die Dinge wirklich sind, was aber dann nur wenige Eingeweihte, Erleuchtete („Illuminati“) besitzen im Gegensatz zu einer dummen duldsamen Masse.
Leicht zu verstehen, dass diese Position ebenso ängstliche Distanz wie Aggression auslösen kann, obwohl da viele die durch die Kontaktsperre erzwungene Vereinzelung und Einsamkeit vielleicht sogar genießen. Ein guter Bekannter drückte dies zuletzt so aus: „Wir werden doch wieder mal von allen verarscht!“ Das macht deutlich, wie nahe diese Menschen dann auch Verschwörungstheorien stehen und wie groß die Bereitschaft ist, logischen Erklärungen weniger zu trauen als einem kindhaft magischen Denken, das in der Reaktion einzig dem Lust- und Unlustprinzip zu folgen bereit ist. Neurobiologisch betrachtet muss man ergänzen: Die im limbischen System verankerten emotionalen Vorgänge steuern unser Denken und nicht umgekehrt – das macht es fast unmöglich, auf kognitivem Weg und erst recht mit Beeinflussung durch von außen kommende Logik an dieser Haltung irgendetwas zu verändern – dies gilt auch für die folgenden Varianten B, C und F.
Dies macht – wie bei der Borderline-Störung – sogar möglich, dass Menschen widersinnigerweise dabei auch ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen (Corona-Party). Und das macht auch deutlich, dass bei einer unbewusst anhaltenden Spaltung der Beziehungsobjekte das eigene ICH als gut und schutzbedürftig gesehen wird, die anderen (als Verkörperung der „bösen Mutter“) immer als bedrohlich, böswillig, unglaubwürdig betrachtet und mit starken Hassgefühlen zumindest verbal bekämpft werden müssen. Der Blick in SocialMedia macht dies sofort deutlich, wenn auch vor persönlichen Bedrohungen nicht zurückgeschreckt wird.
Und es muss schon an dieser Stelle erwähnt werden: Wer schon die Aufgaben dieses ersten Entwicklungsschrittes nicht erfolgreich lösen konnte, nimmt die im Inneren fixierten belastenden Anteile mit in den nächsten Entwicklungsschritt. Das bedeutet, dass alle nachfolgenden Entwicklungsschritte ebenfalls nicht vollständig erfolgreich gelöst werden können.
Variante B: Der Erwachsene hat als Kind eine depressive (orale) Fixierung (Freud) erfahren, nimmt also eine depressive Position ein. Diese wird dann möglich, wenn der Säugling die Schwelle zur paranoiden Phase der Entwicklung überwinden konnte und in eine dyadische Beziehung mit der Mutter eintritt, die er jetzt als eine selbstständige Person erleben kann, die sowohl zugewandte gute Seiten wie auch versagende Aspekte verkörpert. Zu der Wut und Aggression, mit der der Säugling gierig „verschlingend“ nach der Mutter(-Brust) greift und die der Säugling jetzt durchaus als zu sich selbst gehörend empfindet, gesellt sich nun zum einen ein Gefühl von Schuld und Gewissensnot, sobald der Säugling auch wieder Zuwendung empfängt, zum anderem aber auch Angst, dass die Mutter in einer Racheaktion wegen der Aggression des Säuglings sich diesem anhaltend entziehen könnte, was Impulse permanenter Wiedergutmachungswünsche beim Säugling auslöst. Wird der Säugling nun in dieser Phase an der seelischen Weiterentwicklung gehindert und können die Aufgaben dieser Entwicklungsphase nicht befriedigend erledigt werden, so kommt es hier zu einer Fixierung, die ihre Folgen hat:
Der Erwachsene wird zum einen in gewisser Weise abhängig. Er braucht immer eine Person (Partner) oder eine ihn versorgende, ihn an die Hand nehmende und den Weg weisende Institution („Vater Staat“- z. B. in Form der jetzt angebotenen unterschiedlichen wirtschaftlichen Unterstützungen). Er unterdrückt eigene aggressive Impulse und sublimiert seine Schuldgefühle in allseitige Hilfsbereitschaft (helfende Berufe, Helfersyndrom). Jede Art von Trennung, selbst jede Art von Individuation wird mit Betroffenheit, Bedauern und mit Trauer erlebt.
