Mikrotraumatisierungen - Wenn uns die Kindheit krank macht
Tiefenpsychologische Ursachenanalyse hilft, alte Muster aufzulösen
Verhaltensänderungen seien schwierig, so heißt es. Das kennen wir nicht nur von guten Vorsätzen, an denen wir immer wieder scheitern, sondern erst recht von chronischen Krankheiten, Süchten oder Angewohnheiten – diese dauerhaft und nachhaltig zu verändern, gilt als fast unmöglich. Obwohl wir Menschen doch ein Leben lang lernen, wie uns die Erkenntnis der Neuroplastizität lehrt, stellen permanente Verhaltensänderungen Ärzte, Psychologen und Heiler vor eine scheinbar unlösbare Aufgabe. Denn oft zeigt sich bald wieder das alte Verhaltensmuster mit seinen Auswirkungen. Rezidiv nennt das der Mediziner, unbelehrbar der Pädagoge und Verstrickung der Heiler. Leidensdruck oder eiserne Disziplin reichen meist nicht aus, um bei einem Menschen die Weichen für ein konfliktfreies Leben zu stellen.
Es sei denn, man ginge den Problemen auf den Grund und analysierte deren Ursachen, sagt der Diplom-Pädagoge Andreas Winter, der einen tiefenpsychologischen Ansatz gefunden hat, mit dem es Menschen tatsächlich gelingt, leicht eine automatische Kursänderung im Verhalten herbeizuführen. Im Schulunterricht haben wir gelernt, wir seien ein organisierter Zellhaufen, der biologischen Prozessen unterliegt. Doch wir wissen alle, dass unser Körper nicht einfach nur ein biochemischer Klumpen ist. Auch ist unser Geist keine Reiz-Reaktions-Routine und unser Schicksal ist nicht in Stein gemeißelt. Angeblich gaben die Götter uns doch die viel beneidete Entscheidungsfreiheit. Doch wie weit ist es damit her, wenn ein Raucher, der täglich achtzig „Sargnägel“ verqualmt, von seinem Arzt immer und immer wieder die Ermahnung hört, „Hören Sie auf zu rauchen, sonst bekommen Sie Lungenkrebs!“, und es dennoch nicht schafft, vom Glimmstängel zu lassen? Was nutzt es einem Einhundertsiebzig-Kilo-Mann, wenn er vom eigenen Arzt hört, „Iss doch mal weniger“, – und voller Scham weiterisst, einfach weil er quälenden Hunger verspürt?
Wäre jemand, der immer wieder trotz Medikamenten allergische Schübe hat, der immer wieder trotz eifriger Bemühung arbeitslos wird oder auch einfach keine dauerhafte Partnerschaft zustande bringt nicht froh, wenn gute Vorsätze, Disziplin und eiserner Wille tatsächlich endgültig irgendetwas bewirken würden? Emotionale Prioritäten bestimmen das Verhalten
Das tun sie aber nicht. Nicht der viel gelobte Verstand steuert uns, sondern es sind unsere emotionalen Prioritäten, also Absichten, Erwartungen und deren Erfüllung, die darüber entscheiden, wie wir uns verhalten. Welchen Lebensweg wir gehen und wie es auch letztlich mit unserer Gesundheit aussieht, bestimmt auf Dauer nicht der Wille. Dieser kann zwischenzeitlich mit Disziplin dazwischenfunken, doch der Kampf gegen die emotionalen Bedürfnisse verbraucht im Gehirn eine Menge Sauerstoffs, Energie und des wertvollen Botenstoffs Serotonin, derweil zusätzlich blockierende Stresshormone ausgeschüttet werden.
Und diese gilt es, so schnell wie möglich wieder loszuwerden, weil sie uns am strategischen Denken hindern. Wenn man also wirklich möchte, dass ein Mensch sein Verhalten ändert, so braucht man ihm nur zu einer anderen emotionalen Priorität zu verhelfen.
