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Psycho...logisch? Teil 1: Short Cuts im Umkreis psychotherapeutischer Intervention

Short Cuts – diesen Begriff habe ich übernommen von einer kleinen Reihe des Verlags Zweitausendeins, Band 1 „Niklas Luhmann“.1) Gemeint sind kurze Überlegungen und Assoziationen, pointiert, essayistisch, provokativ. Zuweilen hilft es, über die Landschaft zu fliegen, den Blick umherschweifen zu lassen und zu entdecken, was zu Fuß verborgen bleibt. Das gilt auch für die eigene therapeutische Tätigkeit. Die Short Cuts laden Sie zu einem Flug im Helikopter ein und vielleicht werden Sie Interessantes entdecken, das Sie in Ihrem Denken und therapeutischen Handeln fruchtbar machen möchten.

Auslöser

Der Auslöser für die Short Cuts liegt in der massiven Häufung von Schlagzeilen bzw. Artikeln wie diesen: „Pures Gefühl darf niemals siegen“ (Thomas Thiel, Frankfurter Allgemeine, 16. August 2023). Keila Shaheen: „Erkenne deine Schatten und heile dich selbst“, Shadow Work Journal, München 2023) sowie neuerdings „Bestell-Angst“ oder „Menü-Angst“.

Erwähnt seien zudem die zahllosen Beiträge und Aufsätze zur rasanten Zunahme psychischer Belastung und Erschöpfung am Arbeitsplatz, in der Schule, im Studium und im Alltag. Beispielsweise: „... fast jeder Schüler hat inzwischen eine oder mehrere Diagnosen, die mit Lese-Rechtschreib-Schwäche, Hochbegabung, Teilleistungsschwäche, ADHS, Autismus, Tourette, Sozialphobie und Angststörungen längst nicht vollständig erfasst sind und individuellen Förderbedarf verlangen.“2)

Ist dies alles „nur psycho-logisch“? Die Expansion psychologisierender Kategorien und therapeutisierenden Zugriffs zeigt sich nicht nur an der genannten scheinbaren Ausbreitung, sondern umfasst zudem lange unverdächtige Befindlichkeiten und persönliche Eigenheiten, die inzwischen psychologisch als problematisch und therapeutisch zu behandeln inszeniert werden, etwa Intro- und Extraversion, die „Stillen“ versus „Lauten“, die „Sensiblen“ versus „Robusten“ oder die Verwandlung von den Selbstsicheren, Ziel- und/oder Machtorientierten zu Narzissten („narzisstische Persönlichkeitsstörung“).

Seelische Nöte, häufig als „Leiden“ formuliert, nehmen zu – so die weitverbreitete Behauptung. Nehmen sie zu oder werden sie häufiger geäußert? Oder werden immer mehr seelische „Krankheitsbilder“ bzw. Störungen durch Fachleute und Medien erzeugt? Oder …. oder?

Der psychologisierende Zugriff unterstellt, es handle sich um Charakteristika bzw. Verhaltensweisen, die „behandelt“ werden müssen. Neben anderen Fragen drängt sich jene auf, die nach normativen Referenzrahmen, Nutznießern, Funktion und Kernadressat sucht.

Die folgenden Short Cuts konzentrieren sich auf einen Ausschnitt aus dem Fragerepertoire, indem sie therapeutisch relevante Vorzeichen thematisieren.


Sie skizzieren zunächst drei gesellschaftliche Trends, die maßgeblich für die Ausweitung der Zuständigkeitszone seitens Psychologie/Psychotherapie sind: Psychoboom, Neubewertung von Emotionalität sowie mentale, ethische, ideologische Voreingestelltheit therapeutischer Praktiker. Therapeutische Praxis steht im Vordergrund, weshalb sie am Schluss Anregungen für Veränderungsoptionen anzeigen.

Rundblick

Eingedenk des erwähnten drastischen Anwachsens psychischen Leidens beklagen Betroffene und Zunftvertreter den Mangel an Angeboten psychotherapeutischer Hilfe. Da kann man salopp fragen: Ist wirklich alles psycho-logisch und gehört folglich in einen psychotherapeutischen Rahmen? Der Tenor der gängigen Antwort lautet: Ja. Und zwar insofern, als Menschen seelische Not erleben, allein keine Lösung finden und daher professionelle Hilfe benötigen. Diese Hilfe richtet den Blick auf das Selbst; in ihm werden Problem und Lösung(-skompetenz) gleichermaßen verortet. „Selbstheilung“ gilt als Gebot der Stunde. Das „Ich“ scheint, entgegen Sigmund Freuds Diktum, grundsätzlich doch „Herr im eigenen Haus“ zu sein – allerdings nur unter fachkundiger Regie. Freilich, es kursieren weitere Antworten. Schauen die einen vor allem anderen auf die Person, verweisen die anderen auf außerpersonale Rahmenbedingungen, denen geradezu determinierende Macht zugesprochen wird, und die Dritten halten es mit einem Sowohl-als-auch, indem sie intrasubjektive (psychologische) und extrasubjektive (gesellschaftliche) Variablen in ein kausales Verhältnis stellen.