Aus dieser depressiven Position heraus ist verständlich, dass derart strukturierte Menschen in gemeinschaftlichem Sinne sich bereitwillig staatlichen Anordnungen unterordnen und die ersten sind, die ihre Solidarität, Unterstützung und Hilfe anderen Bedürftigen zu Verfügung stellen, andererseits aber auch Sorge haben um das eigene Versorgtwerden. Sie sind – weil das innere Kind sich eben nicht durch Logik beruhigen lässt – in ihrer hauptsächlich oralen Bedürftigkeit des Versorgtwerdens bei den Ersten, die unabhängig von objektiver Bedrohung nach einem staatlichen Rettungsschirm rufen und oft die dankbaren Empfänger jeder Unterstützung. So mancher, der in der Vergangenheit auch ohne regelmäßiges Einkommen durchaus mehrere Wochen im Jahr Urlaub machen konnte, sieht plötzlich schon nach wenigen Wochen seine wirtschaftliche Existenz genauso bedroht wie seine seelische, wenn verordnete Kontaktsperren die Wege außerhalb der Kernfamilie verschließen, die auch bisher schon nicht gerade täglich gegangen worden sind, wie z. B. der Besuch von Kindern und Enkeln bei den Großeltern und umgekehrt.
Und sie waren die ersten bei Hamsterkäufen (captativ-aggressives Bemächtigen der Mutterbrust) und standen mit ängstlich klopfendem Herzen vor dem leeren Nudelregal (die leere bzw. sich verweigernde Mutterbrust), an denen andere ihnen zuvorgekommen waren. Und sie reagierten mit großer Trauer auf Kontaktsperren, die sie in ihrem Beziehungsgefüge zu anderen Menschen behinderten.
Was dabei beide Varianten, den schizoidparanoiden Typus und den depressiven Typus verbindet, ist die Fixierung auf der Stufe absoluter Abhängigkeit mit Gefühlen von existenzieller Bedrohung und Hilflosigkeit. In ersterem Fall gewinnen destruktiv aggressive Impulse, aber auch der Wunsch nach schützender Distanz die Oberhand, während der depressive Typus eher Verluste befürchtet und sie dann auch betrauert. Vereinfacht könnte man sagen: Der Schizoide liebt die erzwungene Einsamkeit, fühlt sich aber bedroht und belogen von dem, der sie ihm zumutet, der Depressive betrauert den Verlust sozialer Kontakte, ist aber vertrauensvoll dem zugeneigt, der sie ihm zumutet und ihn damit schützt. Beide also blicken auf die gleiche Situation mit unterschiedlichen Augen und das jeweilige innere Kind bewertet nicht nach Logik, sondern nach dem Gefühl jeweils anderer tief sitzender Ängste.
Variante C: Der Erwachsene hat als Kind eine Prägung erfahren, die nach Freud als „anal“ bezeichnet wird. In dieser Entwicklungsphase gilt also der „autoerotische Partialtrieb“ nicht mehr dem Mund als (orale) erogene Zone, sondern – nach Freuds Libido-Theorie – der Analregion. Das Kleinkind entdeckt in dieser Zeit das eigene ICH, dass etwas will oder nicht will (z. B. die Kontrolle behalten über die eigenen Ausscheidungen, festhalten und loslassen) und lehnt sich trotzig gegen den Willen der Eltern auf, denen es in dieser Zeit aber nicht nur um Sauberkeitserziehung geht, sondern überhaupt um Regeln, Normen und Verbote. In dieser Zeit beginnt das Kind, sich aggressiv um Autonomie und Selbstbestimmung zu bemühen und entwickelt in der Auseinandersetzung mit den maßgeblichen Bezugspersonen sein ÜBER-ICH.
In einer Zeit der von einer Autorität (Vater Staat) erzwungenen Einschränkungen erleben wir den Erwachsenen – oft genug in ein und derselben Person – einerseits alle Ge- und Verbote zwanghaft befolgend und mit Argusaugen kontrollierend, ob auch alle anderen die gegebenen Anweisungen befolgen, andererseits aber genau dagegen aufbegehrend. Nichts macht ihm mehr Angst als das Gefühl von Ohnmacht in einer Situation, die nicht kontrollierbar und deren Ende nicht absehbar ist. Er ist also auch derjenige, der beharrlich auf einem Fahrplan für eine Lockerung bestand, vor der er zwar einerseits in seinem Sicherheitsbedürfnis Angst hat und von der er vernünftigerweise weiß, dass ein Fahrplan ohne mögliche Zeitangaben völlig unsinnig ist, der Unklarheit und mangelnde Struktur aber nicht aushalten kann. Andererseits finden wir hier aber auch alle möglichen Formen trotziger Auflehnung derer, die nicht bereit sind, nur irgendein persönliches Freiheitsrecht einbüßen zu wollen.
