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Das Innere Kind

Unser aller innerer Frieden hängt maßgeblich von unserem Umgang mit dem wichtigsten Wesen unseres Lebens ab – dem Inneren Kind. Wenn es glücklich und geborgen ist, dann sind wir voller Kraft, Freude, Zuversicht und Lebensmut. Ist es dagegen einsam, verletzt, traurig oder wütend, dann scheint unser Leben zu stocken. Wir vermissen das Gefühl, unser Leben wirklich in die Hand nehmen zu können, und erleben uns als ohnmächtig und den Machenschaften anderer ausgeliefert. Das verursacht Unfrieden in uns und mit anderen.

Wenn wir an das Innere Kind denken, dann lächeln wir liebevoll oder auch ein bisschen ironisch und meinen damit den Teil, der mit „Das Kind im Manne“ oder „Die innere Prinzessin“ oder „Pippi Langstrumpf“ beschrieben wird. Dieses Kind bekommt ab und zu ein wenig Raum, darf sich mal ein Eis bestellen, obwohl die Diätpläne dagegen sprechen, es darf vor einem Schaufenster mit Modelleisenbahnen stehen bleiben.

Wir sind großzügig, wenn es um die Inneren Kinder geht, ja, sie dürfen ab und zu mal spielen, denn sie tragen ja dazu bei, dass wir uns besser fühlen. Unser Inneres Kind wird so verharmlost und verniedlicht, dass wir oft erschrecken, wenn wir seine wahre Kraft und seinen immensen Einfluss auf unser Leben, seine dramatischen Verletzungen und die unbändige Freude, die es uns bringen kann, zu spüren beginnen.

Es ist das Innere Kind, das leuchtende Augen bekommt, wenn wir uns den verbotenen Eisbecher erlauben, ja. Es ist aber auch das Innere Kind, das uns dazu bringt, andere und uns selbst bis zum Exzess zu kontrollieren und zu vereinnahmen oder uns vereinnahmen zu lassen, das so tief einsam ist, dass wir nicht anders können, als Drogen welcher Art auch immer zu nehmen, das diese vage Ungeborgenheit und jene Selbstzweifel, die uns immer wieder vor den Abenteuern des Lebens zurückschrecken lassen, in uns hervorrufen.

Es ist das Innere Kind, das dafür sorgt, dass unsere Beziehungen immer wieder scheitern, weil wir immer wieder an die gleichen Streitpunkte kommen, das uns im Beruf unzufrieden sein lässt, weil wir nicht für unsere Wünsche und Bedürfnisse einstehen.

Unser Inneres Kind lässt uns entweder durch das Leben tanzen oder müde dahinschlurfen, je nachdem, wie es ihm geht. Es ist ein Geflecht aus vielen verschiedenen Anteilen, die alle eins gemeinsam haben: Sie spüren und erleben die Dinge direkt und unverfälscht, sind die emotionalen Zeugen unserer Vergangenheit. Im Inneren Kind – oder anders ausgedrückt: Im Gefühlshirn, dem sog. limbischen System – ist unsere emotionale Wahrheit gespeichert.

Wenn Gefühle nicht gefühlt werden, dann erstarren sie förmlich. Es ist, als hielte die Zeit an und wir selbst bleiben gefangen in der schmerzlichen Situation, ganz egal, wie lange sie schon her ist.

Wenn niemand da war, der uns als Kinder gehalten, getröstet, in Schutz genommen und in aller Empfindsamkeit gesehen hat, mussten wir uns von uns selbst abspalten. Also innerlich so tun, als wären wir gar nicht verletzt. Doch das Gehirn, besonders das Angstzentrum, die sog. Amygdala, weiß von der Verletzung und vermeidet ab dem Moment Situationen, die das auslösen könnten. Für die Amygdala gibt es keine Zeit. Verletzungen verjähren nicht. Wenn man aber in einer Schmerz auslösenden Situation plötzlich positive Erfahrungen macht, dann verschwindet der Trigger, der Auslöser, nach und nach.

Was hat uns als Kind in der schwierigen Situation gefehlt? Ein machtvoller Verbündeter. Jemand, der unverbrüchlich zu uns hielt, uns glaubte und uns beschützte.

Woher sollen wir einen solchen Verbündeten nehmen? Ganz einfach. Es gibt ihn schon.

Der unverbrüchliche, bedingungslose Verbündete der verletzten inneren Anteile müssen wir selbst, muss der innere Erwachsene sein.

Wir können uns diesem verletzten inneren Kind, das vielleicht wie erstarrt ist, nur sehr langsam nähern. Denn hier sind die tiefsten Schichten jenes Schmerzes verborgen, den wir durch zu viel Essen, Rauchen, Arbeiten, durch Kontrolle, durch süchtige Liebesbeziehungen und den ständigen Kampf um Liebe in Schach zu halten versuchen. Wenn wir uns diesem so sehr verletzten Kind nähern und ihm geben, was es braucht, können wir aufhören, im Außen, sei es bei den Eltern, beim Partner, im Beruf oder in Freundschaften, jene Anerkennung und Liebe einzuklagen, die wir so dringend in uns selbst finden müssen, aber auch finden können.