Wir wissen seit dem Altertum, dass jeder Gedanke einen Effekt auf den Körper hat. Unsere Mimik und Gestik zeigen: Die Emotionen steuern unterbewusst die Bewegungen und diese teilweise sogar recht vehement. Ein Trauerfall kann uns tief ins Gesicht geschrieben stehen und sogar die Haare spontan ergrauen lassen. Je vielfältiger ein Impuls im Gehirn neuronal verschaltet ist, desto höher ist die durch das Ansprechen der neuronalen Vernetzungen erzeugte elektrische Spannung und der Effekt auf den Körper.
Bei jedem Gedanken – und sei er noch so unscheinbar – verschalten sich Nervenzellen und „speichern“ damit Erlebtes dauerhaft. Von den circa zwölf Millionen Sinneseindrücken pro Sekunde, die auf uns einprasseln gerät nur ein sehr kleiner Teil in unsere Wahrnehmung, was uns glücklicherweise vor Reizüberflutung schützt. Diese Datenmenge wird aber dennoch verschaltet und ist unter Hypnose durchaus abrufbar. Hypermnesie – übersteigerte Erinnerungsfähigkeit – nennt man diesen erstaunlichen Effekt, wenn ein Mensch in einer leichten Trance z. B. sogar den Ort und das Datum nebst passendem Wochentag nennen kann, an dem er seine ersten eigenen Schritte gemacht hat.
Diese enorme Verknüpfungs- und Erinnerungsfähigkeit des Gehirns hat aber auch eine Kehrseite: Stressbehaftete Erlebnisse, in denen ein Menschen sich bedroht, ausweglos und somit handlungsunfähig fühlte, wirken ebenfalls unterschwellig ein Leben lang. Und es sind genau diese unterbewusst abgespeicherten „Dateien“, die unser alltägliches Verhalten zum Großteil beeinflussen. Wir kennen diesen Vorgang unter dem Namen „Konditionierung“. Zwei voneinander unabhängige Reize werden in einen emotionalen Zusammenhang gebracht und lösen hierdurch beide die gleiche Reaktion aus.
Ivan Pawlow zeigte das einst an Hunden, die beim Füttern ein Glöckchen hörten und nach wenigen Malen allein beim Hören des Klingelns in Vorfreude auf das Fressen Speichelfluss bekamen.
Menschen sind voll von solchen Konditionierungen, die allesamt im Verborgenen wirken. Das Ziehen an einer Zigarette kann mit „erwartungsdruckfreier Zeit“ verknüpft werden, eine Mahlzeit mit „gefüttert werden – also versorgt und geliebt“ und ein stechendes Insekt erinnert unterbewusst an den Stich bei der ersten Blutentnahme, wenige Minuten nach der Geburt. Diese Konditionierungen hängen allein von der Stärke der Reize und unserer Lernfähigkeit ab. Wir lernen schon im Mutterleib
Der Lernprozess eines Menschen beginnt erstaunlich früh. In etwa der dritten Schwangerschaftswoche entwickeln sich die ersten Nervenzellen. Diese reagieren auf Reize und vernetzen sich untereinander, wodurch sie Informationen erfassen und speichern.
Über die Nabelschnur bekommen Ungeborene somit nicht nur Sauerstoff und Nährstoffe, sondern auch Neurotransmitter, jene chemischen Botenstoffe, die Emotionen erzeugen, aus dem mütterlichen Blut. Das bedeutet, Stress, Wut, Trauer, Verliebtheit oder Hoffnung, Erwartungsdruck oder Verzweiflung, alles, was eine schwangere Frau spürt, spürt ihr Embryo genauso.
Hinzu kommen noch die äußeren Sinnesreize, die ein Ungeborenes registriert. Es hört Geräusche und spürt Bewegungen der Mutter, ohne zu wissen, was oder wer das ist. Es bezieht alles Wahrgenommene auf sich selbst. Genau hier beginnt die Prägung unserer Wahrnehmungsmuster und teilweise unseres späteren Verhaltens. Lange Zeit ging man gemeinhin davon aus, dass Neugeborene noch völlig unbeeindruckt von der Außenwelt sind und erst mit der Geburt anfangen zu fühlen und zu lernen. Inzwischen weiß man jedoch: Die Nabelschnur ist wie eine Standleitung zur Mutter. Babys sind bei ihrer Geburt keine unbeschriebenen Blätter, sind sie doch bereits durch die Emotionen der Mutter „vorprogrammiert“.
