Grammatik der Körpersprache
Immer mehr Psychotherapeuten, Pädagogen, Berater und Coaches machen sich die Körpersprache zunutze, um das innere Erleben des Gegenübers zu verstehen und damit zu arbeiten. Denn die Körpersprache ist ein eigenständiges komplexes Kommunikationssystem und kann das Gesprochene be- und zugleich auch widerlegen.
Mit der 3. Auflage von „Grammatik der Körpersprache“ liefern die Herausgeber Sabine Trautmann-Voigt und Bernd Voigt die überarbeitete und auf den neuesten Stand der Forschung gebrachte Version eines umfangreichen Lehr- und Arbeitsbuchs. Unter Mitarbeit zahlreicher Autoren widmet sich das Werk dem komplexen Zusammenspiel von körpersprachlicher Reifung und der Entstehung des Körper-Selbst.
Die 492 Seiten sind übersichtlich strukturiert und didaktisch gut aufbereitet. Zahlreiche Fallbeispiele, Anleitungen zur Durchführung von Bewegungsanalysen sowie Übungsanleitungen unterstützen dabei, körpersprachliche Phänomene in die eigene psychotherapeutische Arbeit zu integrieren.
Neu in der 3. Auflage sind unter anderem 20 meditative Tänze, ihre Symbolik und Rituale in gezielter Anwendung in stationärer und ambulanter Psychotherapie.
Ela Windels im Gespräch mit Sabine Trautmann-Voigt über das Werk.
„Die Einbeziehung der körpersprachlichen Ebene ist für eine neurobiologisch fundierte psychodynamische Psychotherapie unverzichtbar geworden“, heißt es in dem Geleitwort zum Buch von Dr. Wolfgang Wöller. Und Ulrich Sachsse schreibt im zweiten Vorwort: „Die Psychotherapie befindet sich auf dem Weg zu einer Formulierung und einem Verständnis der Körpersprache.“ Warum erst jetzt? Wer oder was ist Wegbereiter zur „Widerkehr des Körpers“ in der Psychotherapie?
Unsere Auseinandersetzung mit der Körpersprache in der Psychotherapie ist schon ca. 40 Jahre alt. Die erste Auflage der „Grammatik“ ist von 2009 und davor gab es „Freud lernt laufen“ (1997), „Bewegung ins Unbewusste“ (1998) usw.
Der Tanztheoretiker Rudolf von Laban hat sich lange vor dem Zweiten Weltkrieg mit der Bedeutung von Bewegungsantrieben, der Orientierung des Körpers im Raum, mit muskulärer Anspannung und Kraftaufwendung und mit dem Faktor Zeit bei der Lokomotion auseinandergesetzt und von bestimmten dynamischen Bewegungsqualitäten auf eine entsprechende innere Haltung geschlossen, z. B. auf Stabilität, Präsenz oder Anpassungsfähigkeit. Daraus entwickelte sich dann das große Gebiet der Bewegungs- und Interaktionsanalysen in der Tanztherapie.
Die Wegbereiterinnen für diese Richtung des therapeutischen Einbezugs der Körpersprache waren vor allem Ausdruckstänzerinnen, die vor den Nazis in die USA geflohen waren und dort in einer offenen Atmosphäre der 1940-er bis 1960er-Jahre die psychiatrischen Behandlungen um den Körperbezug erweiterten.
Wir nutzten die Tanz- und Bewegungstherapie zur Integration in die Tiefenpsychologie und in die Verhaltenstherapie und entwickelten daraus das Bonner Modell der Interaktionsanalyse.
Andere integrierten anderes – immer auf der Basis eigener Erfahrungen. Ich denke, dass hier Autoren wie Antonio Damasio mit den Bestsellern „Ich fühle, also bin ich“ und „Descartes Irrtum“ einer breiteren Leserschaft klarmachten, dass Körpersprache und der sog. „Geist“ etwas miteinander zu tun haben. Oder nehmen Sie das sozialpsychologische Konzept des „Habitus“ bei Bourdieu: In die Haltung, den Gestus und das Kommunikationsmuster eines Menschen sind über soziales Lernen und Identifikationen mit der frühen Umwelt Ausdrucksmuster und körpersprachliche Gewohnheiten eingebrannt. Und natürlich darf an dieser Stelle auch nicht als Referenz das alte Freud`sche Bonmot von den „schwätzenden Fingerspitzen“ fehlen: Wenn wir nicht mehr wissen, was wir sagen sollen, dann berichtet eben die Körpersprache über uns.
