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Weniger bekannte Störungsbilder

Im allgemeinen Sprachgebrauch haben Begriffe wie Depression und Burnout längst Einzug gehalten. Auch wenn nicht jedem die Unterschiede zwischen den Begriffen bekannt sein dürften und manchmal das eine mit dem anderen etwas vermengt wird. Noch etwas konfuser kann es werden, wenn weniger bekannte Störungen wie „Erlernte Hilflosigkeit“ oder „Gratifikationsdefizit“ zur Sprache kommen.

Vielleicht fragen Sie sich, warum diese und weitere Störungen üblicherweise nicht als Diagnose gestellt werden, obwohl durchweg ein erheblicher Leidensdruck bei den Betroffenen besteht?

Dies hat durchaus Auswirkungen finanzieller Art (Ablehnung der Kostenübernahme durch die Krankenkassen), die Krankheit verstärkende Effekte (Scham, Schuld, Selbstwert) und gesellschaftlicher Art (fehlende Anerkennung und Würdigung der Erkrankung). Das Störungsbild der Depression scheint prädestiniert zu sein, mit anderen Störungen verwechselt zu werden. Daher ist es unerlässlich, sich bei Diagnosestellung streng an die vorgegebenen Kriterien der klinischdiagnostischen Leitlinien (ICD-10, Kapitel V(F)) zu halten. Gerade in einem vermeintlichen Unschärfebereich der erkennbaren Symptome ist ein besonderes Augenmerk auf die Differenzialdiagnose(n) zu richten.

Depression oder Burnout?

Für die Diagnose Depression sind die Kriterien in der ICD-10 hauptsächlich im Kapitel F3, Affektive Störungen (bis auf wenige Ausnahmen) festgelegt. Auch die Einteilung und somit auch die Differenzierung der Schweregrade der depressiven Episoden ist darin festgelegt: leichte (F32.0), mittelgradige (F32.1), schwere (F32.2) depressive Episode.

Weiterhin sind dort u. a. Zeitkriterien und wichtige Hinweise für Ausschlusskriterien aufgeführt. Gerade dieses Störungsbild gibt es in besonders vielfältigen Ausprägungen: agitiert, anaklitisch, atypisch, organisch, larviert …

Allgemein akzeptierte Kriterien für die Diagnose Burnout existieren in der ICD-10 hingegen nicht. Ein Burnout gilt in unserer Leistungsgesellschaft als gesellschaftlich eher akzeptiert als eine Depression. Die Diagnose Depression ist eher negativ konnotiert. Was auch durch ein mögliches Suizidrisiko bei schwerer Depression nochmals verstärkt werden kann.

Wohingegen Burnout vielfach mit Leistungsbereitschaft verbunden wird. Daher kommt es immer wieder vor, dass Klienten (immer m/w/d) im beruflichen Kontext dazu neigen, lieber von einem Burnout zu sprechen als von einer Depression.

Gute Hinweise für die Unterscheidung zwischen Depression und Burnout findet man z. B. bei der „Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention“.

Da das Störungsbild Burnout in der ICD-10 nicht enthalten ist, wird im Praxisalltag manchmal eine Variante der Depression diagnostiziert.
Depression oder Erlernte Hilflosigkeit?
Der Psychologe Martin Seligman beschreibt einen sehr interessanten Erklärungsansatz zur Entstehung von Depressionen, die Erlernte Hilflosigkeit. Diese zeigt durchaus vergleichbare Symptome und ähnliche Formen wie sie auch bei der Depression vorkommen. Leider ist Erlernte Hilflosigkeit in der ICD-10 ebenfalls nicht aufgeführt. Daher fehlen für eine Diagnose sowohl Diagnosekriterien als auch ein anerkanntes Ordnungsmerkmal zur Verschlüsselung einer solchen Diagnose (F?). Folglich fehlen auch „offizielle“ Differenzialdiagnosen für Erlernte Hilflosigkeit, um eine Abgrenzung zur Depression zu ermöglichen.

Daher bleibt oft nur, die Symptome des Klienten mit den Kriterien in der ICD-10 abzugleichen, eine Differenzialdiagnose zu anderen Störungsbildern durchzuführen und generell bei einer Diagnosestellung sehr sorgsam und mit Bedacht vorzugehen.
Depression oder Gratifikationsdefizit?
Der etwas sperrige Begriff Gratifikationsdefizit steht beispielhaft für die generelle Unzufriedenheit mit der Bezahlung (Unterbezahlung) oder auch über lange Zeit fehlende Aufstiegschancen oder Qualifikationsmöglichkeiten. Dies zieht oft eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung der intrinsischen Motivation mit sich.