Variante D: Der Erwachsene hat seine Fixierung als Kind in der ödipalen Phase erhalten. Mit diesem Begriff wollte Freud auf eine Figur der griechischen Mythologie hinweisen: Ödipus, der seinen Vater tötet und seine Mutter heiratet. Hintergrund für diese Analogie war die Beobachtung, dass Kinder in dieser Entwicklungsphase beginnen, um den gegengeschlechtlichen Elternteil zu werben und mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil zu rivalisieren. Bezogen auf unser Thema ist dabei ein Aspekt besonders wichtig: Unweigerlich muss ein Kind seine realistische Rolle im familiären Gefüge (später in der Gesellschaft) zunächst verkennen. Das Kind muss in gewisser Weise den Erwachsenen „spielen“ und in dieser Dreiecksinszenierung sehr viel kreatives manipulatives Geschick entwickeln – umso mehr, als es in manchen Familien von den Eltern oft insofern als Partnerersatz missbraucht wird, also manches Mädchen für den in der Partnerschaft frustrierten Vater zur kleinen Prinzessin wird und mancher Junge zu Mutters tapferem Ritter. Eine Rollenübernahme, die sie natürlich nie wirklich ausfüllen können, wofür sie aber unverhältnismäßig Gratifikationen erhalten und ihnen so manches nachgesehen wird.
Und diese angemaßten Rollen spielen sie, die hier fixierten histrionischen Persönlichkeiten, als „große Kinder“ auch in Krisenzeiten besonders gut: Sie haben als erste besonders kreative (auch online)Lösungsideen – ich denke an die vielen durchaus auch hilfreichen Ideen, mit denen viele Unternehmer und insbesondere Kunstschaffende Wege fanden, ihre Leistungen und Angebote an Kunden und Publikum zu bringen und so selbst zu überleben, oft aber auch damit anderen zu helfen und Mut zu machen. Sie können aber auch auf jeder Ebene ihr Umfeld nach Belieben manipulieren. So ist auch für den Beobachter der momentanen Diskussion um angebliche oder auch wirkliche Ungleichbehandlung verschiedener Personen, Gruppen und Lebensbereiche (unterschiedliche Maßstäbe und Geschwindigkeit bei Lockerungen oder erneuten Einschränkungen) nur schwer zu durchschauen, dass hier oft lediglich eine Projektion dessen zum Ausdruck kommt, was die Klagenden an eigener Bevorzugung eifersüchtig vermissen. Die Vorspiegelung beispielsweise, dass es für das Wohlergehen kleiner Kinder ein Mehr an Öffnungen geben müsse, verschleiert erfolgreich, dass es vielmehr um ein Mehr an Bequemlichkeit der klagenden Eltern geht.
Mit besonderer Theatralik spielen sie so ihre jeweilige Rolle – gleich, ob als Held oder als Opfer – wie sie auch die Aufrechterhaltung aller gewohnten Gratifikationen mit großer Selbstbezogenheit aggressiv und egoistisch einfordern, ohne dabei in besonderem Maße über Eigenverantwortung nachzudenken. An so manchem realistischen Sachverhalt vorbei ist ihnen das Motto des „Everything goes“ auf den Leib geschrieben und ihr großes Geltungsbedürfnis und Darstellungsvermögen sichert ihnen einen Platz in jeder Talkshow einer Gesellschaft, die immer weniger gern sachbezogen diskutiert und informiert werden will, als dass sie sich von personenbezogenem Charisma und großem Unterhaltungswert – und zunehmend auch von dem Bedürfnis, sich beruhigen zu lassen – inspirieren lässt.
