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"Wenn ich erst mal..." Beim Patienten Verständnis für sich selbst wecken

Jeder kennt das: Bestimmte Situationen, gerade im Zusammensein mit anderen Menschen, lösen Gefühle und Verhaltensweisen aus, die „objektiv“ betrachtet überzogen wirken. Auch fühlt der eine oder die andere sich immer wieder zu einem bestimmten Typ Mensch hingezogen, obwohl man eigentlich weiß, dass einem dieser Typ Mensch bei näherem Kontakt nicht guttut – sei es in der Partnerschaft, sei es im geschäftlichen Umgang.

Vor diesem Phänomen sind auch erfahrene Heilpraktiker für Psychotherapie, ärztliche oder psychologische Psychotherapeuten (immer m/w/d) nicht gefeit. Allerdings haben die Profis in der Regel den großen Vorteil, dass sie wissen, was dahintersteckt. Sie können vielleicht nicht aus ihrer Haut, aber sie kennen die Tricks, mit denen das eigene Unterbewusstsein sie in immer die gleichen unguten Situationen und Gefühlswelten hineinmanövrieren will, und können entsprechend handeln. Die überwiegende Mehrzahl der Nichtfachleute weiß das nicht und kann das nicht. Sie geraten immer wieder an den falschen Partner, haben immer wieder Ärger im Job und laufen ewig irgendwelchen „Wenn ich erst mal“ hinterher, die Erlösung versprechen: Wenn ich erst mal 20 Kilo abgenommen habe, wenn ich erst mal einen Job habe, der mir entspricht, wenn ich erst mal die richtige Freundin gefunden habe ...

Leider zeigt sich meist: Das „Wenn ich erst mal“ funktioniert nicht, jedenfalls nicht auf Dauer. Für jeden Heilpraktiker für Psychotherapie ist klar: Das Problem liegt nicht im Außen und egal, was die Betroffenen tun, sie nehmen ihr Thema mit.

stützung auch tatsächlich zu suchen: Das Bild, das die meisten Erwachsenen von ihrer Kindheit haben, ist insgesamt eher positiv, und ohne entsprechende Vorbildung ist kaum ein Erwachsener in der Lage (und willens), hinter die Fassade der relativ heilen Erinnerungswelt zu blicken.

Und wenn doch, dann werden die Erlebnisse in der Kindheit aus der Erwachsenenperspektive beurteilt: Es war ja nun nicht so schlimm, im Keller eingesperrt zu sein, und dass der Vater geschimpft hat, weil man mit vier Jahren immer noch nicht ohne Stützräder Rad fahren konnte, kann man ja verstehen. Dass die kleine Schwester immer an erster Stelle kam und Blödsinn machen durfte, während man selbst als die Ältere „vernünftig“ sein musste, hat genervt, aber das ist ja nun lange her, und dass Mama den ziemlich kaputtgeliebten Teddy irgendwann auf den Müll warf, war schlimm, damals, aber herrje ...

Ob es für eine erfolgreiche Therapie wichtig ist, die Ursachen der psychischen Probleme zu kennen oder nicht, darüber scheiden sich die Geister. Die US-amerikanische Paar- und Familientherapeutin Vienna Pharaon gehört eindeutig zu denen, die das Wissen um das „Woher“ für wichtig halten. Allerdings achtet sie darauf, potenzielle Patienten nicht zu verschrecken:

In ihrem Buch „Deine Familie ist nicht dein Schicksal“ vermeidet sie Begriffe wie „inneres Kind“ oder „Trauma“, weil diese Begriffe für Laien meist eher kritisch besetzt sind. Wenn ich mich mit meinem „inneren Kind“ auseinandersetze, erkenne ich an, dass ich noch als Erwachsener unter dem Einfluss irgendwelcher (harmlosen) Kindheitserfahrungen stehe und die offenbar nicht in den Griff bekomme. Und ein Trauma hab ich schon mal gar nicht, so schlimm war meine Kindheit nun wirklich nicht.

Gleichwohl arbeitet Vienna Pharaon in ihrem Buch mit genau diesen Themen, dem inneren Kind und Traumata. Die Lesenden erfahren – verständlich und für jeden nachvollziehbar – aus entwicklungspsychologischer Sicht, wie und vor allem warum sich vermeintlich normale oder harmlose Kindheitserfahrungen auf das Leben als Erwachsener auswirken können.