Vor circa fünf Jahrzehnten haben Verhaltensforscher und Psychologen damit begonnen, vorgeburtliche Einflüsse der Mutter auf das Baby zu erforschen. Einige Wissenschaftler vermuteten, dass Embryonen nicht völlig isoliert sind, doch es war schwer, das wirklich zu beweisen. Dennoch macht dieser junge Forschungszweig der pränatalen Psychologie rasante Fortschritte, bei denen Erstaunliches zutage kommt: Forscher haben schon länger vermutet, dass es eine transmittergesteuerte emotionale Wechselwirkung zwischen Mutter und Embryo geben muss, doch erst vor wenigen Jahren wurde dafür der wissenschaftliche Beweis erbracht: Embryonen reagieren nicht nur auf äußere Reize, wie Geräusche und Bewegungen, sondern auch auf die Wirkung von Hormonen und Neurotransmittern aus dem mütterlichen Blut. Den Neurobiologen Dr. Ulrike Theisen und Prof. Reinhard Köster sowie dem Genetiker Prof. Ralf Schnabel von der Technischen Universität Braunschweig gelang dieser Nachweis 2018 erstmals experimentell an Zebrafischen. Seitdem gibt es immer mehr Berichte für die emotionale Beeinflussung des Ungeborenen durch die Mutter. Im Grunde liegt dieser Schluss nahe, denn dass das Baby im Bauch Sauerstoff, Nährstoffe und auch Giftstoffe von der Mutter bekommt, ist ja schon lange bekannt. Auch der Entwickler der Primärtherapie, Dr. Arthur Janov, wies bereits 2012 darauf hin, wie der Mensch im Mutterleib bestimmte Phasen durchlebt, in denen die Entwicklung der Organe und vor allem des Gehirns durch Hormone und Neurotransmitter gesteuert werden muss. Traumatisierungen in diesen Phasen wirken sich auf das gesamte weitere Leben des Menschen wie eine Weichenstellung aus, so die Vermutung. Wenn ein Kind geboren wird, sagen Eltern oft: „Unser Kind ist zur Welt gekommen.“ Doch von dieser Vorstellung sollten wir uns endgültig verabschieden, wenn wir nach Ursachen für Verhaltensweisen forschen. Denn „zur Welt“ kommen wir in der Sekunde der Zeugung! Und dann lernen wir monatelang von den durch die Nabelschnur übertragenen Emotionen der Mutter, wie diese Welt wohl offenbar ist!
Doch welche bahnbrechende Schlussfolgerung das in Konsequenz zulässt, zeigt sich im tiefenpsychologischen Coaching bei der Analyse eines Symptoms oder einer konflikthaften Verhaltensweise. Die Ursache von Verhaltens- und Wahrnehmungsmustern findet sich immer in Erlebnissen aus der vorgeburtlichen Zeit, selbst wenn ein Symptom erst nach Jahren ausbricht. Ursache bedeutet: Hier ist der Anfang, hier hat es begonnen. Es gibt für jedes Phänomen immer nur eine Ursache, also ein einziges Ereignis, das am Anfang eines Prozesses steht. Alle weiteren Erlebnisse bestätigen entweder das Ursprungsereignis oder sind eine Ausnahme davon. Und hier, an der Ursache, kann man das Phänomen verändern.
Ein Trauma erzeugt eine Verhaltensformel
Traumatisierungen lauern an jeder Ecke, nur beachtet das meist keiner, weil wir fast alles mit den Maßstäben des Erwachsenen bewerten. Daher nenne ich diese frühkindlichen Stresserlebnisse, die einen Jahrzehnte später krank machen oder gar töten können „Mikrotraumatisierungen“. Mikro, weil wir sie aus unserer Perspektive für banal und unscheinbar erachten. Doch im Grunde sind sie leicht zu entdecken. Mit entsprechendem Hintergrundwissen und dem Einfühlungsvermögen in die Erlebniswelt eines Kindes entdeckt man plötzlich die traumatisierenden Katastrophen, die Jahrzehnte später dem Leben die Qualität rauben.