Variante E: Hier wäre eine Persönlichkeit beschrieben, die in einer Art ewiger Pubertät fixiert ist. Dies geschieht insofern, als dass es eine Umwelt gibt, die dem Betreffenden erlaubt, in einer Position zu verharren, die eigentlich dem frühen Jugendalter vorbehalten ist und in der es neben der Orientierung bezüglich eigener Sexualität einfach auch darum geht, alle aus der Kindheit mitgenommenen Normen und Regeln, die Orientierungen an Eltern, Verwandten, Erziehern und Lehrern auf den Prüfstand zu stellen, ja grundsätzlich infrage zu stellen und sich eine eigene Werteorientierung zu bilden.
Wenn nun aber der Satz gilt: „Pubertät ist die Zeit, in der die Eltern schwierig werden!“, dann muss erst recht gelten: Wie schwierig ist es erst, erwachsen zu werden in einer Gesellschaft, in der selbst die Eltern oft einfach als ewig Jugendliche auftreten und mit ihren Kindern auf Augenhöhe kameradschaftlich umgehen wollen?
So muss dann nicht verwundern – und das ist eher ein soziologisches als tiefenpsychologisches Problem – dass vor der inneren Baustelle zum reifen Denken das Warnschild: „Betreten wegen Umbau auf eigene Gefahr“ niemals weggeräumt wird.
Und so benehmen sich Erwachsene dann auch: Sie rebellieren gegen alles und jeden buchstäblich nach Lust und Laune und es scheint in unserer Gesellschaft auch niemanden zu geben, der sie dabei in ihrer Partylaune stören möchte.
Variante F: Hier werden Erwachsene beschrieben, deren Prägung eine narzisstische Persönlichkeit zur Folge hat, und ganz allgemein geht die Tiefenpsychologie davon aus, dass es sich um eine frühe Störung handeln muss – mit der schon genannten Folge, dass auch alle nachfolgenden Entwicklungsstufen mit ihren speziellen Aufgaben nicht befriedigend durchlebt und gelöst werden konnten. Und tatsächlich präsentieren narzisstische Menschen ein Sammelbecken aller Phänomene, wie sie in den Varianten B-E sowohl an positiven Eigenschaften wie negativen Erscheinungsbildern beschrieben worden sind.
Eigentlich hätten also derartige strukturelle Phänomene in der Variante A beschrieben werden und damit der Theorie folgen müssen, wonach frühe Beeinträchtigung durch fehlende Zuwendung den Säugling dazu gebracht haben soll, den immer wieder frustrierenden Versuch, Liebe im Austausch mit der Mutter zu erfahren, einzustellen. Und sich mit allen seinen Bedürfnissen nur noch dem eigenen SELBST zuzuwenden unter Beibehaltung des Omnipotenz-Gefühls, allerdings ausschließlich bezogen auf die eigene Person. Aus dem unerfüllten Wunsch des Säuglings also, es möge in der Mutter ein Gegenüber geben, das ihm spiegelt: „Ja, du bist gut!“ woraus sich dann ein verlässliches Gefühl des eigenen Wertes hätte entwickeln sollen, muss nun in einem Schutz- und Abwehrvorgang ein Rückzug vom mütterlichen Objekt und eine Zuwendung zum SELBST in Form von Selbstliebe statt Objektliebe werden.
Das würde erklären, weshalb im tiefsten Inneren einer narzisstischen Persönlichkeit immer ein sehr schwaches SELBST zu finden ist, das dem Betreffenden ein Gefühl von Leere, ein ständiges Pendeln im Lebensgefühl zwischen Nichts und Allmacht vermittelt. Wenn gilt, dass unser ICH sich erfährt in der Spiegelung eines DU, wird schnell klar: Ohne das spiegelnde DU kann es letztlich nicht wirklich eine innere Ablösung des Säuglings und ein Entstehen eines SELBST geben, das auf sich blicken und sagen kann: „Das bin ICH“. Entgegen allem äußeren Anschein haben narzisstische Menschen also eine ICH-Schwäche – ein Etikettenschwindel insofern also, als dass im Inneren nicht zu finden ist, was das äußere Etikett der Selbstverliebtheit verspricht.
