Sicherheit ist die Therapie
Die Polyvagal-Theorie (PVT) des US- amerikanischen Neurowissenschaftlers Stephen Porges findet immer breitere Anerkennung, nicht nur in der Psychotherapie. Die Erkenntnisse haben ganz praktische Auswirkungen auf die Planung und den Ablauf von Therapiesitzungen. Die Grundaussage lautet: Sicherheit ist die Therapie – und zwar die vom Autonomen Nervensystem (ANS) des Klienten (immer m/w/d) unterbewusst empfundene Sicherheit.
In meinen Seminaren zur PVT stellen viele Therapeuten die Frage: Wie kann ich effektiv für diese Art der Sicherheit in der Therapie sorgen? Nach meiner Erfahrung bietet Hakomi-Therapie in geradezu genialer Weise einen Weg, die Erkenntnisse der PVT ganz konkret in der therapeutischen Praxis zu nutzen.
Nach der Polyvagal-Theorie scannt unser ANS ständig die Umgebung nach potenziellen Gefahren ab. Dies geschieht unterbewusst und ohne, dass wir darauf Einfluss hätten. Diesen Vorgang bezeichnet die PVT als Neurozeption. Je nachdem, zu welcher Einschätzung unser ANS dabei kommt, verbleibt es im ventral-vagalen State oder wechselt in einen Überlebensmodus. Bei empfundener Bedrohung wird das neuronale Gleichgewicht in Richtung des Sympathikus verschoben, um sich auf Kampf oder Flucht vorzubereiten.
Reicht das nicht, um die Gefahr zu beseitigen, oder sprechen Erfahrungen dagegen, überhaupt den Versuch auf Gegenwehr zu wagen, wird der dorsal-vagale Kreis aktiviert, der dann eine Erstarrungsbzw. Erschlaffungsreaktion auslöst.
Da wir von unserer Entwicklungsbiologie her Rudeltiere sind, verlässt sich unser ANS dabei aber nicht nur auf die eigene Wahrnehmung, sondern nutzt auch die Reaktion der Artgenossen. Unsere Nervensysteme kommunizieren also miteinander, um Gefahren möglichst frühzeitig zu erkennen.
Für die Therapie bedeutet das, dass der aktuelle neuronale Status der Therapeuten einen entscheidenden Einfluss auf den State der Klienten ausübt. Damit therapeutische Interventionen optimal greifen können, muss sich auch das ANS der Klienten im ventral-vagalen Zustand, also in der Wahrnehmung von Sicherheit, befinden.
Nun ist es allerdings so, dass sich, wenn ich dem Klienten mit einer festen Vorstellung davon, was in der Sitzung passieren soll, die Tür öffne, mein ANS bereits in einem aktivierten Status befindet. Dies wird das ANS des Klienten unterbewusst wahrnehmen und mit einem entsprechenden Wechsel des Status reagieren. Dies geschieht umso mehr, je dysregulierter das ANS des Klienten ist.
Die Anwendung der PVT in der therapeutischen Praxis erfordert also ein radikal anderes Vorgehen und eine fundamental andere Sicht auf die Klienten. Beides findet sich in der Hakomi-Therapie.
Grundsätze der Hakomi-Therapie
Hakomi-Therapie wurde in den 1970er-Jahren von dem amerikanischen Psychotherapeuten Ron Kurtz begründet und seitdem fortentwickelt. Hakomi ist eine körperorientierte Psychotherapie. Sie basiert u. a. auf den Grundsätzen von Achtsamkeit und Gewaltlosigkeit sowie der Überzeugung, dass Heilung nicht von außen bewirkt, sondern nur von innen heraus geschehen kann.
Hakomi als Anwendung der Polyvagal- Theorie
Gewaltlosigkeit bedeutet, dass wir die Klienten in keinster Weise „reparieren“ oder verändern wollen, sondern sie bedingungslos so annehmen, wie sie sind.
Hakomi stammt aus der Sprache der Hopi-Indianer und bedeutet übersetzt so viel wie „Wie stehst du in Beziehung zu den vielen Wirklichkeiten?“.