Wenn man einen Menschen nicht einfach für „zufällig krank“ erklärt, sondern ihn in seinem Verhalten und seinen Emotionen ernst nimmt, kann das oftmals schon ausreichen, um vom Symptom auf die Ursache zu schlussfolgern. Das allein reicht selbstverständlich noch nicht aus, um rasch wieder gesund, fit und sorgenfrei zu sein. Aber das Erkennen der Ursache ermöglicht in Folge eine gründliche Aufarbeitung. Daher ist für uns die Frage: „Warum genau ist das beschriebene Erlebnis so schlimm für Sie?“ für uns so wichtig, denn wir bekommen damit Antworten, die viel weiter zurückreichen als die aktuell bewussten Erlebnisse, und somit das „Referenzereignis“ für weitere Erlebnisse darstellen.
Stresshormone können in den Blutkreislauf des Fötus übertragen werden und hinterlassen Spuren, die ein Leben lang Auswirkungen haben können. Wenn ein Baby geboren ist, hat es bereits eine Vielzahl von Emotionen neuronal verschaltet und ordnet sich dementsprechend ein, je nachdem, welches Gefühl überwiegt, kann es sich dabei sicher oder unsicher fühlen. So entsteht z. B. eine Laktoseintoleranz nicht selten durch Stresshormone, die sich in der Muttermilch befinden und vom Baby beim Stillen aufgenommen werden. Nicht selten verkrampft sich das Baby dabei und beißt dabei die Brustwarze wund – was die Mutter noch mehr stresst.
Beim Baby wird unterbewusst abgespeichert: „Milch stresst“. Die Laktose selbst hat mit der Intoleranz nichts zu tun, weshalb Menschen, die diese Verknüpfung „Mama ist angespannt und Milch ist der Bote der Nachricht“ entkoppelt haben, nach wenigen Minuten Milchprodukte wieder unbeschwert genießen können, falls sie das möchten.
Das Gleiche gilt z. B. auch für eine Nussallergie. Hat eine schwangere Frau Spurenelemente von Nüssen im Blut, was in der Adventszeit häufig vorkommt, und zusätzlich Stresshormone, vielleicht weil sie sich überfordert, im Stich gelassen oder bevormundet fühlte, dann werden diese beiden Informationen im fötalen Gehirn zu der Botschaft „Nüsse sind gefährlich“ verknüpft. Es kann genügen, dass dieser Eindruck nur, je nach emotionaler Eindruckstiefe, ein einziges Mal bestätigt wird, und schon reagiert der Mensch in einer Gemütslage von Überforderung, Einsamkeit oder Bevormundung allergisch, wenn dabei zeitgleich Nüsse wahrgenommen werden. Ist diese Verknüpfung aufgedeckt und rationalisiert – Nüsse machen nicht krank und bei Kummer hilft auch kein allergischer Schub –, kann der Ex-Allergiker sofort wieder unbeschwert Nüsse verzehren.
So ein Verhaltensmuster ist wie eine Formel, die sich nicht mit Disziplin oder Medikamenten durchbrechen lässt, sondern nur mit dem Verändern eines ihrer Parameter. Die Sichtweise eines hilflosen traumatisierten Kindes zu verstehen, ist der Schlüssel zur Veränderung der Kompensationsversuche. Das Werkzeug zur Umsetzung ist nicht die Medizin, sondern das Verschieben der emotionalen Prioritäten.
Meinem Ansatz liegt zugrunde, dass das Gehirn Stress rasch wieder loswerden will, dass die Psyche daher nach Entfaltung in Ruhe und Frieden trachtet – nur den einfachen Weg dorthin nicht kannte. Ein emotionales Update, wie ich es nenne, ermöglicht einen Reifeschritt. Eine einzige Erkenntnis kann für eine automatische und dauerhafte Verhaltensänderung sorgen. Das Ziel des Menschen bleibt dabei das gleiche: Zufrieden zu sein – nur der Weg dorthin wird zu einem anderen.
Buchtipp
Andreas Winter: Wie unsere Psyche tickt. Die Intelligenz des Unterbewusstseins verstehen. Wie psychosomatische Störungen und Blockaden entstehen und wieder aufgelöst werden können. Mankau Verlag 2024
Andreas Winter Tiefenpsychologe, Coach, Diplom-Pädagoge