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Leere statt Libido Sexuelle Störungen im digitalen Raum

Die Geburtenrate in Deutschland ist in diesem Jahr auf einen historischen Tiefststand gefallen. Würde man die eingewanderten Familien der letzten Jahre herausrechnen, wäre die Zahl noch verheerender. Geburtsstationen werden geschlossen und das Fach Gynäkologie entledigt sich nach und nach der Geburtshilfe. Wie konnte es so weit kommen? Und: Was hat das mit der Psyche zu tun?

Fallvignetten

Fährt man über die baden-württembergische Grenze hinüber ins französische Straßburg, so sieht man erstaunlich viele schwangere Frauen, von denen manche maghrebinischer Herkunft, viele aber auch ethnisch französischer Herkunft sind. Der Gegensatz zu Deutschland ist durchaus sichtbar.

So soll schon Friedrich Nietzsche festgestellt haben, dass die Geburtenrate eines Landes etwas über dessen Zustand aussagt. Aber auch in Frankreich gibt es ähnliche Entwicklungen wie in Deutschland – allerdings werden Geschlechterfragen meist anders behandelt, wie in einem Beitrag in der Zeitschrift „Psychologies” schon 2017 zu lesen war. Sabine Mayer-Bolte schildert in ihrer Fallstudie zu sexueller Lustlosigkeit in der Partnerschaft (Paracelsus Magazin 05.23) eindrucksvoll eine gar nicht so selten vorkommende Konstellation: Der Partner hat keine Lust und zeigt keine sexuelle Initiative, während die Partnerin langsam verzweifelt.


Sabine Mayer-Bolte berichtet von einem Paar in ihrer Praxis, von dem der männliche Part vor allem mit dem Hausbau beschäftigt ist; im Schlafzimmer läuft von seiner Seite aus nichts mehr.

Dieses kann auf verschiedenen Ebenen verstanden werden. Klassisch gesehen baut sich der männliche Partner eine Höhle, während er die Höhle seiner Partnerin meidet. Ebenso zutreffend wäre die pränatalpsychologische Interpretation, die bei ihm einen regressiven Wunsch, eine Flucht in den mütterlichen Uterus darstellt. Er würde dort Kind bleiben, anstatt ein Mann zu werden, was letztlich auch mit der klassischen Interpretation der Angst vor der „verschlingenden Vagina” und einer möglichen Vaterschaft zusammentrifft. 

Gleichzeitig ist natürlich auch die reale Ebene wichtig: Es ist legitim und zudem fürsorglich, ein Haus zu bauen, doch was nützt es, wenn die Frau nach und nach die Lust auf ihren Mann verliert?

Viele Patientinnen beklagen auch den sexuellen Initiativmangel ihrer Männer
Ein Beispiel aus der eigenen Praxis ist der permanent Video spielende Ehemann in den Mittdreißigern, dem die Frau wegläuft – was ihm völlig unverständlich sei, wie er meinte. Dass diese sich überhaupt bereit erklärte, zum Einzelgespräch zu kommen, schien mir ein großer Erfolg und stimmte mich hoffnungsvoll. Doch als die attraktive Frau, Ende 20, ihr Leben der letzten fünf Jahre beschrieb, war klar, dass die Ehe am Ende war.

Beide waren nur im Rhythmus von „Arbeiten, Essen, Schlafen” gewesen, nur dass ihr Mann jede freie Minute an der Spielekonsole gesessen hatte. Körperkontakt hatte es kaum gegeben, Geschlechtsverkehr einmal die Woche, immer am gleichen Wochenendvormittag. Bilder gegen Fantasien Der Partner im Hausbau-Fall war immerhin noch im aktiven Modus, also aktiv tätig gewesen, was aber immer mehr zur Ausnahme zu werden scheint. Meistens nämlich begeben sich die Männer nun in virtuelle Welten, um Libido umzuleiten. So auch der Ehemann in meinem Fall, der nur in hochritualisierter Form Kontakt zu seiner Frau hatte. Im Einzelgespräch räumte er ein, dass ihm das sexuelle Verlangen fehlte, insbesondere seit er vor einigen Jahren Spielekonsolen entdeckt hatte. Was seit rund 20 Jahren zunehmend beobachtet wird, ist bedenklich: Nicht nur die Geburtenraten schlaffen ab; es gibt einen Trend zu sexuellen Störungen bei Männern, den man insgesamt auch als eine Art gesellschaftliche Impotenz fassen kann. Eine depressive Leere frisst sozusagen die Libido. Es wird dann versucht das Leeregefühl mit digitalem Raum zu füllen. Bilder können zwar einerseits stimulieren, können aber eben auch gegen Fantasien eingesetzt werden. Dann wirken sie nicht für, sondern gegen sexuelles Begehren.

Zudem können Bilder keinen Körperkontakt ersetzen und das Beziehungshormon Oxytocin wird nicht freigesetzt.