Um das innere Kind zu heilen, indem wir es in uns in Sicherheit bringen, müssen wir uns behutsam zu ihm hinwenden.

Wir dürfen und müssen lernen, zu dem Menschen zu werden, den wir als Kind so sehr gebraucht hätten. Denn sonst steuert der Kampf um Liebe und um die Vermeidung von erneuter Kränkung unser heutiges Leben.

Wie aber können wir aufhören, um Liebe und Anerkennung zu kämpfen? Wie können wir uns selbst geben, was wir brauchen, damit wir nicht länger von anderen Menschen abhängig sind?

Indem wir bewusst eine liebevolle Beziehung mit unserem Inneren Kind eingehen.

Die Beziehung zwischen dem inneren Erwachsenen und dem inneren Kind, die letztlich einfach nur die Verbindung zwischen limbischem System und dem prä-frontalen Cortex symbolisiert, kann man sehr gut durch die jeweils innen hohlen Matruschkapuppen veranschaulichen.

In jeder Puppe steckt eine kleinere Puppe, die wiederum eine noch kleinere in sich birgt. Das innere Kind, das sind die kleinen Puppen. Die kleinste ist man selbst als Säugling. Es gibt mehrere, man ist ja in verschiedenen Altersstufen Kind.

Alle paar Monate oder Jahre, je nachdem, wie rasch wir uns selbst entwickeln, entsteht die nächst größere Puppe und legt sich um alle anderen herum. Sie bringt all das neue Wissen und Bewusstsein mit, das wir in den letzten Monaten oder Jahren erworben haben. Im Idealfall ist die jeweils größte Puppe diejenige, die handelt und die die Entscheidungen trifft.

Wenn die kleinen Püppchen innen sind und sich die äußere jeweils um die kleineren herumlegen darf, dann sind wir in uns ausgefüllt und in Sicherheit.

Doch was ist passiert? Jedes Mal, wenn wir als Kind verletzt wurden und unsere Gefühle unterdrücken mussten, weil wir weder getröstet noch wahrgenommen worden sind, blieben wir in der Situation stecken. Es war, als wäre die entsprechende Matruschkapuppe in der Situation erstarrt und würde von da ab nicht mehr zum Gesamtsystem gehören. Und so wirken wir vielleicht erwachsen, agieren als die größte der Holzpuppen, doch wir fühlen uns innerlich hohl, weil all die kleineren Püppchen in verschiedenen verletzenden Situationen verhaftet sind. Und sie stecken nicht nur fest. Sie kämpfen noch immer ihren Kampf um Liebe und um Anerkennung.

Wir glauben dann, wir seien vernünftig und erwachsen. Doch in Wahrheit versuchen wir nur, nicht mehr verletzt zu werden. Wenn wir unserem inneren Kind nicht bewusst einen sicheren Platz in uns geben, dann leben wir aus einer Schmerzvermeidungs-Haltung heraus, ob uns das bewusst ist oder nicht.

Warum ist das so?

Kinder haben keine Möglichkeit, sich von dem, was sie fühlen, auf gesunde und gereifte Weise zu distanzieren und trotz starker Gefühle handlungsfähig zu bleiben. Kinder können sich emotional nicht selbst halten. Emotionale Fürsorge muss durch die Eltern oder die Verantwortlichen geschehen, denn die Gehirnteile, die dafür sorgen, dass ein Mensch auch bei emotionalem Stress bewusst und handlungsfähig bleiben kann, sind noch gar nicht herangereift!

Das Emotionalhirn, das bei Kindern sehr dominant und aktiv ist, ist entwicklungsgeschichtlich gesehen älter und damit stärker als unser gesunder, erwachsener Menschenverstand, der die Dinge bewusst und analytisch sehen kann. Auch während der Gehirnreifung bleibt das Emotionalhirn impulsiv und unreflektiert. Es verändert sich nicht. Es kommen nur neue Anteile dazu, nämlich zum Beispiel die Großhirnrinde. Um im Bild der Matruschkapuppen zu bleiben.

Die kleinen Holzpuppen bleiben immer klein. Doch mit der Gehirnreifung kommen andere Anteile dazu, die sich als jeweils größere Schicht um die kleinen Püppchen legen. Wenn aber die kleinen Püppchen durch emotionale Verletzungen in bestimmten Situationen eingefroren sind, dann gibt es keinen Kontakt und keine Interaktion zwischen den größeren und den kleinen Puppen. Und so ist es auch im Gehirn. Wenn das Emotionalhirn durch emotionale Verletzungen in Angst vor Verletzungen, in Scham und in Angst vor Liebesverlust erstarrt ist, interagiert es nicht mit der gereiften Großhirnrinde.

