Seelische Erste-Selbst-Hilfe: Das M-Power-Haus-Format
„Es gibt Zeiten, in denen wir keine Zeit verlieren sollten.“
In akuten seelischen Krisen wird unser Leben durcheinandergeschüttelt. Wir verlieren das Gefühl von Kontrolle und Ohnmacht überkommt uns. All unsere Sinne befinden sich in Alarmbereitschaft. Unsere Wahrnehmung, unsere Denkleistung und andere, eigentlich so selbstständige Funktionen haben nur ein Ziel: Unser seelisches Überleben zu sichern.
Sind wir körperlich in einem Ausnahmezustand, ist körperliche Erste Hilfe selbstverständlich, so gehört ein Erste-Hilfe-Kasten standardmäßig in jeden Pkw. Und noch immer ist es so, dass körperliche Beeinträchtigungen viel früher beachtet und versorgt werden als seelische Verletzungen. Die sind nicht nur gesellschaftlich noch weitgehend ein Tabu; auch die eigene Wahrnehmung ist durch Vorurteile geprägt.
Doch ebenso wie eine körperliche Wunde benötigt auch die seelische Wunde eine gute Versorgung, um richtig verheilen zu können.
Wird eine körperliche Wunde nicht ausreichend versorgt, verzögert sich der Heilungsprozess und/oder es erwachsen daraus möglicherweise sogar weitere Erkrankungen. Wird eine seelische Wunde nicht gut versorgt, besteht ebenfalls die Gefahr von Folgestörungen.
Menschen kommen häufig erst in meine Praxis, wenn sie diese Folgestörungen – wie innere Unruhe, Schlaflosigkeit, Ängste, Panikattacken – wahrnehmen und sie dadurch in ihrem Alltag beeinträchtigt werden. Sie kommen zu mir, um bei ihrer seelischen Wundversorgung unterstützt zu werden. Eine Vielzahl ressourcenorientierter Tools ermöglicht es, einen Zugang zu den belastenden Erlebnissen zu finden, um das Erlebte zu verarbeiten.
Ich arbeite mit Methoden aus den Bereichen des Neurolinguistischen Programmierens (NLP) und Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR), um diese Verarbeitungsprozesse in Gang zu bringen.
In meiner mehr als 20-jährigen Tätigkeit begleitet mich hierbei immer wieder die Frage:
Was konkret hätte die Person (immer m/w/d) in der akuten Situation selbst für sich tun können, um möglicherweise eine Vielzahl von Folgestörungen zu vermeiden? Wenn sich eine posttraumatische Belastungsstörung auf ein konkretes Ereignis zurückführen lässt, wie hätten Betroffene agieren können, um die „seelische Wundversorgung“ zeitnah zu starten?
Bislang spielt die Aktivierung der Selbstheilung in der sehr auf die Diagnostik ausgerichteten Psychotherapie eine meiner Meinung nach zu geringe Rolle. Ich bin davon überzeugt, dass eine frühzeitige Aktivierung seelischer Selbstheilungskräfte viele Folgestörungen verhindern kann.
Warum überlassen wir es bis heute eigentlich eher dem Zufall, ob nach einem traumatischen Erlebnis nach einigen Wochen eine PTBS diagnostiziert wird?
Seit mehreren Jahren schule ich angehende Lokführer im Bereich Stressmanagement. In der Tat, der Berufsalltag eines Lokführers kann immer wieder von Stressfaktoren begleitet werden: technische Störungen, kurze Umläufe mit vielen Fahrgastwechseln, witterungsbedingte Irritationen etc.
Aber ein Stressfaktor kann derart eklatant sein, dass eine Vielzahl von Folgestörungen entsteht oder ein Lokführer nicht mehr in der Lage ist, den Beruf überhaupt auszuüben:
Schienensuizid!
Ich nehme seit langer Zeit wahr, dass in der Ausbildung dieses Thema eher vermieden wird. Ausbilder, vielfach selbst Betroffene, konzentrieren sich zumeist auf organisatorische Belange. Ja, es gibt entsprechende Pläne, Ersthelfer und einen Anspruch auf psychotherapeutische Begleitung. Was aber tut ein Lokführer direkt nach dem Vorfall für sich selbst bis zum Eintreffen der Verantwortlichen? Er befindet sich alleine im Führerstand, teilweise länger als eine Stunde.
Diese Zeit ist wertvolle Zeit, die sinnvoll genutzt werden kann.
Insbesondere im Bereich des NLP gibt es eine Vielzahl von Werkzeugen, die den Coachee in die Lage bringen, Ressourcen zu aktivieren, Perspektiven zu wechseln, das Kopfkino zu verändern etc.
Warum werden diese Tools nicht längst genutzt, um in einer akuten Krise eigenständig Einfluss nehmen zu können?
Ziel muss es sein, möglichst frühzeitig Ohnmacht in gesunde Handlungsfähigkeit zu verwandeln. Betroffene sollen sich somit befähigen, die Kontrolle wiederzuerlangen, in einer Situation, in der sie auf sich selbst gestellt sind.