Schlussendlich landen diese Ansätze stets beim Individuum.

Eine kategorial und logisch davon verschiedene Antwort gibt eine psychotherapeutische Theorie und Praxis, die sich an systemtheoretischen Denkfiguren und Begriffen orientiert: Systempsychologie und -therapie.

Der große Rahmen grob skizziert
Ab der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart kann von einem Trend zu Normopathie gesprochen werden. Heinrich Keupp sprach bereits in den 1970er-Jahren von „Normopathen“ eingedenk der gesellschaftsweiten Psychologisierung und Psychopathologisierung, die zwangsläufig eine Therapeutisierung mit sich führten.3)

Diese Prozesse werden zusätzlich genährt von einer Neubewertung von Emotionen. Diese räumt Gefühlen den Vorrang vor Rationalität ein, und inzwischen genießt diese Haltung und Bewertung gesellschaftsweit und bis in die Politik hinein Resonanz. Begleitet wird diese Emotionalisierung von einer massiven Aufladung mit Moralismen, wertenden Urteilen, vorschreibenden Werten, normativen Schablonen, die Einzug erhalten haben unter anderem in Psycho-, Erziehungs-, Sozialwissenschaften. Sie genießen mediale Präsenz und infiltrieren unter anderem die psychotherapeutische Praxis.

Einerseits gelten psychische Störungen, seelisches Leiden als „normal“, weitverbreitet und werden als etwas akzeptiert, das jedem widerfahren kann – fast schon notwendig widerfährt – und behoben werden muss. Denn, so die Lebens- oder Sinnanschauung: Jeder Mensch hat ein Recht auf Glück und – wird von (u. a.) Psychoprofis flankiert – kann es in sich selbst und durch sich selbst finden.

Fachliche Hilfe finden Betroffene nicht nur in der persönlich-therapeutischen Variante, sondern auch im Genre der expandierenden Ratgeberliteratur, analog und digital. Gemeinsam ist den Angeboten aus unterschiedlichen psychotherapeutischen Ansätzen der Fokus auf das Subjekt und seine Ressourcen.

Mit Ausnahme der personalen Systemtherapie bieten systemisch-systemtheoretisch ansetzende Theorie und Praxis ein Paradigma an, das das Subjekt entlastet und ihm „dennoch“ hilft.

Diese drei Wellen – Psychologisierung/Therapeutisierung, Emotionalisierung, therapeutischer Bias – sind besonders wirkmächtig, erkennbar etwa daran, dass das „Arbeiten an sich selbst“ zu einer Verpflichtung geworden ist und jedenfalls auch von therapeutischer Seite gestützt wird. Sichtbar zudem an der Proklamation eines „Rechts auf Fühlen“ (als stünde dies infrage) bzw. das Zentrieren persönlicher Moralität und Empfindsamkeit.

Eine psychotherapeutische Parteinahme ist daran erkennbar, dass in der therapeutischen Praxis zunehmend nicht nur fachliche, methodengeleitete Expertise Anwendung findet, sondern gleichzeitig eine ideologische Agenda. Das psychotherapeutische Setting wird durchfärbt mit weltanschaulichen und moralischen Überzeugungen von dem, was als gut und richtig und erstrebenswert gilt und – intendiert oder nicht – bahnende bis normierende Wirkung in der Therapie entfaltet.

Psychologisierung
Weitverbreitet sowohl in alltäglicher der Lebenswelt als auch in psychoprofessionellen Milieus ist, dass Nichtpsychologisches in psychologische Kategorien überführt, Lebenswelt psycho-logisch „gelesen“ wird. Pointiert: „Alles ist psycho-logisch“ wie in den späten 1960ern „alles ist politisch“ galt (und wieder gilt).

Psychologisierung meint das Ausgreifen auf und Einverleiben von Realitäten, die von außerhalb auf Person, Ich, Selbst einwirken und genuin heterogen, also anderen Ursprungs sind. Zwar stehen Realitäten und Personen in Wechselwirkung. Doch zurechenbare Kausalität vom Außen ins Innere, die Enge der Kopplung und das Gewicht von Einflüssen (Prägungsintensität) können bestenfalls spekulativ eingekreist werden. Deterministische Aussagen, Thesen, Diagnosen sind irrtumsanfällig. Nichtsdestotrotz wird von kausal bestimmbaren Ursache-Wirkungs-Beziehungen als Prägungsbeziehung ausgegangen.