Immer dann, wenn eine alte Wunde berührt wird, erstarrt der Mensch, wird handlungsunfähig, zieht sich zurück, verteidigt sich oder greift verbal an.

Die Lösung ist, bildlich gesehen, ganz einfach!

Die kleinen Puppen müssen aus den beängstigenden Situationen herausgeholt und wieder zusammengesteckt werden. Wenn alle Puppen ineinanderstecken, ist die Matruschka mit sich selbst angefüllt, sie ist bei sich und stabil.

Deshalb jetzt hier eine innere Reise, mit der man das innere Kind aus einer verletzenden Situation herausholt und ins eigene Innere bringt.

Mache es dir bequem und entspanne dich.

Bitte deinen Körper, dir zu zeigen, an welcher Stelle die alte Verletzung, die du dir heute anschauen willst, gespeichert ist. Du fühlst das als Enge, als Schmerz, als Atemnot, als Verspannung. Atme bewusst in diese Stelle, fühle sie. Lege deine Hände auf die Körperstelle.

Bitte deinen Körper, dir jetzt diesen Schmerz, die Verspannung, die Atemnot oder Übelkeit als Gefühl zu zeigen. Nun fühlst du vielleicht etwas.

Jetzt kommt dir eine Erinnerung in den Sinn. Glaube dir selbst. Nimm dich selbst in dieser Situation wahr, erkenne, wie alt du bist und wie du aussiehst. Vertraue deinen inneren Bildern.

Wie geht es dem damaligen Ich?
Was ist geschehen?
Worin bestand die Verletzung?
Was fühlt dein jüngeres Ich?

Nun stelle dir bitte vor, dass du als der Erwachsene, der du jetzt bist, mit in diese Situation hineingehst. Gehe zu dem jüngeren Ich hin. Nimm es in den Arm, stelle dir das einfach vor. Sage deinem jüngeren Ich: „Ich sehe dich, ich höre dich und ich nehme dich wahr. Ich bin jetzt für dich da. Ich bin gekommen, um dich zu retten.“

Nimm wahr, was sich dadurch in dir verändert.

Hole dein jüngeres Ich jetzt aus der Situation heraus, wie du das für deinen besten Freund oder dein Kind tun würdest. Gib ihm Trost und Halt.

Stelle dir vor, du gehst zu den Menschen hin, die dein jüngeres Ich verletzt oder im Stich gelassen haben. Stelle dich vor diese Personen hin und sage ihnen laut und deutlich in Gedanken: „Ich erlaube nie wieder, dass ihr diesen Menschen (oder dieses Kind) verletzt. Ich nehme dieses Kind ab sofort zu mir. Es steht jetzt unter meinem Schutz.“

Du beschützt dein jüngeres Ich also, als wäre es ein eigenständiges Wesen, für das du verantwortlich bist.

Verlasse nun mit ihm zusammen das Zimmer und das Haus, in dem ihr seid. Stelle dir vor, du gehst mit ihm einen wunderschönen Weg entlang, der gleich hinter dem Haus beginnt. Dieser Weg führt durch ein Tor in eine zauberhafte Landschaft. Ihr passiert das Tor und auf einmal fällt alles Schwere von deinem jüngeren Ich ab. Alles, was verletzt oder beschämt war, verschwindet und es atmet auf.

Ihr geht zusammen den Weg weiter. Er führt euch in eine sehr natürliche, gepflegte Parklandschaft. Hier kann sich dein jüngeres Ich ausruhen, hier ist es sicher. Es gibt zahme Tiere, große Bäume, Sitzplätze und Liegeflächen in diesem Park und dein jüngeres Ich fühlt sich sehr wohl. Erlaube ihm, einfach hier zu bleiben, in dir, damit es sich entspannen und neue Kraft schöpfen kann. Hier heilt es, hier bekommt es alles, was es braucht, damit die alten Verletzungen nach und nach verschwinden.

Lasse dann die inneren Bilder los und komme zurück in den Raum, in dem du dich befindest.

Sich selbst zu retten ist eines der stärksten Mittel, um Selbstvertrauen zu erlangen und innerlich frei zu werden. Den Schulterschluss mit sich selbst herzustellen, die Abspaltung von sich selbst aufzuheben und sich selbst zur Seite zu stehen, macht einen Menschen beinahe vollkommen frei.

Und wer frei ist, kann mühelos in Frieden mit sich, mit anderen und mit der Welt sein.

Susanne Hühn:
Die Heilung des Inneren Kindes.
Sieben Schritte zur Befreiung des Selbst.
Verlag Hugendubel, erscheint Mitte März 2023.

Susanne Hühn
ausgebildete Lebensberaterin, ganzheitliche Physiotherapeutin, Autorin
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