Eine neuere Theorie besagt, dass mangelnde elterliche emotionale Zuwendung oft mit einem hohen Maß an Verwöhnung zu kompensieren versucht wird. Hier ähneln dann die Prinzen- und Prinzessinnenrollen der Kinder und ihr resultierendes Selbstverständnis sehr stark dem wie zuvor bei den ödipal geprägten histrionischen Persönlichkeiten Beschriebenen. Und auch in ihrem Verhalten ähneln sich beide Strukturen sehr stark – man könnte sagen: Es ist drin im Inneren, was außen draufsteht: eine wirklich tiefgehende Überzeugung eigener Großartigkeit.
Im Erwachsenenverhalten mischen sich dabei tatsächlich Phänomene, wie sie bei allen anderen Fixierungen bereits beschrieben worden sind: (Pseudo-)Unabhängigkeit, Größen- und Allmachtsfantasien bis hin zu magischem Denken und Realitätsverkennung, mangelndes Einfühlungsvermögen in andere, die ja eben nicht als selbstständige Personen, sondern nur als Spiegel des eigenen ICH erlebt werden, ein Schwanken in zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Objektidealisierung und -abwertung, Selbstverliebtheit und Überheblichkeit verbunden mit einem grandiosen Gefühl eigener Wichtigkeit, Arroganz bezüglich eigenen Erfolgs, Leistung, Macht, Talent, Einzigartigkeit, Schönheit. Und es zeigt sich meist auch ein antisoziales ausbeuterisches Verhalten anderen gegenüber, die man glaubt, auch beliebig manipulieren zu können. Und tatsächlich sind diese Menschen oft sehr intelligent, erfolgreich und mächtig und vor allem: Sie sind in unserer Gesellschaft mittlerweile so zahlreich, dass man ihr Verhalten schon deshalb kaum noch als pathologische Abweichung erkennen kann, muss sich doch jede Pathologie immer durch Unterscheidung von der Norm erkennen lassen und nicht selbst die Norm abbilden.
Menschen mit dieser Persönlichkeitsstruktur sind deshalb auch in vielfältiger Form jetzt wesentliche Antreiber des Geschehens in der Lockerungsphase der CoronaPandemie: Die besonders leistungsfähigen, ehrgeizigen, erfolgreichen und mächtigen und zum Teil auch tatsächlich intelligenten und talentierten – wir nennen sie hier jetzt einmal: „Primär-Narzissten“ – finden sich an der Spitze einer gesellschaftlichen Reaktion auf eine akute Gefahr.
Weil sie schon als Säugling gelernt haben, sich bei Bedrohung zurückzuziehen und für sich zu sorgen, und weil sie danach auch lernen mussten, diszipliniert und faktenorientiert zu handeln, sich in egozentrischer Positionierung durchzusetzen – zur Not auch durch Manipulation anderer – waren und sind sie jetzt diejenigen in der Politik, die auch – denn ihr ÜBER-ICH hat in der Kindheit durchaus unterschiedliches Sozialverhalten gelernt, aber nicht immer auch gefühlsmäßig erfasst und integriert – zum Schutze anderer in kürzester Zeit eine ganze Gesellschaft neu organisieren: Shutdown, Lockdown und dann wieder Lockerungen und erneute Einschränkungen werden angeordnet und durchgesetzt und sehr schnell auch die unterschiedlichsten Lösungs- und Hilfsprogramme entwickelt und gestartet.
Dabei „spielten“ auch zunächst die nicht ganz so erfolgreichen „Sekundär-Narzissten“ eine wichtige Rolle: Sie waren jetzt die, welche sich im Abglanz ihrer großen Führer und Idole mitsonnen wollen – also spielten sie jetzt mit, um ihre Teilhabe an Macht und Erfolg zu sichern. Dies ist der Grund dafür, dass die erste Phase in der Bewältigung der Corona-Pandemie in Deutschland so erfolgreich war: Alle, die ängstlich Abhängigen wie die ängstlich Vermeidenden und Misstrauischen, die zwanghaft Angepassten wie die Trotzigen, ja sogar die etwas schillernden Persönlichkeiten in ihrer Kreativität spielten zunächst mit.
Und dann begann das Chaos!
Aber dann kam schon bei den ersten Schritten in der folgenden Lockerungsphase, was am Ende jeder sekundär-narzisstischen Idealisierung immer kommen muss: der Durchbruch des sog. Koryphäenkiller-Syndroms – der Denkmal-Sturz. Diejenigen, die gestern noch als Retter in der Krise auf das Schild gehoben wurden – die Wissenschaftler und vorsichtigen Politiker – stehen plötzlich am Pranger, denn auf Dauer wird das Aufschauen- und Dankbar-sein-Müssen für viele zu erniedrigend, setzt es doch das eigene Geltungsbedürfnis, persönliche Wichtigkeit und Machtanspruch außer Kraft.