Verschränkt mit diesem Ausgriff sind Psychopathologisierung und Psychotherapeutisierung: die Neigung, bereits Belastungsgefühle und unerwünschte Befindlichkeiten zu einer Erkrankung im Sinn von behandlungsbedürftig zu stempeln. Beide Prozesse expandieren seit der Coronapandemie noch stärker als zuvor.

Exemplarisch angeführt sei das neu konzipierte „Symptom“ oder gar „Syndrom“ Bestell-/Speisekarten- oder Menü-Angst, die als psychische Störung deklariert wird. Es geht um Essensbestellungen in Restaurants und betrifft offenbar vorzugsweise jüngere Menschen aus dem Umkreis der sog. Generation Z.

Als Gründe für diese „Angst“ (die, präzise formuliert, bestenfalls eine Furcht ist) werden genannt: das Falsche zu bestellen, das Optimale zu verpassen (das „beste“ Essen für einen selbst); ferner empfundener(!) Zeitdruck durch das Servicepersonal; zudem „Angst“ vor möglichen allergenen Stoffen in der Nahrung, „Angst“ davor, persönliche Diätvorstellungen nicht einhalten zu können, weil ihnen nicht oder zu wenig entsprochen werden könnte. Zudem „Angst“ davor, dass die optimale Zubereitungszeit für das Gericht verpasst wird (zu lang oder zu kurz, gemessen an persönlichen Überzeugungen für die Voraussetzung, ein qualitativ gutes, gesundes Essen zuzubereiten, sowie an der Zeit, die jemand einzubringen bereit ist, um gutes Essen serviert zu erhalten), und „Angst“ vor unerfüllten Erwartungen oder Wünschen bezüglich Geschmack, Preis und Einfachheit des Essens (gemeint ist die Einfachheit, mit der das Gericht gegessen werden kann, also: lieber Kartoffeln als Spagetti, lieber Tomaten als Blattsalat), und auch Kriterien von Nachhaltigkeit spielen eine Rolle. „Bestell-Angst“ mündet dahin, dass Entscheidung und Bestellung delegiert werden, in der Regel an Personen aus der eigenen Gruppe oder an das Servicepersonal.4)

Wo von behindernder „Angst“ die Rede ist, stehen Psychologie/Psychotherapie parat. Und tatsächlich wird dieses Phänomen eingewoben in einen psychologisierten Diskurs; denn „Angst“ gilt, weil ein diffuses Gefühl, als implikations- und folgenreiche Empfindung, gar dominierendes Lebensgefühl, das unbestimmt alles einfärbt und deshalb unterschiedlichste Objekte besetzen kann (im Gegensatz zur Furcht). Angst behindert Wohlgefühl und Lebensführung, Selbstentwicklung und Ausschöpfen individueller Potenziale und sie kann nur mit Unterstützung von Psychofachleuten lebensdienlich transformiert werden. Der Ruf nach diesen Autoritäten erschallt denn auch laut.
Literatur
1) „Niklas Luhmann“, Band 1, Hrsg. Peter Gente, Heidi Paris, Martin Weinmann, Verlag Zweitausendeins 2) Bartens, Werner: Ich habe es erlebt, also ist es wahr. SZ 17./18. Februar 2024, S. 41 ferner: https://www.faz.net/aktuell/karrierehochschule/psychische-probleme-im-studiumausgebrannt-mit-anfang-20-19492166 html: Ausgebrannt mit Anfang 20 von Tessniem Kadiri und Tom Konjer, 6. Februar 2024 3) Tändler, Maik: Das therapeutische Jahrzehnt. Der Psychoboom in den siebziger Jahren. Göttingen 2016 Jacob, Gitta: Leben geht nur vorwärts. Wann es Zeit ist, das innere Kind in Ruhe zu lassen und durchzustarten. Weinheim, Basel 2024 4) https://www.heute.at/s/speisekarten-angstjunge-fuerchten-essen-im-lokal-100284937: hier mit Tipps zur Erleichterung von Sabine Primes 4. August 2023 oder https://www.derstandard.de/consent/tcf/story/3000000200134/hat-die-gen-z-angst-davorim-restaurant-eine-bestellung-aufzugeben

Dr. rer. soc. M. A. phil. Regina Mahlmann Beratung, Coaching, Schulung, Autorin Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.