Das Streben nach Anerkennung und Kontrolle wird durch ausbleibende immaterielle und materielle Belohnungen zutiefst enttäuscht. Die Balance zwischen Anstrengung und Belohnung ist nicht mehr gegeben. Die folglich tief enttäuschten Erwartungen des Betroffenen fordern zwangsläufig auch ihren psychischen Tribut.

Mit anderen Worten: Ein Gratifikationsdefizit kann auftreten, wenn Anerkennung (finanziell, emotional) und Unterstützung (z. B. von Vorgesetzten, Kollegen oder durch die Gesellschaft) fehlen, trotz erheblicher Anstrengungen – oft über einen längeren Zeitraum.


Zwei Faktoren scheinen Krankheiten im Zusammenhang mit einer Gratifikationskrise besonders Vorschub zu leisten:
– das gleichzeitige Auftreten von hoher Verausgabung und niedriger Belohnung – je länger die Erfahrung einer beruflichen Gratifikationskrise dauert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, zu erkranken Auch hier kann es sein, dass sich depressionsähnliche Symptome zeigen. Für die Diagnosestellung ergeben sich ähnliche Schwierigkeiten wie bei der Erlernten Hilflosigkeit: keine Erwähnung in der anerkannten ICD-10 der WHO. Somit besteht auch keine Möglichkeit einer „offiziellen“ Diagnosestellung eines Gratifikationsdefizits.
Ausblick

Depression oder Burnout? Depression oder Erlernte Hilflosigkeit? Depression oder Gratifikationsdefizit?
Die Aufzählung könnte noch viel weiter gehen. Vielleicht handelt es sich hier auch um einen Graubereich der Diagnostik? Fest steht jedenfalls: Solange diese Begriffe nicht in der ICD-10 beschrieben sind, ist eine derartige Diagnose innerhalb unseres Gesundheitssystems auch nicht zulässig. Martin Seligman würde vermutlich das Thema Erlernte Hilflosigkeit gerne in der ICD-10 oder dessen Nachfolger aufgenommen sehen. Aber viele Wissenschaftler sehen das anders (s. Anhang der ICD-10, „Weltweit beteiligte Wissenschaftler“). Somit ist eine Diagnose Erlernte Hilflosigkeit oder auch Burnout gleichsam für unser Gesundheitssystem nicht existent. Wie kann man nun formal richtig handeln, wenn weder Burnout noch Erlernte Hilflosigkeit im Kriterienkatalog ICD-10 aufgenommen sind? Eine m. E. vertretbare Möglichkeit könnte es sein, bei noch nicht final diagnostizierten Störungen das Kürzel „V. a.“ der Diagnose voranzustellen: „Verdacht auf …“

Da der Kriterienkatalog der ICD-10 (immerhin eine WHO-Publikation) alle wissenschaftlich anerkannten Störungen beinhaltet, könnte also statt Burnout als Diagnose möglicherweise stehen: „Verdacht auf mittelgradige Depression (F32.1)“; selbstverständlich nur, wenn das Störungsbild den vorgegebenen Kriterien auch entspricht. Zum weiteren Ausblick gehört auch, dass nun erstmals Burnout(-Syndrom) im Nachfolger der ICD-10, der ICD-11, aufgenommen wurde. Und die darin beschriebene Definition ist bereits jetzt schon unter Fachleuten umstritten. Unter anderem der fest definierte Bezug zum Berufsleben ist für viele zu strikt gefasst. Denn Menschen können auch in anderen Bereichen „ausbrennen“: z. B. in der häuslichen Pflege. Einerseits findet endlich eine schon lange überfällige „offizielle“ Anerkennung des Burnouts statt. Andererseits könnte eine Nachschärfung der in der ICD-11 getroffenen Definition des betroffenen Personenkreises bisher ausgegrenzte Personengruppen integrieren. Mit allen dazugehörigen Effekten, wie der Anerkennung durch die Krankenkassen und folglich der dann auch möglichen Kostenübernahme.

Quellen
https://www.deutsche-depressionshilfe.de/files/cms/downloads/faktenblatt_depression-undburnout.pdf https://www.who.int/news/item/28-05-2019-burn-out-an-occupational-phenomenoninternational-classification-of-diseases Martin Seligman: „Erlernte Hilflosigkeit“, Beltz-Verlag Günter Kaindl: Gratifikationsdefizit. Freie Psychotherapie, 03.19

Günter Kaindl Heilpraktiker für Psychotherapie mit Praxis in Eichenau
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