Wer also glaubte, der Lockerungsprozess in den Sommermonaten bezüglich persönlicher Freiheiten, Aktivitäten im Berufs- und Wirtschaftsleben, Freizeit und Sport, Öffnungen von Kindergärten und Schulen, Gastronomie und Hotels … könnte ebenso einer wissenschaftlich fundierten Logik folgen, wie dies in der ersten Phase allgemeiner Abschottung noch unter dem Eindruck eines noch unberechenbaren, hoch ansteckenden und gefährlichen Virus, gegen den es noch keine Medikamente und keinen Impfstoff gibt, der Fall war, sieht sich jetzt getäuscht.
Zu den zu Beginn meist nachvollziehbaren Opfern der Pandemie, die anfangs einfach Unterstützung forderten und in großem Umfang auch zugesagt erhielten, gesellten sich bald immer mehr Menschen und Gruppen, die lautstark und manchmal auch handgreiflich auf ihre persönlichen Freiheitsrechte pochend im Grunde – das Leben mit einem Wunschkonzert verwechselnd – nicht weniger wollen als eine Rückkehr in ihr altes Leben mit allen seinen Ansprüchen auf umfassendes Wohlergehen – sofort, also einem reaktivierten kindlich kurzen Spannungsbogen folgend – oder zumindest einen Fahrplan fordernd, der ihnen Perspektiven dazu eröffnet – einen Zeitplan, bei dem sich kein Politiker getraute, Stationen oder Abfahrtszeiten zu nennen, weil er/sie sich dann hätte zu Prioritäten bekennen müssen und zudem den zeitlichen Ablauf der Pandemie gar nicht wissen konnte und kann.
Unterstützung dabei erhielten die, die am lautesten protestieren von all jenen, die zunehmend aus der anfänglichen Schockstarre aufwachten: die Verschwörungstheoretiker, die aus der schon beschriebenen paranoiden misstrauischen Position heraus immer schon „meinten“, dass alles, was „die da oben“ behaupten, eine Lüge sei, eben eine Verschwörung, um eine weltweite Wirtschaftskrise entweder zu entfachen oder zu verschleiern, dass diese längst von der Politik zu einem dubiosen Eigennutz angezettelt schon stattfindet. Hinzu gesellten sich jene zwanghaft Strukturierten, bei denen jede Unübersichtlichkeit in Lebenssituationen wie dieser automatisch auch das Gefühl von Kontrollverlust erzeugt. Es meldeten sich die besonders Trotzigen unter den zwanghaft Strukturierten, denen jede Unterordnung eigener egoistischer Bedürfnisse unter ein Allgemeinwohl ein Gräuel ist, weil sie jene innere Entwicklungsphase noch nicht erreicht haben, in der sich ein gesundes ÜBER-ICH und Gewissenhaftigkeit konstituieren konnten. Sie haben einfach noch nicht gelernt, dass die eigene Freiheit dort endet, wo die Freiheit und das damit verbundene Recht auf Gesundheit und Leben des anderen beginnen.
Ein ICH, das in Selbstüberschätzung an die eigene Unverwundbarkeit glaubt, muss auch gar nicht darüber nachdenken, dass, wenn einer – man selbst! – infiziert ist, ein anderer angesteckt wird – zuletzt nicht nur das eigene Leben in Gefahr ist, sondern auch das anderer Menschen, und auch diejenigen, die im Fall eines überlasteten Gesundheitssystems am Ende in einer Triage über Leben und Tod entscheiden müssen, in eine unzumutbare Lage geraten könnten.
Es meldeten sich vielmehr jene histrionischen Persönlichkeiten, die „dieses Leben einfach nicht mehr aushalten“, weil grundsätzlich jede Begrenztheit des Lebens überhaupt abgewehrt werden muss, und sie meinten konkret damit schon nach wenigen Wochen so manches, was schon lange zuvor zu ihrem ganz normalen Leben gehörte. Und sie schicken dabei mit manipulativer Aggression nicht etwa das eigene Bedürfnis nach einträglicher, sinnstiftender und selbstbestätigender Arbeit und Freizeit, sondern die angeblichen Bedürfnisse von den Kindern nach Spielkameraden und später Bildung vor, wogegen zumindest die Kleinkinder vielleicht erstmals in ihrem Leben in der unfreiwilligen Familienklausur so etwas wie familiäre nahe Beziehung und Geborgenheit erfuhren.