In Hakomi bildet die Haltung von „Loving Presence“ die Grundlage. Wir lassen die Klienten auf uns wirken und achten gezielt auf positive Eigenschaften wie Mut, Verletzlichkeit, Empfindsamkeit oder Sanftheit. Wir suchen nicht nach dem „Kranken“ oder „Gestörten“, sondern schauen nach der inneren Weisheit der Klienten. Wenn wir uns auf diese Weise öffnen, werden wir berührt von der Stärke und Schönheit, die in jedem Klienten vorhanden ist.
Unser Herz öffnet sich weiter und wir können den Menschen in seiner gesamten Person sehen. Gleichzeitig nimmt der Klient auf neurozeptive Weise Sicherheit wahr. Er fühlt sich eingeladen, akzeptiert, wertgeschätzt und wahrgenommen und öffnet sich dadurch umso mehr – er „fühlt sich gefühlt“ (Dan Siegel). Diese Erfahrung wird wiederum von uns als Therapeuten neurozeptiv wahrgenommen und gibt auch uns mehr Sicherheit.
In diesem einzigartigen Therapieprozess verschmelzen Gewaltlosigkeit, Achtsamkeit und Mitgefühl miteinander, um ein heilendes Umfeld zu schaffen. Es entsteht eine Art Mühelosigkeit, da das Unterbewusstsein Sicherheit fühlt, seinen schützenden Widerstand aufgibt und sich öffnet. Indem wir den Klienten nicht verändern wollen, ermöglichen wir es ihm, sich selbst verändern zu wollen. Wir fungieren als sichere, sanftmütige und gewaltlose Provokateure in einem fürsorglichen, therapeutischen Rahmen, der es ihm ermöglicht, sich seinen tiefsten Ängsten zu stellen.
Das Autonome Nervensystem (ANS) in Hakomi
Ansatzpunkt der Hakomi-Therapie ist das ANS des Menschen. Dieses ist mit seiner Geburt noch nicht ausgereift, sondern entwickelt sich in den ersten vier Lebensjahren. In dieser Zeit lernen wir durch die Rückmeldungen aus der Umgebung, vornehmlich unserer Hauptbezugspersonen, „wie die Welt ist“ und „wie Leben funktioniert“. Wir lernen, wie wir uns regulieren können und wie wir uns verhalten müssen, um Zuwendung und Versorgung zu erlangen. Auf diese Weise entwickeln wir Gewohnheiten, „Landkarten“ von der Welt, automatisch ablaufende Bedienungsanleitungen, „wie Leben geht“.
In Hakomi werden diese Landkarten als „Anschauungen“ bezeichnet und im optimalen Fall werden diese immer wieder an abgeschlossene Entwicklungsphasen angepasst. Für die Klienten handelt es sich bei den Anschauungen jedoch nicht um Überzeugungen; für sie ist es einfach die Welt, wie sie ist. Und diese Welt wird im Normalfall nicht angezweifelt, ja normalerweise noch nicht einmal bemerkt.
Unangepasste Anschauungen entstehen, wenn bestimmte Schlüsselerfahrungen, die ein heranwachsendes Kind machen muss, um eine wesentliche Entwicklungsphase abzuschließen, nicht gemacht werden können. Dann müssen die fehlenden Ressourcen auf verschiedene Weise kompensiert werden. Diese Kompensation manifestiert sich in Verhaltensweisen, Bewegungsmustern, Körperhaltungen, Gesten, Gesichtsausdrücken und vielem mehr.
Hakomi-Therapeuten sind darin geschult, nicht nur auf das zu hören, was gesagt wird, sondern vielmehr umfassend wahrzunehmen, wie etwas gesagt wird und welche unwillkürlichen Körperreaktionen mit einer Aussage einhergehen. Der Inhalt der Erzählung ist nachrangig und eigentlich beliebig austauschbar. Denn unabhängig davon, worüber jemand spricht, existiert eine tiefere Ebene, deren Inhalt dem Erzähler gegenwärtig nicht bewusst ist. Diese Ebene ist das implizite Gedächtnis, welches das Erzählen, die Erzähler und die Geschichte steuert.