Mein M-Power-Haus (empower, engl. ermächtigen) entwickelte ich im Führerstand, dem Raum, in dem das Ereignis stattfindet, dem Arbeitsraum eines Lokführers.
Wie ist es möglich, diesen Raum unmittelbar nach dem Ereignis in einen Schutzraum zu verwandeln? Der Raum besteht aus sechs Seiten (Boden, Decke, zwei Seitenwänden, Front- und Rückwand). Diese Seiten werden verankert mit den Bereichen, die für gesundes Stressmanagement wichtig sind:
- Körperliche Reaktionen = Boden
- Gedanken = Decke Sinne:
- Sehen = Frontscheibe
- Hören = Seitenwände
- Fühlen = Rückwand
Orientiert an diesen Wänden geht es nun darum, die eigentliche Stresssituation zunächst wahrzunehmen, um sie im weiteren Schritt heilsam aktiv zu gestalten.
Die Betroffenen verhindern somit einen Verdrängungsprozess und nehmen zudem aktiv Einfluss auf das Erleben.
So geht es z. B. darum, die körperliche Reaktion wahrzunehmen und – orientiert an den eigenen Bedürfnissen – zu verändern. Der Coachee fragt sich: Was genau ist gerade körperlich mit mir los? Was braucht mein Körper jetzt?
Die körperliche Reaktion kann sehr unterschiedlich sein und genauso auch die daraus resultierenden Bedürfnisse. Die körperliche Reaktion ist nicht vorhersehbar, planbar. Wir alle reagieren sehr individuell in akuten Situationen und ebenso kann unser eigenes Verhalten sehr unterschiedlich sein. Reagieren wir in der einen Situation sehr unruhig, agitiert, kann es sein, dass wir in einer anderen Situation körperlich wie gelähmt – erstarrt sind. Und von diesem Ist-Zustand ist abhängig, was unser Körper in der konkreten Situation braucht.
Es kann z. B. sinnvoll sein, zunächst die körperliche Anspannung zu lösen, durch Schreien, Treten, Kraftanstrengungen, Lachen etc. Vielleicht ist aber auch zunächst eine Regulierung der Atmung eine wichtige Reaktion. In gleicher Weise geht es auch an den anderen Wänden darum, sich zu orientieren:
Welche Gedanken habe ich gerade?
Welche Gedanken sind hilfreich?
Welche Bilder habe ich gerade im Kopf?
Welche Bilder haben eine heilsame Wirkung auf mich?
Welche Geräusche habe ich gerade in den Ohren?
Welche Akustik hat aktuell einen gesunden Einfluss auf mich?
Eine Ausnahme bildet die Rückwand, hier geht es um das Fühlen: Anders als bei den anderen Wänden geht es nicht um die Veränderung, sondern ausschließlich um die Wahrnehmung. Gefühle sind unsere Fühler zur Welt und haben stets ihre Berechtigung. Aber nicht jedes Gefühl wird in gleicher Weise von uns selbst anerkannt. Vielfach hat es mit familiärer Prägung zu tun, ob wir dem einen oder anderen Gefühl mehr oder weniger Akzeptanz schenken.
Ist z. B. Trauer oder Wut ein wenig von uns akzeptierter Gefühlszustand, dann wird es uns schwerer fallen, diese anzuerkennen. Sind hingegen Humor oder Freude Gefühle, die wir wertschätzen, wird es uns leichter fallen, diese Gefühle gesund auszuleben.
Die Rückwand dient somit als Wand der Akzeptanz und Orientierung: Egal, welches Gefühl gerade da ist, wir nehmen es wahr und es hat seine Berechtigung. Und mit dieser Akzeptanz setzt sich die Orientierung fort: Was genau ist für uns jetzt heilsam? Vielleicht ist es verstärkt etwas Akustisches, etwas Visuelles, etwas Körperliches, etwas Gedankliches? Egal was, es ist richtig.
Mit dem M-Power-Haus lässt sich also ganz individuell herausfinden, was in der konkreten Situation wirksam ist. Betroffene werden somit selbst aktiv, nehmen sich bewusst wahr und finden damit vor allem eines – sie finden aus ihrer anfänglichen Ohnmacht heraus. Außerdem erfassen sie durch diese Strategie ihre gesundheitliche Situation, nehmen leichter ihre Grenzen wahr und können dadurch selbstbewusster und vielleicht auch schneller professionelle Hilfe suchen.
Das Format biete ich in Form von Schulungen und Einzelcoachings an und ergänze damit meine Stressmanagement-Seminare – insbesondere für Berufsgruppen, in denen Krisenmanagement essenziell ist.
Marion Abend
Heilpraktikerin für Psychotherapie,
NLP-Master, DVNLP, eigene Praxis in Wunstorf
Fotos: ©Dvarg, ©HPW