Entwicklungen in der Verhaltenstherapie – Teil 4: Kritik und Fazit
Sie haben in den letzten drei Ausgaben dieses Magazins einiges über die Geschichte der Verhaltenstherapie (VT), ihre Methoden und über neue Entwicklungen lesen können. Auch wenn diese Faktoren einleuchten, so, wie ich sie beschrieben habe, gibt es doch Kritik sowohl von außen (Anthropologie, Theologie, Philosophie, Neurologie, Psychiatrie, Pädagogik) als auch von innen (tiefenpsychologische Verfahren, systemische Verfahren).
Der Mensch als Objekt
Eine sehr interessante Kritik kommt aus den Bereichen Philosophie und Theologie. Die Aussage lautet im Kern: Die Verhaltenstherapie macht den Menschen zum Objekt. Zum Objekt eines übergeordneten Inte-resses, übergeordneter Regeln, wie sie das Zusammenleben auf engem Raum eben erfordern. Das heißt, sie gibt vor, was richtiges Verhalten ist und dressiert ihn darauf wie einen pawlowschen Hund. Der Mensch aber ist das Subjekt seines eigenen Lebens wie auch der Natur. Richtig und falsch sind unangemessene, weil zeitabhängige Kriterien. Und es ist einfach nicht angebracht, es ist inhuman, Menschen abzurichten.
Die Antwort darauf lautet: Wir haben es mit Menschen zu tun, die selbst aus der Tiefe ihrer Persönlichkeit heraus mit einem Aspekt ihrer Art des Menschseins unzufrieden sind, weil sie diesen als hinderlich, schwierig, unangemessen empfinden und immer wieder darüber stolpern. Es wird kein Mensch zu einer VT gezwungen, die Gesetzeslage lässt so etwas nur in den sehr konkreten Fällen psychisch gestörter Mörder, Serienvergewaltiger, Gewalttäter zu, weil sie die Regeln des Zusammenlebens ignorieren und weil der Einzelne, der das nicht selber tun kann, auch geschützt werden muss.
Also haben wir es zu 99,9 % mit Menschen zu tun, die uns in gewisser Weise sagen: „Ich habe da eine unerwünschte Laune und kriege sie nicht weg. Können Sie mir sagen, was ich da tun kann?“
Reduktion
Eine Kritik aus der Psychologie lautet: VT reduziert den Menschen auf unerkennbare innerpsychische Prozesse, sie geht der Einfachheit halber von einer Black Box aus, über deren Inhalt wir nichts sagen können. Das reicht nicht. Ist Persönlichkeit die Folge von Lernen, Erziehung, unklarer Hirnchemie, Genen? In welchem Mischungsverhältnis? Ändert sich der Mensch? Darüber hinaus lässt sich das Ursache-Wirkungs-Verhältnis zwischen Lernen und Verhalten wissenschaftlich nicht belegen. Auch Zirkelschlüsse wie „Depression macht negative Gedanken, negative Gedanken machen Depression“ sind unaufgeklärt, das heißt, diese simplen Erklärungen über die Entstehung von Störungen sind wenig hilfreich.
Das stimmt. Aber „während die Tiefenpsychologen mit ihrem Urtrauma, dem Penisneid und dem Ödipuskomplex immer noch nach Ursachen graben, geben wir uns mit jedem schmutzigen, kleinen Erfolg zufrieden“ (Watzlawick, Beavin, Jackson, menschliche Kommunikation). Das ist natürlich keine angemessene Erwiderung auf die Kritik, zu pragmatisch, ein tieferes Verständnis des Menschen fehlt bis heute. Die Forschungsergebnisse der verschiedenen Disziplinen sind zu uneinheitlich und darü- ber hinaus wechselnd in den Jahrzehnten. Auf diese Weise können wir gewiss nicht erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Die Therapeuten der VT haben die Kritik durchaus gehört und darauf reagiert, indem sie die kognitive Wende eingeleitet haben, die sich ja nicht nur auf das Denken bezieht, sondern auch auf die Wahrnehmung und ihre Veränderungen sowie auf das Fühlen. Insofern trifft die Kritik durchaus die frühen, sozusagen pawlowschen Jahre der VT, die auf eine Konditionierung gezielt und am Ende doch nicht getroffen haben. Aus der Erkenntnis, dass die Konfrontationstherapien zwar keine Erklärung liefern, aber helfen, auch wenn wir nicht wissen, warum, entstand der Gedanke: jetzt erst recht. Lieber 10 bis 30 Stunden VT als eine große Psychoanalyse mit 300 Stunden und unzuverlässigem Erfolg. Professor Dr. Kurt Hahlweg formulierte es in einer Metaanalyse der Erfolge so: „Die Erfolge der Psychoanalyse liegen unter der Quote der Spontanremissionen.“ Dann doch lieber gleich etwas machen, was etwas aussichtsreicher ist.