Arbeit mit dem impliziten Gedächtnis
Menschen verfügen über zwei unterschiedliche Formen von Gedächtnis: dem episodischen oder deklarativen Gedächtnis und dem impliziten Gedächtnis. Ersteres enthält all das Wissen, von dem wir erzählen können und an das wir uns bewusst erinnern. In Letzterem sind unterbewusst alle wesentlichen Erfahrungen gespeichert, die ein Mensch in seinem Leben gemacht hat. Wenn sich ein Klient auf den Körper im gegenwärtigen Moment konzentriert, also achtsam wird, kann unbewusstes Material aus dem impliziten Gedächtnis ins Bewusstsein dringen.
Implizite Erinnerungen fühlen sich dabei nicht wie Erinnerungen an, sondern wie gegenwärtige Erfahrungen. Sie treten in Form von Bildern, Erinnerungen, Sätzen, Gefühlen und Verhaltensweisen auf, die im Zusammenhang mit einem Thema stehen. Alle sind mit autonomen Körperreaktionen, wie Erröten oder unbewussten Bewegungen, verknüpft.
Da Anschauungen im impliziten Gedächtnis gespeichert sind, sind sie im Alltagsbewusstsein nur schwer zugänglich. Daher führt der geübte Hakomi-Therapeut den Klienten über spezielle Gesprächsführungstechniken in einen achtsamen Bewusstseinszustand und vertieft diesen. Dann bietet er dem Klienten ein passendes Experiment an, das eine Körperreaktion auslöst und ins aktuelle Erleben führt. Es ist eben ein Unterschied, ob jemand den Geschmack von Schokolade aus der Erinnerung beschreibt oder gerade ein Stück Schokolade im Mund hat. Ein Experiment kann ein bestimmter Satz, eine Geste, ein Blick, eine Körperbewegung u. v. m. sein. Unser ANS ist als Netzwerk organisiert. Gemäß dem Hebb´schen Gesetz („cells that wire together, fire together“ „Nervenzellen, die verknüpft sind, feuern gemeinsam“), kann die Anregung eines Punktes im neuronalen Netz die Aktivierung des gesamten Netzes bewirken. Indem wir also einen Teil des Netzwerks berühren, in Achtsamkeit gehen und bei der Erfahrung verweilen, kann der Rest automatisch ins Bewusstsein gelangen.
Da Anschauungen über konkrete Erlebnisse entstehen, können sie nicht durch kognitive Prozesse, sondern nur über neue Erfahrungen geändert werden. Wenn in der Therapie solche prägenden Erfahrungen ins aktuelle Erleben geholt werden, können Klient und Therapeut erkennen, was in der Vergangenheit gefehlt hat. Dann können sie miteinander eine neue Situation kreieren, die es dem Klienten ermöglicht, die unbekannte, unerwartete und zutiefst vermisste Erfahrung nachzuholen.
Durch die bewusste emotionale Aufladung und die wiederholte Vertiefung dieser neuen Erfahrung kann sie im neuronalen Netzwerk fest verankert werden.
Hakomi ist eine äußerst effektive Therapieform. Nur ein, zwei Schritte, eine Frage, eine Geste, ein etwas längeres Verweilen bei der Erfahrung und wir sind beim Kern. Und da die beschränkenden Anschauungen auf einer sehr tiefen Ebene des Unbewussten wirksam sind, kann bereits eine kleine Veränderung zu tiefgreifenden, nachhaltigen Veränderungen führen.
Hakomi-Therapie, als Umsetzung der Polyvagal-Theorie, ermöglicht Veränderungen durch die bewusste Erforschung schädigender Erfahrungen und die Schaffung neuer positiver Erlebnisse. Dies führt zu einer Neugestaltung des neuronalen Netzwerks und dadurch zu einer Transformation der Wahrnehmungs-, Gefühls- und Verhaltensmuster.
Sicherheit ist der Schlüssel zur gelingenden Therapie und Hakomi bietet dafür einen effektiven Weg.
Michael Krause Heilpraktiker für Psychotherapie, Praxis in Bergheim/Erft, Supervisor, Dozent in der Erwachsenenbildung