Was fasziniert Sie an dem Thema? Wie kommen Sie zu der Auseinandersetzung mit der Grammatik der Körpersprache?
Ursprünglich habe ich seit meiner Jugend getanzt, dann Pädagogik, Kunstgeschichte, Sport und Germanistik studiert und schließlich mit meinem Mann in den USA ein Studium in Psychologie, kombiniert mit Tanz- und Bewegungstherapie, absolviert.
Da kam alles zusammen: Mein Interesse für Sprache und Kommunikation, meine Lust auf Bewegung und Ausdruck durch Körpersprache, die Idee, dass Menschen gleichzeitig kreative und strukturierte Wesen sind, schließlich die Faszination an psychischen Besonderheiten: Jeder Mensch ist individuell, drückt sich vielfältig aus und kommuniziert auf diversen Ebenen. Was meint er oder sie? Was verstehe ich oder andere wirklich von dem, was „gesagt“ wird?
Die Diversität von menschlicher Kommunikation auf rationaler, emotionaler und körpersprachlicher Ebene zu erforschen und in psychotherapeutischen Behandlungen zu begleiten, wurde zu meiner Lebensaufgabe.
Sind Bedeutungen der Körpersprache immer eindeutig, d. h. kultur- und generationsübergreifend? Oder müssen sich Therapeuten und Coaches mit der zunehmenden Bedeutung der Körpersprache auch vielfältiger in der Auseinandersetzung mit körpersprachlichen Signalen aufstellen?
Körpersprache ist einerseits ein System. Es gibt Regeln, Gewohnheiten, Muster, kulturell verankerte Bewegungsrituale. Wir haben hier in Deutschland ein anderes Verhältnis zu Nähe und Distanz als beispielsweise in Südamerika. Gleichzeitig ist die Körpersprache eines jeden Individuums etwas Besonderes, unabhängig von der Kultur, in der es aufgewachsen ist: Sie ist so geworden, weil er oder sie ein Repertoire nutzt, das aus bestimmten Interaktionserfahrungen mit wichtigen Bezugspersonen stammt. Nur das, was ich durch körperliche Identifikation oder in nonverbalen Interaktionsepisoden „gelernt“ habe, kann ich auch nutzen – und weiterentwickeln. Die Säuglingsforschung spricht von „prototypischen Interaktionserfahrungen“, die immer wieder gemacht werden, weil eben Eltern und Bezugspersonen so sind, wie sie sind und das an Körpernähe oder Intensität anbieten, was sie anbieten (können). Das wird verinnerlicht und prägt das individuelle körpersprachliche Repertoire.
Was steht im Fokus der psychotherapeutischen Arbeit mit dem Körper: die Dekodierung, also die Deutung der Signale oder die Selbststeuerung über das Priming, also das Manifestieren von Ressourcen über die Körperarbeit?
Beides gleichermaßen. Ohne Dekodierung und Deutung von Körpersignalen, also ohne Analyse oder Diagnose kann es keine Planung für eine bessere Selbststeuerung in kommunikativen Prozessen geben. Um das besser zu verstehen, gibt es ja in der „Grammatik“ so viele Fallbeispiele und Vignetten, die immer wieder deutlich machen, dass ein Verstehen seiner oder ihrer selbst und der jeweils anderen auf allen Ebenen (also rational, emotional und körpersprachlich) ein ständiger Aushandlungsprozess ist.
Haben die Menschen heute weitestgehend das achtsame bewusste Erspüren des eigenen Körpers verloren? Vielleicht auch durch die Digitalisierung?
Das lässt sich nicht verallgemeinern. Achtsamkeit ist ja gerade sehr angesagt in der westlichen Kultur, vielleicht als Gegenbewegung zur Tendenz, Kommunikation über digitale Kanäle in „sozialen Netzwerken“ zu gestalten. Andererseits: Körperbewusstsein als Wunsch jung, dünn, dynamisch und unangreifbar zu sein, hat nichts mit dem Erspüren des Körpers im Sinne der Achtsamkeitsbewegung zu tun und ist auch sehr verbreitet.