Der Versuch einer schlüssigen Theorie zur Entstehung von Persönlichkeitsstörungen konnte nach etwa 50 Jahren der Suche als gescheitert betrachtet werden, die Tiefenpsychologen lieferten Theorie auf Theorie, die sich teilweise ausschlossen, teilweise absurd wirkten, und in diesen 50 Jahren, so sagten sich die Verhaltenstherapeuten, ist den Leidenden auch nicht geholfen worden. Dann greifen wir eben zu anderen Methoden. Dass dabei zunächst die relativ simplen Konfrontationstechniken herauskamen, liegt in der Geschichte von Entstehungen. Aber sie bewirken ja wenigsten das, was zu bewirken sie vorgeben.
Aversion
Ja, und dann die Achillesferse der VT: die Aversionstherapie. Da bekommen Menschen mit einem sozial unerwünschten Verhalten (Homosexualität, Oppositionsgeist, Drogenabhängigkeit, Gewalttätigkeit, je nach Stand der gesellschaftlichen Diskussion) eine ElektroKrampf-Therapie, je härter, desto besser! Bis an die Grenze des Machbaren und am Ende sind sie fremdgesteuerte, ängstliche (Schmerz konditionierte) Zombies. Filme wie „Clockwork Orange“ (1971) oder „Einer flog über das Kuckucksnest“ (1975), „Full Metal Jacket“ (1987), Programme wie MK Ultra (seit 1953, vielfach in Filmen verarbeitet) lassen die VT-orientierte Psychiatrie als den Angstgegner erscheinen, der sie damals ja auch war.
Und sie ließen das große, schöne Gegenprojekt der Forschungsarbeiten und EncounterGruppen im Esalen-Institut in Big Sur, Kalifornien (1962 ff., s. Wikipedia zu Esalen, eine Ansammlung großer Namen) in umso hoffnungsvollerem Licht erscheinen. Wenn man diesen Namen nachforscht, in loser Reihenfolge und unter vielen anderen: Fritz Perls (Gestalttherapie), Carl Rogers (Gesprächstherapie), Virginia Satir (Familientherapie), Ida Rolf (Körpertherapie), Abraham Maslow (Bedürfnispyramide), Ronald D. Laing (Schizophrenie-Forschung), John C. Lilly (Delphine), Moshé Feldenkrais (Therapie der Bewegungen), Alexander Lowen (Bioenergetik), Gregory Bateson (Anthropologe und Sozialwissenschaftler), so stellt man recht bald fest, dass die Psychotherapie von den tiefenpsychologischen Wurzeln der VT lange Zeit beeinflusst war und bis heute ist.
Die VT musste also, um nicht weiterhin im Verdacht zu stehen, auf unethische Weise menschliche Maschinen zu produzieren, eine Veränderung bewerkstelligen, sie musste runter von der Autobahn. Die Aversionstherapien spielen im Spektrum der verhaltenstherapeutischen Verfahren heute nur noch eine untergeordnete und weitgehend historische Rolle. Aufgearbeitet ist sie noch nicht.