Symbolische Interaktion

Im Paracelsus Magazin 06.23 haben Aigner und Honke beschrieben, wie man im Netz der Bilder verloren gehen kann. Genau das ist der entscheidende Faktor, der mittlerweile viele Paare belastet. Der sog. symbolische Interaktionismus, der auf den Soziologen George Herbert Mead zurückgeht, konzipiert z. B. den Menschen als immer schon soziales Wesen, betont also das gegenseitige Einwirken von Menschen aufeinander. Er unterscheidet dazu zwischen engl. „I” (ich) und „me” (mir, mich). Das „I” bezeichnet das eigene Selbst gegenüber dem „me”, das die reflexive Beziehungsdimension, also die anderen in Bezug auf das eigene Selbst, betrifft. Ähnlich wird in der französischen Psychoanalyse unterschieden zwischen frz. „je” und „moi”, um zu verdeutlichen, dass der Mensch immer in Beziehung zu anderen steht. Der symbolische Interaktionismus ist somit gut geeignet für eine „Soziologie der Emotionen” (Finkelstein, 1980), die allerdings im Zeitalter der digitalen Bilderwelt sozusagen ausgehebelt wird. Vergleicht man frühere Zeiten mit heute, kann man zu dem Schluss kommen, dass – auch wenn früher keineswegs alles besser war – zu viel Medienkonsum die persönlichen Interaktionen lahmzulegen droht. Dass Medien dabei symbolische Funktionen übernehmen, zeigen übrigens zahlreiche Romane der letzten Zeit, z. B. von Michel Houellebecq, Bret Easton Ellis, aber auch Juli Zeh, die die unerträgliche Leere zwischen den Menschen beschreiben. Diese schlägt sich im digitalen Raum neuester Zeit ganz besonders nieder. Interessant ist dabei, dass es oft auch symbolische Gegentrends gibt: So werden weibliche Attribute immer mehr ausgestellt und teilweise ins Groteske übertrieben, wie z. B. die Schwellung des weiblichen Mundes mittels plastisch-ästhetischer Interventionen („Schlauchbootlippen”).

Der Gegentrend zu starker sexueller Symbolik kann damit auch als Ruf nach Interaktion verstanden werden. Auch Kleidungsstücke wie der muslimische Hijab und natürlich der „westliche” Bikini haben nämlich eine symbolische Dimension. Libido und Fruchtbarkeit Die weggelaufene Frau des Video spielenden Ehemannes in meiner Praxis war über fast fünf Jahre beim Sex einmal die Woche davon ausgegangen, dass sie über kurz oder lang schwanger werden würde, was nicht der Fall war. Dies war irgendwie ungewöhnlich, letztlich aber nicht überraschend. Die Endokrinologinnen Dana Stoian und Mihaela Craciunescu von der Victor Babes Universität, Temeswar, haben schon vor längerer Zeit herausgearbeitet, dass bei normaler weiblicher ovarieller Funktion dennoch eine funktionelle Sterilität des Paares bestehen kann, nämlich wenn die Frequenz des Geschlechtsverkehrs unter dreimal pro Woche liegt. Wenn es einen Mangel an regelmäßigem Ejakulat gibt, verbleiben beim Mann strukturell oder funktionell defekte Spermien zurück.

Sexuelle Störungen im digitalen Raum

Der programmierte Zelltod, die Apoptose, setzt früher ein als normal. Dadurch bleiben mehr apoptotische Spermien im Ejakulat, was die Fruchtbarkeit erheblich beeinträchtigen kann.

In unserem Fall war der Ehemann vom Bildschirm so absorbiert gewesen, dass es fast nie zu sexuellen Handlungen seinerseits außerhalb des Ein-Wochen-Rhythmus mit seiner Frau kam.

Bei Frauen sind sexuelle Funktionsstörungen in Form mangelnder Libido oft auch Zeichen einer depressiven Symptomatik, die dann aber als solche wahrgenommen wird. Androgen- und Prolaktinspiegel können hier Einfluss haben. Sexualsteroide beeinflussen sowohl Reproduktion und Sexualität als auch Fühlen, Denken und Verhalten. Diagnostisch ist also daran zu denken, das hormonelle Profil überprüfen zu lassen.

Körper und Psyche

Klar ist, dass eine gewisse Kohärenz persönlicher Erfahrungen nur unter einigermaßen erträglichen Voraussetzungen von Sozialisation möglich ist. Ob andauernde Bildschirmberieselung dazu gehören muss, muss jeder und jede selbst entscheiden. Klar ist aber auch, dass es männliche und weibliche Fantasien gibt, die ernst genommen werden müssen und nicht permanent umgeleitet werden können.

Unsere existenziellen Erfahrungen im Uterus prägen uns. Aufschlussreich sind hierzu auch die Erfahrungen aus LSD-Experimenten der 1960er- und 1970er-Jahre, in denen gerade Männer unerwartet in psychischen Kontakt mit Gefühlen von Geburt und Weiblichkeit kamen, was nicht nur Fragen nach der sexuellen Orientierung, sondern auch nach eigenen Körpererfahrungen aufwarf.

Die Körperlichkeit des Menschen wurde in jedem Fall sehr deutlich, sodass, kontrastiert man diese mit den Vereinsamungsund Unlusterfahrungen der anfangs geschilderten Paare, ersichtlich wird, dass weder Bilder noch Medien eine depressive Leere ersetzen können.

Stattdessen werden selbst im Sexuellen manchmal Erfahrungen aufgesucht, in denen es dann um Schmerz als Plombe für die Leere geht, nicht etwa um lustvolles Erleben. In dieser schwierigen Gemengelage gilt es also, psychisch von einer Kultur der Leere in eine Kultur des Lebendigen zurückzufinden. Es gilt also auch therapeutisch, den digitalen Raum nicht zu groß werden zu lassen.

Götz Egloff M. A. Heilpraktiker für Psychotherapie, Psychoanalytiker und Autor
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