Menschen haben ursprüngliche und Kulturen übergreifende Bedürfnisse nach Bindung, Nähe, nach Experimentieren und Wirksamkeit, sie sind neugierig und auch mal müde und mal aktiv: Dieser Vielfalt von möglichen Bedürfnissen offen gegenüber zu bleiben und den inneren Antrieben eine Chance zu geben, das versuchen Menschen auf die unterschiedlichsten Weisen. In der Corona-Zeit war die digitale Yoga-Stunde für viele „die“ Rettung! Also: Auch die Digitalisierung birgt Chancen.
In Ihrem Buch zeigen Sie das komplexe Zusammenspiel von körpersprachlicher Reifung auf. Sie widmen sich dazu aktuellen Erkenntnissen aus unterschiedlichen Forschungsrichtungen wie der Entwicklungsforschung, die nach pränatalen nonverbal vermittelnden Einflussfaktoren fragt, der Säuglings- und Bindungsforschung mit dem Fokus auf frühkindliche Reflexe als rudimentäres Bewegungstraining und Basis für spätere zunehmend bewusst gesteuerte Fertigkeiten. Es werden zudem Erkenntnisse aus der Sprach- und Kommunikationssowie der Hirnforschung vorgestellt. Welches Gebiet ist für Sie ganz persönlich das spannendste, welches das bedeutsamste hinsichtlich Körpersprache?
Ich liebe die Entwicklungsforschung und die Säuglingsforschung, die Bindungs- und Mentalisierungstheorie, weil sie uns so viel über die frühe Nonverbalität erklärt haben. Im Laufe der Jahre bin ich aber immer wieder zu zirkulären Fragestellungen zurückgekommen. Beispiel: Entwicklung vollzieht sich in bestimmten sozialen Kontexten, also brauche ich auch die Systemtheorie und vor allem die Psycho- und die Soziolinguisitik, denn in sozialen Kontexten wird gesprochen, wie wird dort gesprochen? Welche kulturellen Einflüsse gibt es in Familien, die z. B. mit Kriegstraumatisierungen zu tun hatten oder haben?
Ich brauche also die Einflussfaktoren auf die Hirnentwicklung durch Traumafolgen, z. B. bilden sich ja bestimmte Reflexe nicht zurück, wenn die Umwelt nicht entsprechend förderlich reagiert. Ich glaube, dass mir gerade das breite und mit den Jahren zunehmend vertiefte Wissen aus all den von Ihnen genannten Wissenschaften – nicht zu vergessen ist auch die psychodynamische Sicht auf ein Körperunbewusstes – geholfen habt, die menschlichen Kommunikationsweisen und ihr Verstörungspotenzial besser zu verstehen.
Wie gelingt Körperarbeit in der CoronaZeit und welche Bedeutung hat es für die Menschen, wenn Abstands- und Maskenregeln noch mehrere Monate lang anhalten?
Körperarbeit im Rahmen der Einzelpsychotherapie geht auch in dieser Zeit, sofern die Abstandsregeln eingehalten werden. Es ist nicht unbedingt notwendig, Berührungen in die Arbeit einzubeziehen. Viele Handlungsdialoge lassen sich im Übrigen gestisch und über Minimierung oder Maximierung im Selbstexperiment erproben. Vieles geht in der Bewegung in Handlungsdialogen in einem größeren Raum ohne direkten Körperkontakt.
Ich habe auch Videosprechstunden während des Lockdowns durchgeführt und zu Körperexperimenten angeregt. Das waren neue und ungewohnte Erfahrungen für die Patienten (m/w/d) und für mich.
Wir müssen zukünftig neu über Distanz und Nähe reflektieren. Wir haben Chancen, unser Empfinden für Körperlichkeit anders zu entdecken.
Corona wird uns hoffentlich dazu bewegen, neu über unser Leben und unsere Zukunft nachzudenken.
Dr. phil. Sabine Trautmann-Voigt
Psychologische Psychotherapeutin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin,
Tanz- und Ausdruckstherapeutin (ADTR, BTD), Supervisorin, Autorin
Interviewerin Ela Windels
Sozialpsychologin, Journalistin, Kommunikationstrainerin,
Autorin, Dozentin an der Paracelsus Schule Hannover
Trautmann-Voigt, Sabine
& Voigt, Bernd (Hrsg.):
Grammatik der Körpersprache.
Ein integratives Lehr- und Arbeitsbuch
zum Embodiment.
Schattauer-Verlag