Und die Impulse narzisstischer Bedürftigkeit, die nicht mehr aushaltbare narzisstische Kränkung, die jede Situation der Ohnmacht mit sich bringt, die all jene verbindet, sorgte oft dafür, dass plötzlich jeder Einzelne und jede Gruppierung wichtig sein wollte und will. Und das Besondere daran ist, das nicht alle einfach „wichtig“ im Sinne von ernst genommen und angenommen sein wollen, sondern wichtiger als andere, ganz einfach „systemrelevant“ sein wollen, was zu einem spaltenden neidvollen Rivalisieren innerhalb der Gesellschaft führt.
Leben wird zum Überlebenskampf!
Und dieser Wettstreit mit ausgefahrenen Ellbogen um die „Poleposition“ beim anstehenden Neustart aus dem erzwungenen Dornröschenschlaf wurde schnell zum Wettkampf jeder gegen jeden und übertrug sich zunehmend auch selbst auf zuvor besonnene Politiker, die sich zunächst darin ziemlich einig waren, dass der Schutz aller Menschen in diesem Land vor Krankheit und Tod zumindest ethischen Vorrang vor allen anderen Interessen haben sollte. Leben ohne Freiheit ist immerhin möglich, Freiheit ohne Leben allerdings nicht!
Übererregung infolge unverarbeiteter aufgestauter (früherer) Konflikte, Polarisierung und Radikalisierung breiteten sich scheinbar unaufhaltsam aus. Plötzlich begannen auch Politiker unter dem Druck der medialen Öffentlichkeit, die jeden Aufmüpfigen wie einen Freiheitskämpfer feiert und getrieben von verschiedenen Lobbyisten zum Erhalt möglichst vieler Wählerschichten, zu wetteifern, wer wohl die Nase vorne haben könnte bei möglichst vielen und großzügigen Lockerungen unter dem Deckmantel des Arguments: Nicht nur das Virus ist gefährlich, sondern auch die Folgen seiner Bekämpfung.
„Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig.“ Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gäbe, dann sei das die Würde des Menschen. Aber: „Sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“ – hat Wolfgang Schäuble dem Tagesspiegel gesagt.
„Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.“ (Boris Palmer, Grüne)
Dagegen drohten die abwägenden Worte jener Politiker, die, orientiert an den sich weiter entwickelnden wissenschaftlichen Erkenntnissen, noch immer zu Vorsicht mahnten und zu allseitigem Bemühen aufforderten, die unterschiedlichen Interessen aller Menschen und Gruppierungen in unserer Gesellschaft, der Jungen und Alten, Gesunden und Kranken, Mehrheiten und Minderheiten in ihrem Anspruch auf Leben und Gesundheit ,aber auch Freiheit und wirtschaftlichem Wohlergehen miteinander in Einklang zu bringen, unterzugehen in dem, was die Bundeskanzlerin zu Recht mit dem Begriff zum Ausdruck gebracht hat: „Öffnungs-Diskussions-Orgie“.
Eine Kollegin aus unserer Balintgruppe hat es sehr treffend zum Ausdruck gebracht: „Verlieren die meisten nun die Nerven, weil sie mit der Situation nicht fertigwerden? Die meisten der unter 45-Jährigen haben noch nie gehorchen müssen – na ja, außer ein paar ‚Ossis‘ – haben sie immer alles bekommen und es wurde ihnen eingeredet, sie seien etwas Besonderes. Disziplin, Gehorsam und Gemeinsinn sind diesen Leuten unbekannt und deswegen brechen sie aus – rücksichtslos mit dauerhaft schlechten Folgen für die Allgemeinheit. Jeder ist sich selbst der Nächste.“
Und ich möchte ergänzen: Viele schimpfen auf einen „Nanny-Staat“ und meinen damit eine angeblich umfassende Bevormundung. Wer aber nicht bevormundet werden will, muss erwachsen werden, muss kindliche Verhaltensmuster, die er/sie aus kindlichen Prägungen erfahren hat – wenn nötig mit therapeutischer Hilfe – überwinden lernen, Verantwortung für das eigene Leben und sein soziales Umfeld übernehmen, lernen, Wunsch und Wirklichkeit zu unterscheiden und dabei Frustrationstoleranz zu entwickeln gegenüber Begrenzungen menschlicher Wünsche und all den Einschränkungen und Bedrohungen, ja der Endlichkeit menschlichen Lebens überhaupt, seitdem es Menschen gibt.