Statt des altgriechischen „Trauma“ nutzt die Autorin dabei die Übersetzung „Wunde“ und zu jeder Art von „Wunde“ – „Würdigkeits-Wunde“, „Aufmerksamkeits-Wunde“, „Sicherheits-Wunde“ – gibt es plausible, undramatische Schilderungen aus dem Praxisalltag. Geschichten von Beziehungsstress, Streit mit Eltern oder Ärger am Arbeitsplatz, wie sie jeder kennt.

Gerade diese scheinbaren Allerweltsgeschichten machen es leicht, sich in der einen oder anderen Geschichte wiederzuerkennen, und bei wem das der Fall ist, der kann sich mit einfachen, zielführenden Fragen selbst auf den (psychischen) Zahn fühlen. Dabei ist es der Therapeutin wichtig, die Position des Kindes einzunehmen, sich – wenn möglich – an die damalige Gefühlswelt und die damaligen Interpretationen des Geschehens zu erinnern. Sie erklärt, warum beispielsweise eine in Kindertagen als abwertend oder bedrohlich empfundene Situation oder die Erfahrung, nur bei einem bestimmten Verhalten akzeptiert (und geliebt) zu werden, für Kinder weitreichende Konsequenzen hat. Daraus können sich unter Umständen Überzeugungen und Verhaltensmuster entwickeln, die bis ins Erwachsenenalter wirken.

Einst als Schutzmechanismen genutzt, können sie Erwachsenen das Leben schwermachen. Das ist jedem Heilpraktiker für Psychotherapie klar; bei Laien ist das anders. Und es ist nicht immer einfach, bei Betroffenen, die als Erwachsene mitten im Leben stehen und das irgendwie meistern müssen, Bereitschaft zum Verständnis dieser Zusammenhänge zu wecken.

Der Untertitel des Buches („Befreie dich von frühen Prägungen, um unbeschwert zu leben und zu lieben“) nimmt den Mund, wie üblich bei Selbsthilfebüchern, ziemlich voll. Wer tatsächlich eine nicht verheilte psychische „Wunde“ mit sich herumträgt, dem wird es wohl nur in den seltensten Fällen gelingen, sich mithilfe eines Buches selbst zu therapieren.

Wenn im eigenen Leben, im Miteinander mit anderen irgendetwas offenbar nicht stimmt, ist es für Laien kaum möglich, eine Lösung zu entwickeln, die dauerhaft weiterhilft.

Das Buch der Familien- und Paartherapeutin kann aber Betroffenen dabei helfen, sich selbst beziehungsweise den Wirkmechanismen des eigenen Unterbewusstseins überhaupt erst einmal auf die Schliche zu kommen. Das geschieht ganz undramatisch, nach dem Prinzip: „Wenn ein Kind diese oder jene Erfahrung macht, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es damit auf diese oder jene Weise umgeht, weil ... Es ist also ganz natürlich, dass sich daraus Mechanismen entwickeln, die auch im Erwachsenenalter wirksam bleiben.“

Kein Leser muss sich unfähig, schwach oder womöglich psychisch krank fühlen. Vienna Pharaon erklärt scheinbar paradoxe Verhaltensmuster z. B. in Beziehungen so gut und auch für Laien schlüssig und nachvollziehbar, dass sich vielleicht sogar mehr als ein Aha-Erlebnis einstellen kann. Gleichzeitig kann das Buch Profis Anregungen geben, wie sie mögliche Schwierigkeiten in der sensiblen Startphase einer Therapie entschärfen können.

 

 

Vienna Pharaon: Deine Familie ist nicht dein Schicksal. Befreie dich von frühen Prägungen, um unbeschwert zu leben und zu lieben. Yes-Publishing, München

Jens Heckmann Experte für Marketing und Öffentlichkeitsarbeit, Mitglied im Service-Team des VFP Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.


In sehr vielen Fällen liegen die Ursachen psychischer „Unwuchten“ in der Kindheit. Dass das so sein soll, ist auch den meisten Betroffenen bewusst, und gerade das macht es vielen Menschen, die fachliche Hilfe bräuchten, schwer, sich diese Unter-