Adaption
Konfrontationstherapie, operante Verfahren, Kognitionstherapien, so schrieb ich im zweiten Teil dieser kleinen Serie, sind die drei großen Richtungen der VT. Sie gingen ineinander über, haben sich vermischt, brachten neue Ideen zur Welt. Die Konfrontationsmethoden hatten sich durch die Aversionstherapie ziemlich weit ins Aus geschossen, aber am Ende läuft es auf die bis heute wirksamste Methode der VT, die systematische Desensibilisierung hinaus: die Selbstkontrolle. Hätte ich eine Angststörung, ich würde die Desensibilisierung wählen. Operante Verfahren vergeben Token als Belohnung, Geld für Wohlverhalten, aber am Ende läuft es auf das Erlernen neuer Bewältigungsstrategien hinaus: die Selbstverantwortung. Kognitionstherapien hoffen im weitesten Sinne auf Einsicht, aber am Ende läuft es auf ein tieferes Verständnis der Persönlichkeit hinaus: die Transzendenz. Von der Selbstkontrolle über die Selbstverantwortung zur Transzendenz, das ist keine schlechte Entwicklung.
Die DBT war die erste VT, die buddhistische Meditationstechniken in ihr Angebot an Maßnahmen übernommen hat. Sie alle haben nach wie vor das Ziel, dem Individuum eine freiere Verfügbarkeit seines Potenzials zu ermöglichen, aber hier spielen auch die angewandten Sozialwissenschaften eine Rolle. Und es gibt viele Menschen, denen mit der VT geholfen werden konnte. Alle drei Strategien werden bis heute in ihren humanen Erscheinungsformen praktiziert.
Nach wie vor gilt allerdings auch wie für alle anderen Therapiemethoden die Voraussetzung, dass es auf einen zur Empathie fähigen Therapeuten ankommt, der sehr wohl die Grenze zwischen sich und dem Patienten kennt und zu wahren weiß.
Das sind nicht alles nur Techniken, die auf eine Störung ausgerichtet sind. Es ist in erster Linie ein zwischenmenschlicher Kontakt. Und der kann gelingen, er kann aber auch misslingen und das ist dann, wie bei jeder Art von Zwischenmenschlichkeit, auch eine Frage der zwischenmenschlichen Übereinstimmung. Die Verhaltenstherapeuten kamen jedenfalls vom Olymp der Tiefenpsychologien herunter und sprachen mit den Menschen. Sie allesamt erklären, was sie tun, und dann tun sie es. Das ist viel.
Es war unvermeidlich, dass eines Tages die 3. Generation von Therapien auf uns zukommen würde: die systemischen Verfahren. Die Zahl der Leidenden wurde ja erstaunlicher Weise nicht weniger. Nicht mehr die Suche nach dem Urtrauma (1. Generation: Mama ist schuld), der Hinweis auf dysfunktionales Verhalten (2. Generation: Du bist selber schuld), nun ist es die fehlerhafte Kommunikation im System (3. Generation: die dysfunktionale Kommunikation).
Eines fehlt den meisten Therapieformen: der bereitwillige Zugang anzuerkennen, dass Menschen eben manchmal seltsam sind.
Ich habe das in Anlehnung an die Fernsehserie „Vikings“ das Floki-Phänomen genannt: Floki, der Schiffbauer, Floki, der Märchenerzähler, Floki, der Spinner. Er ist schon eine sehr schräge Gestalt. Der Rest des Wikingerclans aber, der mit ihm lebt und der das weiß, sagt sich: „Tja, so ist er halt, unser Floki; du musst dich ja nicht mit ihm anlegen. Und er baut die besten Boote.“ Und Freunde, Frau und Kind hat er auch.
Literatur
Die Literaturliste der Verhaltenstherapien ist mittlerweile sehr lang. Nach wie vor gilt mein Tipp für alle Studenten: Gehen Sie in den Buchladen Ihres Vertrauens und blättern Sie die Bücher aus dem Regal Verhaltenstherapie durch, lassen Sie sich inspirieren und nehmen Sie das Buch, was Ihnen am besten gefällt.
Ende der Serie über die VT
Thomas Schnura
Heilpraktiker,
Psychologe M. A.
Foto: ©Jeanette Dietl