Wenn viele religiöse Fundamentalisten glauben, die Corona-Pandemie sei eine Strafe Gottes, so möchte ich eher annehmen, dass auch dieses überraschende Naturereignis wie schon so vieles in der Menschheitsgeschichte auch als Aufruf genutzt werden kann, unser bisheriges Denken und Handeln auf den Prüfstand zu stellen und letztlich als Einzelne wie als Gesellschaft auch daran zu wachsen:
Eine bessere Welt ist möglich!
Wie das geht? Die „ganz Alten“ unter uns – die Risikogruppe, die manche gerne wegsperren möchten – könnten uns erzählen, wie das vor 75 Jahren im Mai 1945 war, als die Luftschutzbunker sich ein letztes Mal öffneten, die Überlebenden aus den Unterständen und Gräben der Schlachtfelder herauskrochen, die Flüchtlinge die zugefrorene Ostsee hinter sich hatten und später die Kriegsgefangenen „soweit die Füße tragen“ bis aus dem entferntesten Sibirien wieder zu Hause ankamen. Wo sie alles in Schutt und Asche vorfanden, was ihnen je etwas bedeutet hatte: Viele Angehörige waren tot, „schwerbeschädigt“ oder in alle Winde zerstreut. Angst, dass ihnen zu Hause die Decke auf den Kopf fällt? Ja sicher – aber nicht wegen „Lagerkoller“! Und sie waren froh, wenn sie überhaupt wieder ein dichtes Dach über dem Kopf hatten. Ärger, weil in den Regalen ein paar Nudelsorten oder Toilettenpapier fehlten und man dafür vor dem Supermarkt vielleicht einmal ein paar Minuten anstehen musste? Sie standen oft tagelang an, wofür viele von uns längst zu beten verlernt haben: „Unser täglich Brot gib uns heute“ – und ja auch: „Vergib uns unsere Schuld!“ Klagen über unterbrochene Erwerbsbiografien und Karrieren? Klagen über fehlende Fremd-Betreuungsmöglichkeiten für die eigenen Kinder? Sich vom Partner trennen, weil die „Schmetterlinge im Bauch nicht mehr fliegen“? Wut über die „Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte“ – nach zwölf Jahren Diktatur? Enttäuschung über eingeschränkte Freizeitmöglichkeiten?
Die Menschen im Mai 1945 waren froh, endlich wieder beisammen sein zu dürfen, sammelten mit einem trotzigen: „Hurra, wir leben noch!“ alles, was eben nicht mehr niet- und nagelfest war zusammen, bauten – ohne dass ihnen jemand dafür (nach sechs Jahren Krieg und nicht nach sechs Wochen Corona) einen Fahrplan hätte vorlegen und Perspektiven eröffnen können, einfach in einer unerschütterlichen Hoffnung auf die Zukunft – dieses Land wieder auf und gründeten ein Gesellschaftssystem, um das uns die ganze Welt weit mehr beneidet als so mancher von uns selbst.
Und es ist auch jetzt so, wie es immer war!
Menschen entscheiden in einem großen Umfang selbst über ihre Maßstäbe, woran sie ihr Gefühl für Glück und Unglück in ihrem Leben festmachen wollen. Und während ich diese Betrachtungen Ende Oktober 2020 versuche, der Entwicklung der letzten Monate anzupassen, droht schon ein erneuter Lockdown, den wir dann nicht unwesentlich auch denjenigen verdanken, die ihr individuelles und exzentrisches Glück an allzu viele und zu frühe persönliche Freiheiten und Freizeitfreuden hängen wollten.
Dr. Joachim Stoffel
Heilpraktiker für Psychotherapie, Dozent,
Team- und Einzelberatung, Balintgruppen, Konsiliardienst, Sonthofen
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